BGE 141 III 481
 
64. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. SA gegen B. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
 
4A_205/2015 vom 14. Oktober 2015
 
Regeste
Wahrung der Frist zur Aberkennungsklage; Begriff der Neueinreichung der Eingabe im Sinne von Art. 63 ZPO.
 
Aus den Erwägungen:
3.1 Diese Regel gilt - Fälle von Rechtsmissbrauch vorbehalten - auch, wenn sich nach einem ersten Nichteintretensentscheid das als zweites angerufene Gericht ebenfalls für unzuständig erklärt (BGE 138 III 471 E. 6 S. 481 f. mit Hinweisen), und es bestehen keine überzeugenden Gründe dagegen, sie auch mehrmals in der Folge anzuwenden (ISABELLE BERGER-STEINER, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 49 zu Art. 63 ZPO; FRANÇOIS BOHNET, in: CPC, Code de procédure civile commenté, Bohnet und andere [Hrsg.], 2011, N. 26 zu Art. 63 ZPO; SUTTER-SOMM/HEDINGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2013, N. 19 zu Art. 63 ZPO; MARKUS MÜLLER-CHEN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kommentar, Brunner und andere [Hrsg.], 2011, N. 16 zu Art. 63 ZPO; STEPHEN V. BERTI, in: ZPO, Oberhammer und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 8 zu Art. 63 ZPO; a.M. DOMINIK INFANGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 10 f. zu Art. 63 ZPO).
Die Vorinstanz vertritt denn auch zu Recht nicht die Auffassung, dass die mehrfache Einreichung einer Aberkennungsklage bei unzuständigen Gerichten einer Anwendung von Art. 63 ZPO grundsätzlich im Wege stehen würde. Tatsächliche Feststellungen, aus denen im vorliegenden Fall auf ein - von der Beschwerdegegnerin im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemachtes und von der Beschwerdeführerin bestrittenes - rechtsmissbräuchliches Verhalten geschlossen werden könnte, traf die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid nicht, da sie die Anwendbarkeit von Art. 63 ZPO schon aus einem anderen Grund verneinte.
3.2.1 Die Beschwerdeführerin rügt, Art. 63 ZPO verlange entgegen der vorinstanzlichen Auffassung nicht, dass die gleiche Eingabe beim zuständigen Gericht neu eingereicht werde, sondern lasse die Identität des Streitgegenstands genügen. Die an ihrer Eingabe vorgenommenen Änderungen müssten ohne weiteres zulässig sein. Die Rechtsbegehren seien unstrittig gleich geblieben. Soweit Änderungen und Ergänzungen der Klageschrift vorgenommen worden seien, seien sie zum Grossteil aufgrund der Anrufung eines unzuständigen Gerichts notwendig gewesen und hätten im Übrigen den gleichen Lebenssachverhalt betroffen. Das Klagefundament sei nicht geändert worden. Eine rechtzeitig neu eingereichte und grundsätzlich gleiche Klage wegen zulässigen Änderungen und Ergänzungen mangels Identität mit der ersten Eingabe als verspätet zu betrachten, widerspreche dem Schutzzweck von Art. 63 ZPO. Die Vorinstanz habe im Übrigen offensichtlich unrichtig und willkürlich festgestellt, dass die neu eingereichte Aberkennungsklage nur noch wenig Gemeinsamkeiten mit der ursprünglich eingereichten Klageschrift habe.
Zu berücksichtigen ist dabei ausser dem Schrifttum zu Art. 63 ZPO auch die Literatur zu den Bestimmungen von Art. 34 des Bundesgesetzes vom 24. März 2000 über den Gerichtsstand in Zivilsachen (Gerichtsstandsgesetz, GestG; AS 2000 2355), von aArt. 32 Abs. 3 SchKG sowie von aArt. 139 OR, die allesamt mit Inkrafttreten der ZPO aufgehoben wurden (AS 2010 1739 ff., 1837, 1840, 1848). Denn sowohl die Regelung von Art. 63 ZPO wie diejenigen nach Art. 34 GestG und nach aArt. 32 Abs. 3 SchKG gehen auf das gemeinsame "Urbild" von aArt. 139 OR zurück (BGE 138 III 610 E. 2.6).
