BGE 140 III 289 |
44. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen burgerliche Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Beschwerde in Zivilsachen) |
5A_268/2014 vom 19. Juni 2014 |
Regeste |
Art. 445 ZGB; Erwachsenenschutz; vorsorgliche Massnahmen ohne vorgängige Anhörung der Verfahrensbeteiligten; Beschwerdeweg. |
Sachverhalt |
Auf der Grundlage von Gefährdungsmeldungen erliess die burgerliche Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (bKESB) vorsorgliche Massnahmen gegenüber X. (Beschwerdeführerin), ohne die am Verfahren beteiligten Personen anzuhören. Die bKESB setzte den Termin zur persönlichen Anhörung auf den 14. Februar 2014 fest, kündigte eine neue Verfügung nach Anhörung der Beschwerdeführerin an und entzog einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung (Entscheid vom 6. Februar 2014). Die Beschwerdeführerin erhob gegen den Entscheid der bKESB eine Beschwerde. Das Obergericht des Kantons Bern trat darauf nicht ein mit der Begründung, die Beschwerde stehe gegen vorsorgliche Massnahmen ohne vorgängige Anhörung nicht zur Verfügung, sondern erst gegen vorsorgliche Massnahmen, die nach Anhörung der betroffenen Person angeordnet worden seien (Entscheid vom 28. Februar 2014). Mit Eingabe vom 2. April 2014 beantragt die Beschwerdeführerin dem Bundesgericht, den Entscheid des Obergerichts und den Entscheid der bKESB aufzuheben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde an der öffentlichen Beratung vom 19. Juni 2014 ab, soweit es darauf eintritt.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: |
Von diesem Erfordernis der Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs hat die Rechtsprechung wenige Ausnahmen zugelassen. Das Bundesgericht tritt auf Beschwerden gegen den Entscheid ein, mit dem das Gericht die superprovisorische Einstellung der Betreibung auf Konkurs nach Zustellung der Konkursandrohung verweigert (Art. 85a Abs. 2 Ziff. 2 SchKG). Denn ist der Konkurs eröffnet, kann eine vorsorgliche Massnahme nach Anhörung der Parteien die superprovisorisch verweigerte Einstellung der Betreibung nicht mehr ersetzen und wird die Klage auf Feststellung, dass die Schuld nicht oder nicht mehr besteht oder gestundet ist (Art. 85a Abs. 1 SchKG), gegenstandslos (Urteile 5A_712/2008 vom 2. Dezember 2008 E. 1.2; 5A_473/2010 vom 23. Juli 2010 E. 1.1, in: SZZP 2010 S. 404; 5A_473/2012 vom 17. August 2012 E. 1.2.1). Die gleichen Überlegungen gelten für Beschwerden gegen die superprovisorische Verweigerung der Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts, zumal andernfalls die Verwirkung droht, wie auch gegen die Verweigerung des Arrestes, soweit es sich beim Arrestentscheid um eine superprovisorische Massnahme im eigentlichen Sinn handelt (Urteil 5A_508/2012 vom 28. August 2012 E. 3.1, in: SJ 135/2013 I S. 35 und in: Pra 102/2013 Nr. 56 S. 441).
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Im Gegensatz dazu bewirken superprovisorische Massnahmen des Erwachsenenschutzes in der Regel weder den endgültigen Verlust von Rechten noch die Gegenstandslosigkeit des kontradiktorischen Verfahrens vor der Erwachsenenschutzbehörde, in dem das superprovisorisch Angeordnete nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten durch Erlass einer vorsorglichen Massnahme bestätigt, geändert oder aufgehoben und damit ersetzt wird. Es bleibt deshalb festzuhalten, dass superprovisorische Massnahmen gemäss Art. 445 Abs. 2 ZGB mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs der Beschwerde an das Bundesgericht grundsätzlich nicht unterliegen. Zu beachten ist allerdings, dass die Erwachsenenschutzbehörde im kontradiktorischen Verfahren prüft, ob die Voraussetzungen für die Anordnung oder den Fortbestand von vorsorglichen Massnahmen erfüllt sind. Weder beheben noch beseitigen kann die Erwachsenenschutzbehörde somit den hier geltend gemachten rechtlichen Nachteil, dass das Obergericht auf die Beschwerde gegen die superprovisorischen Massnahmen nicht eingetreten ist und dadurch das Verbot der formellen Rechtsverweigerung verletzt hat. Für diese Rüge ist die Letztinstanzlichkeit zu bejahen (BGE 134 III 524 E. 1.3 S. 527 f.; vgl. BERNARD CORBOZ, in: Commentaire de la LTF, 2. Aufl. 2014, N. 10 zu Art. 75 BGG, und zum bisherigen Recht: WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl. 1994, S. 332 ff.).
