BGE 147 III 402
 
40. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und VSAO-ASMAC Stiftung für Selbständigerwerbende gegen A. AG sowie A. AG gegen VSAO-ASMAC Stiftung für Selbständigerwerbende (Beschwerden in Zivilsachen)
 
4A_389/2020 / 4A_415/2020 vom 18. Mai 2021
 
Art. 45 Abs. 3 OR; Methode der Berechnung des Versorgungsschadens.
 
Art. 45 Abs. 3 OR; Anrechenbarkeit von Vermögenserträgen bei der Berechnung des Versorgungsschadens.
 
Art. 45 Abs. 3 OR; Anrechenbarkeit von Vermögenserträgen aus Kapitalien von Summenversicherungen bei der Berechnung des Versorgungsschadens.
 
Sachverhalt
A. Am 30. Januar 2006 überrollte ein bei der A. AG (Versicherung, Beklagte) haftpflichtversicherter LKW (Lastkraftwagen) B.B. (nachfolgend: Versorgerin), geboren am 26. Juli 1956, auf ihrem Fahrrad tödlich. Die eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV, Klägerin 1) und die VSAO-ASMAC Stiftung für Selbständigerwerbende (BVG-Stiftung, Klägerin 2) richteten dem Ehemann der tödlich verunglückten Versorgerin, C.B. (nachfolgend: Witwer), geboren am 13. September 1951, sowie den beiden gemeinsamen Kindern D.B. (nachfolgend: Sohn D.B.), geboren am 6. September 1991, und E.B. (nachfolgend: Sohn E.B.), geboren am 10. Juni 1993, Hinterlassenenleistungen aus.
B. Mit Eingabe vom 23. November 2017 gelangten die Klägerinnen an das Handelsgericht des Kantons Zürich und verlangten Ersatz für die von ihnen erbrachten Leistungen an den Witwer sowie die beiden Söhne aus übergegangenem Recht. Mit Urteil vom 10. Juni 2020 verpflichtete das Handelsgericht die Beklagte, der Klägerin 1 Fr. 183'801.- (Fr. 84'796.- für den Witwer sowie insgesamt Fr. 99'005.- für die Söhne) und der Klägerin 2 Fr. 265'725.- (Fr. 57'956.- für den Witwer, Fr. 96'579.- für Sohn D.B. und Fr. 111'189.- für Sohn E.B.), je zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 30. Januar 2006 zu bezahlen. Im Mehrbetrag wies es die Klagen ab. Die Kosten auferlegte es nach Massgabe des Obsiegens bzw. Unterliegens zu 10 % der Klägerin 1, zu 40 % der Klägerin 2 und zu 50 % der Beklagten.
C. Gegen dieses Urteil haben sowohl die Klägerinnen als auch die Beklagte Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht erhoben.
C.a Die Klägerinnen beantragen im Verfahren 4A_389/2020, das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Juni 2020 sei kostenfällig aufzuheben und die Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin 1 Fr. 321'928.- und der Klägerin 2 Fr. 759'769.-, jeweils zuzüglich 5 % Zins auf verschiedenen Betreffnissen zu bezahlen. Eventuell sei das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin 2 Fr. 755'574.- zuzüglich 5 % Zins auf verschiedenen Betreffnissen zu bezahlen. Subeventuell sei die Sache zur Neufestlegung des Quantitativs an das Handelsgericht zurückzuweisen.
Die Beklagte trägt auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde an. Das Handelsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.
C.b Die Beklagte verlangt im Verfahren 4A_415/2020, der Beschluss und das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Juni 2020 seien kostenfällig aufzuheben, und es sei die Klage vom 23. November 2017 betreffend die Klägerin 2 im den Betrag von Fr. 207'769.- zuzüglich Zins zu 5 % seit 30. Januar 2006 übersteigenden Umfang abzuweisen. Eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das Handelsgericht des Kantons Zürich zurückzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen die kostenfällige Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden kann. Sie stellen überdies den Antrag, die beiden Verfahren seien zu vereinigen.
Die Parteien haben unaufgefordert repliziert und dupliziert. Das Handelsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht hat die Beschwerden am 18. Mai 2021 in öffentlicher Beratung beurteilt und sie abgewiesen.
 