Mehrere Autoren fordern, die klagende Partei, die in den Genuss des Erhalts der Rechtshängigkeit kommen wolle, müsse die gleiche Eingabe bzw. exakt die gleiche Klage, die sie ursprünglich bei einem unzuständigen Gericht eingereicht habe, neu bei der zuständigen Behörde bzw. beim zuständigen Gericht einreichen (MÜLLER-CHEN, a.a.O., N. 16 zu Art. 63 ZPO; MARIELLA ORELLI, in: Gerichtsstandsgesetz, Müller/Wirth [Hrsg.], 2001, N. 52 zu Art. 34 GestG;ANDRÉ BLOCH, Die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit von Amtes wegen und die Folgen bei örtlicher Unzuständigkeit gemäss Art. 34 GestG, 2003, S. 235 f.). Ähnlich äussern sich verschiedene weitere Autoren, welche die Ansicht vertreten, der Kläger sei bei der Neuanbringung der Klage grundsätzlich an den bislang vorgebrachten Prozessstoff bzw. die vorgebrachten Tatsachenbehauptungen und seine Klagebegehren gebunden; Identität des Streitgegenstands genüge nicht (INFANGER, a.a.O., N. 12 zu Art. 63 ZPO; derselbe, in: Bundesgesetz über den Gerichtsstand in Zivilsachen, Kommentar, Spühler/Tenchio/Infanger [Hrsg.], 2001, N. 34 zu Art. 34 GestG;SUTTER-SOMM/HEDINGER, a.a.O., N. 16 zu Art. 63 ZPO; CHRISTOPH LEUENBERGER, Rechtshängigkeit bei fehlender Zuständigkeit und falscher Verfahrensart [Art. 63ZPO], SZZP 2013 S. 169 ff., 173).
BECKER (Berner Kommentar, 1913, N. 3 zu Art. 139 OR) und BOHNET (a.a.O., N. 27 zu Art. 63 ZPO) sprechen sich für die Bindung an das ursprünglich gestellte Rechtsbegehren bzw. den Anspruch aus, ohne sich ausdrücklich über die Zulässigkeit von weiteren Veränderungen des Prozessstoffes zu äussern.
Einzig BERGER-STEINER (a.a.O., N. 39 f. zu Art. 63 ZPO) will aus prozessökonomischen Gründen Veränderungen der Eingabe (bereits) bei ihrer erneuten Einreichung entsprechend den Regeln über die Klageänderung zulassen, wobei erst recht solche Modifikationen zulässig sein müssten, die noch nicht als eigentliche Klageänderungen zu qualifizieren seien.
3.2.3 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 141 III 155 E. 4.2 mit Hinweisen).
3.2.4 Wie die Beschwerdeführerin zutreffend geltend macht, verlangt der Wortlaut von Art. 63 Abs. 1 ZPO nicht ausdrücklich als Voraussetzung für eine Rückdatierung der Rechtshängigkeit, dass die gleiche Eingabe beim zuständigen Gericht neu eingereicht werden muss. In diese Richtung deutet allerdings der französische Gesetzestext ("Si l'acte introductif d'instance [...] estréintroduit [...] devant letribunal[...] compétent") wie auch dieitalienische Fassung der Bestimmung ("Se l'atto [...] èriproposto [...] davanti al giudice oall'autorità competenti"). Dass die gleiche Eingabe eingereicht werden muss, um eine Rückdatierung der Rechtshängigkeit zu bewirken, könnte insoweit auch aus dem deutschen Wortlaut der Bestimmung abgeleitet werden, als darin von der neuen Einreichung einer "Eingabe" die Rede ist. Ob dieser Schluss aus dem deutschen Text gezogen werden kann, erscheint immerhin vor dem Hintergrund unklar, als im VE-ZPO noch von der Neueinreichung einer "Klage" die Rede war und das Wort "Klage" erst im bundesrätlichen Entwurf zur ZPO durch "Eingabe" ersetzt wurde, womit lediglich bezweckt wurde, den Anwendungsbereich der Bestimmung weit zu fassen (BERGER-STEINER, a.a.O., N. 1 und 13 zu Art. 63 ZPO).