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(...)
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2. Die Auslegung von Art. 445 ZGB hat die Frage zu beantworten, ob gegen vorsorgliche Massnahmen der Erwachsenenschutzbehörde ohne Anhörung der am Verfahren beteiligten Personen, gegen sog. superprovisorische Massnahmen also, eine kantonale Beschwerde erhoben werden kann.
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Anders als Art. 265 ZPO verwendet Art. 445 ZGB den Begriff "Superprovisorische Massnahmen" nicht, sondern unterscheidet zwischen vorsorglichen Massnahmen (Abs. 1) und vorsorglichen Massnahmen ohne vorgängige Anhörung (Abs. 2) und lässt gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen die Beschwerde zu (Abs. 3). Mit Blick auf die fehlende begriffliche Unterscheidung könnte aufgrund des Gesetzestextes und der Systematik davon ausgegangen werden, jede vorsorgliche Massnahme sei mit Beschwerde anfechtbar. Im Gegensatz zur deutschen und italienischen Fassung von Abs. 3 ("Gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen"; "Le decisioni in materia di provvedimenti cautelari") verdeutlicht die französische Fassung, dass "Toute décision relative aux mesures provisionnelles" mit Beschwerde angefochten werden kann. Nach anderer Betrachtungsweise könnte die Beschwerdemöglichkeit gemäss Abs. 3 aber auch nur auf die vorsorglichen Massnahmen gemäss Abs. 1 bezogen werden. Denn vorsorgliche Massnahmen ohne Anhörung gemäss Abs. 2 gelten laut dem Gesetzestext erst dann als vorsorgliche Massnahmen, wenn gleichzeitig mit ihrer Anordnung die am Verfahren beteiligten Personen Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten haben und anschliessend neu entschieden worden ist.
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Soweit sich die Lehre zum Gesetzestext äussert, wird die Zulässigkeit der Beschwerde gegen superprovisorische Massnahmen gestützt auf den klaren Wortlaut bejaht (so FRANÇOIS BOHNET, Autorités et procédure en matière de protection de l'adulte, in: Le nouveau droit de la protection de l'adulte, 2012, N. 157 S. 87) oder aus der Systematik von Art. 445 ZGB abgeleitet (so HAUSHEER/GEISER/AEBI-MÜLLER, Das Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 5. Aufl. 2014, S. 460 Rz. 19.86).
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Laut Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht) ist die Beschwerdemöglichkeit im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes - anders als in der zu jener Zeit geplanten schweizerischen Zivilprozessordnung - auch bei superprovisorischen Massnahmen gegeben, da diese tief in die Persönlichkeit der betroffenen Person eingreifen können und das Verfahren auf Anordnung einer ordentlichen vorsorglichen Massnahme, wenn mehrere am Verfahren beteiligte Personen anzuhören sind, einige Zeit in Anspruch nehmen kann. Im Rahmen der Beschwerde ist aber grundsätzlich nur zu prüfen, ob die Voraussetzungen der superprovisorischen Massnahme erfüllt waren. Das Rechtsschutzinteresse bei einer Beschwerde entfällt im Zeitpunkt, in dem die superprovisorische Massnahme aufgehoben wird (BBl, a.a.O.). Diskussionslos zugestimmt hat der Ständerat dem Entwurf des Bundesrats (AB 2007 S 840) und der Nationalrat dem Beschluss des Ständerats (AB 2008 N 1539).
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Aus den Materialien muss geschlossen werden, dass die Möglichkeit einer Beschwerde gegen superprovisorische Massnahmen zu Beginn abgelehnt, gemäss der Botschaft aber bestehen soll. Sie ist danach auf die Voraussetzungen der superprovisorischen Massnahmen beschränkt, was im Gesetzeswortlaut allerdings nicht zum Ausdruck gekommen ist. Das Schrifttum folgt überwiegend den Ausführungen in der Botschaft ohne eigenständige Stellungnahme oder Würdigung (vgl. etwa DANIEL STECK, in: Erwachsenenschutz, 2013, N. 19 f. zu Art. 445 ZGB, und MEIER/LUKIC, Introduction au nouveau droit de la protection de l'adulte, 2011, N. 107 S. 49; je mit Hinweisen).