Aus den Erwägungen:
Gemäss der langjährigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (mit Hinweis auf: BGE 145 III 225 E. 4.1.2.2; BGE 119 II 361 E. 5b; BGE 108 II 434 E. 5a; BGE 101 II 346 E. 3c; BGE 84 II 292 E. 7a; Urteil 4A_122/2016 vom 4. Juli 2016 E. 8.1) werde beim Versorgungsschaden der Schaden abstrakt auf den Todestag berechnet. Demgegenüber erfolge die Kalkulation beim Invaliditätsschaden (nach Körperverletzung) auf den Urteilstag, womit in diesem Fall unterschieden werden müsse zwischen dem konkret zu berechnenden vergangenen Schaden bis zum Urteilstag und dem abstrakt zu berechnenden zukünftigen Schaden. Von dieser Rechtsprechung sei auszugehen. Entsprechend seien also auch die Renten auf den Todestag zu kapitalisieren und zwar zum Kapitalisierungszinsfuss von 3.5 %.
Die Klägerin 1 habe dem Witwer in der Zeit vom 1. Februar 2006 bis zum 30. Juni 2011 (Wegfall der Witwerrente zufolge Erreichen des 18. Altersjahres des jüngsten Kindes, Art. 24 Abs. 2 AHVG) Witwerrenten von (addiert) Fr. 116'264.- ausgerichtet; für den Sohn D.B. für den Zeitraum zwischen dem 6. September 1991 und Ende September 2016 Waisenrenten von (addiert) Fr. 103'120.-und für den Sohn E.B. bis Ende Juni 2018 solche von (addiert) Fr. 123'421.- (Fr. 117'076.-+ Fr. 6'345.-). Hiervon zog sie 6.09 % ab, da sie den Versorgungsschaden mit der Klage vom 23. November 2017 erst 11.5 Jahre nach dem Todestag berechnet habe und während dieser Zeit die Versorgerin auch ohne den Unfall hätte sterben können (Sterblichkeitsrisiko). Auf den entsprechenden Regressbetreffnissen verlangte sie sodann einen Regresszins von 5 % seit mittlerem Verfall. Grundsätzlich gleich berechnete die Klägerin 2 die geltend gemachte Regressforderung. Die Klägerinnen legen sodann dar, dass eine Kapitalisierung auf den Todestag für sie nachteilig sei. Sie illustrieren dies mit einem Vergleich zwischen den kapitalisierten Beträgen gemäss angefochtenem Entscheid und den addierten Beträgen betreffend die Ansprüche der Klägerin 2 für die dem Witwer ausgerichteten Renten und betreffend die Ansprüche der Beschwerdeführerin 1 für die an Sohn D.B. ausgerichteten Renten. Des Weiteren führe die abstrakte Berechnung dazu, dass die nach dem Tod der Versorgerin eingetretenen Tatsachen bei der Berechnung des Versorgungsschadens nicht berücksichtigt würden, sondern stattdessen auf abstrakte Werte abgestellt werde. Schliesslich werde auch vom Schweizerischen Versicherungsverband, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der SUVA die zweiphasige Berechnung mit Kapitalisierung per Rechnungstag empfohlen (publ. in: HAVE 2003 S. 355). In der Praxis habe sich die zweiphasige Berechnung schon seit Jahren eingespielt.