Den Materialien lässt sich sodann nichts darüber entnehmen, was als Neueinreichung der "Eingabe" zu verstehen ist (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO] [fortan: Botschaft], BBl 2006 7221 ff., 7277 f. Ziff. 5.4 zu Art. 61 E-ZPO; BERGER-STEINER, a.a.O., N. 39 zu Art. 63 ZPO).
Sinn und Zweck der Norm von Art. 63 Abs. 1 ZPO liegen darin, die als unbillig empfundene Konsequenz zu vermeiden, dass eine unrichtige Klageeinleitung und der daraufhin ergehende Nichteintretensentscheid oder der Klagerückzug angebrachtermassen zu einem Rechtsverlust des Ansprechers führen, weil damit die mit der ursprünglichen Klageanhebung eingetretene Rechtshängigkeit wieder entfällt und dadurch Klage- oder Verjährungsfristen nicht mehr gewahrt sind (Botschaft, a.a.O., 7277 Ziff. 5.4 zu Art. 61 E-ZPO; BERGER-STEINER, a.a.O., N. 6 zu Art. 63 ZPO; MÜLLER-CHEN, a.a.O., N. 1 zu Art. 63 ZPO; INFANGER, a.a.O., N. 1 zu Art. 63 ZPO; SUTTER-SOMM/HEDINGER, a.a.O., N. 6 zu Art. 63 ZPO; vgl. auch BGE 136 III 545 E. 3.1 S. 547 f. und E. 3.2 S. 550 [zu aArt. 139 OR]). Dem Kläger darüber hinaus Gelegenheit zu geben, seine Eingabe im Hinblick auf die Neueinreichung zu verändern bzw. zu verbessern, liegt ausserhalb der Zweckbestimmung von Art. 63 ZPO. Dies hat die Vorinstanz zutreffend erkannt.
Die Vorinstanz berücksichtigte darüber hinaus zu Recht, dass die Parteien im ordentlichen Verfahren nur zweimal das Recht haben, unbeschränkt Tatsachen und Beweise vorzutragen (BGE 140 III 312 E. 6.3.2.3 S. 314 unten). Würde im Fall einer mehrmaligen Einreichung der Klage bei unzuständigen Behörden und einer mehrmaligen Auslösung der Nachfrist bei jeder Neueinreichung eine Änderung der Eingabe zugelassen, führte dies zu einer Bevorteilung der klagenden Partei. Sie würde von den Vorzügen der Rechtshängigkeit profitieren, hätte aber auf der anderen Seite die damit verbundenen Lasten nicht zu tragen.
Aus diesen Gründen schliesst sich das Bundesgericht der Vorinstanz sowie den Autoren an, die fordern, dass die identische Eingabe einzureichen ist. Angeführte Gründe der Prozessökonomie mögen dagegen nicht aufzukommen. Soweit Verbesserungen und Ergänzungen der ursprünglichen Eingabe erforderlich sind oder der Ansprecher solche für notwendig erachtet, hat er dieselben im Rahmen der Möglichkeiten vorzunehmen, die ihm das Prozessrecht nach Eintritt der Rechtshängigkeit im weiteren Verfahren vor der zuständigen Instanz einräumt, unter der Verfahrensleitung derselben (namentlich Mängelbehebung nach Art. 132 Abs. 2 ZPO; weitere Vorbingen gemäss den in BGE 140 III 312 E. 6.3.2.3 S. 314 fixierten Regeln, allenfalls nach Ausübung der richterlichen Fragepflicht; Novenrecht; gegebenenfalls Klageänderung nach Art. 227 ZPO). Art. 63 ZPO erfasst nur die fehlende Zuständigkeit und die Klageeinleitung im unrichtigen Verfahren, also weder das Fehlen anderer Prozessvoraussetzungen noch formelle Mängel der Eingabe. Dem Ansprecher zu erlauben, die ursprüngliche Eingabe unter der bestehenden Rechtshängigkeit nach seinem Gutdünken zu verändern, bis er an die zuständige Instanz gelangt, rechtfertigt sich nicht. Die Auffassung von BERGER überzeugt nicht und ist auch nicht praktikabel, da es nicht Aufgabe der letztlich zuständigen Behörde sein kann, die neu eingereichte Eingabe auf zulässige und unzulässige Veränderungen zu überprüfen (vgl. BERGER-STEINER, a.a.O., N. 39 zu Art. 63 ZPO).