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2.5 Gegen die selbstständige Anfechtbarkeit superprovisorischer Massnahmen wird angeführt, dass bei deren Eröffnung bzw. Vollzug die Verfahrensbeteiligten gemäss Art. 445 Abs. 2 ZGB zur Stellungnahme aufgefordert werden und somit in der Regel kein Rechtsmittel zu ergreifen brauchen, um ihren Standpunkt vorzutragen. Alsdann trifft die Behörde sofort einen Entscheid über die vorsorgliche Massnahme, der mit Beschwerde anfechtbar ist (HERMANN SCHMID, Erwachsenenschutz, Kommentar zu Art. 360-456 ZGB, 2010, N. 12 zu Art. 445 ZGB). Eingewendet wird weiter, dass bereits die selbstständige Anfechtbarkeit einer auf dem ordentlichen Weg angeordneten vorsorglichen Massnahme dazu führt, dass die gerichtliche Beschwerdeinstanz unter Umständen zweimal mit der Notwendigkeit der konkreten Massnahme befasst wird. Eine bestimmte Massnahme könnte im Extremfall sogar dreimal Gegenstand der gerichtlichen Beurteilung bilden, wenn nun auch noch das Superprovisorium selbstständig anfechtbar wäre. Es stellt sich zudem die Frage nach dem Prüfungsgegenstand im Beschwerdeverfahren (Voraussetzungen für den Erlass und/oder Begründetheit der superprovisorischen Massnahme). Angesichts dieser Vorbehalte wird die selbstständige Anfechtbarkeit des Superprovisoriums verneint oder - wenn überhaupt - auf Ausnahmefälle beschränkt (AUER/MARTI, in: Basler Kommentar, Erwachsenenschutz, 2012, N. 32 zu Art. 445 ZGB).
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2.6.1 Nach dem gesetzgeberischen Konzept soll die Wirkung der superprovisorischen Massnahme von beschränkter Dauer sein. Gemäss Art. 445 Abs. 2 ZGB ist mit dem Erlass der superprovisorischen Massnahme den am Verfahren beteiligten Personen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und anschliessend neu zu entscheiden. Die Begriffe "gleichzeitig" ("En même temps"; "Nel contempo") und "anschliessend" ("ensuite"; "in seguito") sind bei schweren Eingriffen in Persönlichkeitsrechte mit dem Begriff "unverzüglich" ("sans délai"; "senza indugio") im Sinne von Art. 265 Abs. 2 ZPO gleichzusetzen. Gerade in den Fällen, die eine Beschwerdemöglichkeit sachlich rechtfertigen könnten, dürfte die richtige Anwendung von Art. 445 Abs. 2 ZGB somit dazu führen, dass es gar nicht zur Beurteilung einer Beschwerde kommen kann, weil - wie die Botschaft hervorhebt - das Rechtsschutzinteresse bereits im Zeitpunkt entfällt, in dem die superprovisorische Massnahme durch eine vorsorgliche Massnahme ersetzt wird, was eine Frage von Tagen oder wenigen Wochen sein muss.
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2.6.3 Schliesslich ist zu beachten, dass auch die superprovisorische Massnahme die Notwendigkeit einer Massnahme des Erwachsenenschutzes voraussetzt, deren Anordnung zusätzlich eine besondere Dringlichkeit verlangt. Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Massnahme lassen sich praktisch nicht trennen, so dass eine auf die besonderen Voraussetzungen des Superprovisoriums beschränkte oder beschränkbare Beschwerdemöglichkeit eher als theoretisch erscheint. Die Zulassung einer Beschwerde bereits gegen die superprovisorische Massnahme führt im Ergebnis vielmehr dazu, dass im Rahmen dieser Beschwerde der Entscheid über die vorsorgliche Massnahme vorweggenommen und insoweit präjudiziert wird, was umso bedenklicher erscheint, als in verschiedenen Kantonen ein Einzelmitglied der Erwachsenenschutzbehörde zur Anordnung vorsorglicher Massnahmen bei besonderer Dringlichkeit zuständig ist, während über die vorsorgliche Massnahme wiederum die Erwachsenenschutzbehörde in ordentlicher Besetzung entscheiden muss.
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2.7 Aus den dargelegten Gründen rechtfertigt es sich nicht, gegen superprovisorische Massnahmen des Erwachsenenschutzes die in Art. 445 Abs. 3 ZGB vorgesehene Beschwerde zuzulassen. Die von der superprovisorischen Massnahme betroffene Person braucht kein Rechtsmittel zu ergreifen, um ihren Standpunkt vorzutragen, sondern kann sich im Rahmen des ihr sofort zu gewährenden rechtlichen Gehörs unmittelbar an die verfügende Erwachsenenschutzbehörde wenden und deren neuen, unverzüglich zu treffenden Entscheid mit Beschwerde anfechten. Das Auslegungsergebnis entspricht der Schweizerischen Zivilprozessordnung, in der kein Rechtsmittel gegen kantonal erstinstanzliche Entscheide über superprovisorische Massnahmen vorgesehen ist (BGE 137 III 417 E. 1.3 S. 419).
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