5.3.1 Wie von dieser zutreffend erwähnt (E. 5.1 hiervor), geht die aktuelle bundesgerichtliche Praxis zur Kapitalisierung des Versorgungsschadens auf BGE 84 II 292 zurück. Das Bundesgericht erwog, die konkrete Berechnung könne vor allem dann zu erheblichen Fehlern führen, wenn das Urteil erst Jahre nach dem Unfall ergehe oder wenn der verunfallte Versorger schon ziemlich alt gewesen sei. Es werde nämlich davon ausgegangen, der Versorger hätte den Abrechnungstag erlebt, wäre der Unfall nicht gewesen. Das Risiko, dass er in der Zwischenzeit verstorben oder arbeitsunfähig geworden wäre, werde damit nicht berücksichtigt. Derartige Fehlerquellen seien nicht zu akzeptieren. Vielmehr müsse - sobald eine mathematisch genauere Berechnungsmethode zur Verfügung stehe - auf diese abgestellt werden. Eine solche genauere und dennoch einfache Methode bestehe darin, dass eine Verbindungsrente auf den Zeitpunkt des Todes des Versorgers kapitalisiert werde. Da damit die Wahrscheinlichkeitsrechnung auch für die Vergangenheit angewendet werde, müsse für die Zeit zwischen Unfall und Urteil ein Schadenszins von 5 % zugesprochen werden. Die Differenz zwischen diesem und dem zur Zeit geltenden Satz der Kapitalisierung von 3.5 % gebe in der Regel den vollen Ausgleich (zum Ganzen BGE 84 II 292 E. 7).
5.3.2.1 Ein Teil folgt der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, jedoch zumeist ohne sich mit dieser inhaltlich auseinanderzusetzen (DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Aufl. 1982, § 26 Rz. 28; MARTIN A. KESSLER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 7. Aufl. 2020, N. 4 zu Art. 42 OR; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl. 1995, § 6 Rz. 350; REY/WILDHABER, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 5. Aufl. 2018, Rz. 255; ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen, 1984, Rz. 172; FRANZ WERRO, La responsabilité civile, 3. Aufl. 2017, Rz. 1226 und 1240; ders., in: Commentaire romand [nachfolgend: Commentaireromand], Code des obligations, Bd. I, 2. Aufl. 2012, N. 24 zu Art. 45OR; vertiefter: BENOÎT CHAPPUIS, Le moment du dommage, 2007, Rz. 533 ff., insb. Rz. 538; zustimmend, sofern zwischen dem Tod des Versorgers und dem Zeitpunkt der Schadensberechnung nicht mehrere Jahre liegen, BERNHARD STEHLE, Der Versorgungsschaden [nachfolgend: Versorgungsschaden], 2010, Rz. 817).
5.3.2.2 Ein anderer Teil der Autoren macht geltend, es gebe keinen zwingenden Grund, bei Todesfällen anders vorzugehen als bei Invalidität (ROLAND BREHM, Berner Kommentar, Das Obligationenrecht, 4. Aufl. 2013, N. 96 zu Art. 45 OR; HARDY LANDOLT, Zürcher Kommentar, 2007, N. 188 f. zu Art. 45 OR; WEBER/SCHAETZLE, Personenschaden im Rück- und Ausblick - eine kritische Standortbestimmung, in: Personen-Schaden-Forum 2010, S. 303). Vielmehr könne bei einem zweistufigen Vorgehen der Schaden bis zum Rechnungszeitpunkt genauer - da konkret - ermittelt werden. Da man im Urteilszeitpunkt wisse, ob die Personen noch leben, die versorgt worden wären, gebe es keinen Grund, anstelle des Aufaddierens auf den Todestag zu kapitalisieren und dadurch (über den Kapitalisierungsfaktor) deren Sterbens- und Invalidisierungsrisiken für die zwischen dem Todes- und dem Erledigungs-(Urteils-)zeitpunkt liegende Zeitspanne einzubeziehen. Den hypothetischen Entwicklungen bei der versorgenden Person (z.B. Versterben vor dem Urteilstag) könne mit einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung Rechnung getragen werden (zum Ganzen THOMAS BITTEL, Ausgewählte