Die Beschwerdeführerin geht daher fehl, wenn sie vorbringt, die Vorinstanz hätte auf die neu eingereichte Klage auch eintreten müssen, wenn diese unzulässige Änderungen oder Ergänzungen enthalten hätte, wobei sie allenfalls die unzulässigen Änderungen oder Ergänzungen hätte aus dem Recht weisen können. Damit verkennt die Beschwerdeführerin überdies, dass für die Beurteilung von Vorgängen, welche die Wahrung von Fristen beeinflussen, im Interesse der Rechtssicherheit einfache und klare Grundsätze aufzustellen sind (vgl. Urteil 4A_374/2014 vom 26. Februar 2015 E. 3.2).
Um der Praktikabilität willen ist daher zu verlangen, dass der Ansprecher die gleiche Rechtsschrift, die er ursprünglich bei einem unzuständigen Gericht eingegeben hat, im Original bei der von ihm für zuständig gehaltenen Behörde neu einreicht; die von ihm ursprünglich angerufene, unzuständige Behörde hat ihm zu diesem Zweck auf sein Verlangen hin die mit ihrem Eingangsstempel versehene Originaleingabe zurückzusenden (in diesem Sinn BLOCH, a.a.O., S. 235 f.; zum Verzicht des Gesetzgebers, im Rahmen des Zivilprozesses eine Weiterleitungspflicht der Behörden an die zuständige Instanz zu statuieren: Botschaft, a.a.O., S. 7277; s. ferner BGE 130 III 515 E. 5 [zu aArt. 32 Abs. 3 SchKG]). Im Fall, dass die ursprüngliche Eingabe, wie hier, in einer anderen Amtssprache abgefasst wurde (Art. 129 ZPO), hat der Ansprecher der Originaleingabe überdies eine Übersetzung derselben beizulegen. Selbstverständlich steht es dem Ansprecher darüber hinaus frei, der neu eingereichten Eingabe ein erklärendes Begleitschreiben beizufügen, das namentlich Ausführungen darüber enthalten kann, dass zunächst eine unzuständige Behörde angerufen wurde und nun eine Neueinreichung der Eingabe bei der für zuständig erachteten Instanz erfolgt.
Die Vorinstanz verletzte demnach Art. 63 ZPO nicht, indem sie verlangte, dass die Beschwerdeführerin bei ihr die gleiche Eingabe hätte neu einreichen müssen, die sie ursprünglich, am 25. März 2014, beim Tribunal civil de l'arrondissement de la Broye eingereicht habe, und indem sie auf die veränderte Eingabe bzw. die Klage der Beschwerdeführerin nicht eintrat.
3.3 Dabei kann offenbleiben, ob die Vorinstanz, wie die Beschwerdeführerin rügt, willkürlich festgestellt hat, dass die neu eingereichte Aberkennungsklage vorliegend nur noch wenig Gemeinsamkeiten mit der ursprünglichen Klageschrift habe. Denn die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Rüge nicht geltend, die Vorinstanz habe zu Unrecht festgestellt, ihre ursprüngliche Eingabe sei nicht im vorstehenden Sinn mit ihrer neuen Eingabe identisch. Sie vertritt bloss den Standpunkt, ihre neue Eingabe enthalte nur zulässige Veränderungen der ursprünglichen Rechtsschrift. Dies ist nach dem Gesagten indessen unbehelflich, da die Vorinstanz die Anwendbarkeit von Art. 63 ZPO zutreffend mangels Neueinreichung der identischen Eingabe verneinte und eine Rückdatierung der Rechtshängigkeit zu Recht ablehnte.