Fragen zum Versorgungsschaden, in: Personen-Schaden-Forum 2004, S. 61 f.; SCHAETZLE/WEBER, Kapitalisieren, 5. Aufl. 2001, Rz. 2.46 und 4.93 ff.; vgl. auch GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, Le recours subrogatoire de l'assurance-accidents sociale contre le tiers responsable ou son assureur, 2007, Rz. 1694). Diese Autoren verweisen zum Teil auch darauf, dass die abstrakte einphasige Ermittlung dazu führe, dass die Rechtsprechung gegenüber Änderungen im Zeitraum zwischen Unfall und Urteilstag - zum Beispiel betreffend Lohnentwicklung oder Wiederverheiratung - zum Nachteil der versorgten Person (zu) restriktiv sei (namentlich BITTEL, a.a.O., S. 61; SCHAETZLE/WEBER, a.a.O., Rz. 3.352 und 4.98).
Die Kapitalisierung auf den Todestag sei auch deshalb unzulässig, weil damit der aufgelaufene Schaden bis zum Rechnungstag abgezinst werde, obwohl die Versorgten in dieser Periode das Kapital noch gar nicht zur Verfügung hätten und dieses folglich auch nicht zinsbringend anlegen könnten. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung werde zwar der gesetzlich geschuldete Schadenszins von 5 % zugesprochen, bei dem aber anders als bei der Diskontierung die Zinseszinsen nicht berücksichtigt würden ( BGE 131 III 12 E. 9). Bei kürzerer Laufzeit sei daher zwar der Schadenszins höher als der zur Abzinsung verwendete Satz von 3.5 %. Bei einem längeren Zeitraum zwischen Todes- und Urteilstag jedoch fange der Schadenszins wegen der Zinseszins-Komponente der Diskontierung den Nachteil der Abzinsung nicht mehr auf (SCHAETZLE/WEBER, a.a.O., Rz. 4.96 f.; STEHLE, Versorgungsschaden, a.a.O., Rz. 819). Mit dieser Methode nehme das Bundesgericht schliesslich auch in Kauf, dass der Teuerung zwischen Todes- und Urteilstag überhaupt nicht oder höchstens sehr beschränkt Rechnung getragen werden könne (BITTEL, a.a.O., S. 62; DENGER/SCHLUEP, Berücksichtigung der aufgelaufenen Teuerung beim Ersatz von Versorgungsschäden, ZBJV 131/1995 S. 508). Insgesamt bestreiten diese Autoren die in BGE 84 II 292 und nachfolgenden Entscheiden geäusserte Auffassung, dass "[d]ie Differenz zwischen diesem [gemeint: Schadenszins von 5 %] und dem derzeitigen Satz der Kapitalisierung von 3 ½ % [...] in der Regel einen vollen Ausgleich" gebe.
Schliesslich wird darauf hingewiesen, das Bundesgericht habe bei der Bestätigung seiner mit BGE 84 II 292 begründeten Rechtsprechung auch mit Praktikabilitätsgründen argumentiert. Angesichts der heutigen Möglichkeiten der Berechnung mit dem LEONARDO-Programm entfalle dieses Argument aber (BITTEL, a.a.O., S. 63).
5.3.4.1 Zunächst ist zu konstatieren, dass sich die Stimmen in der Literatur zur Frage, ob der Schaden ein- oder zweiphasig zu berechnen ist, keineswegs ausschliesslich oder grossmehrheitlich gegen die bundesgerichtliche Rechtsprechung richten. Vielmehr finden sich - wie aus den vorstehenden Ausführungen in E. 5.3.2 ersichtlich wurde - zahlreiche Autoren, welche die mit BGE 84 II 292 eingeführte Praxis befürworten. Es liegt also nicht eine (nahezu) einhellige Kritik in der Doktrin vor, die das Bundesgericht veranlassen müsste, in deren Licht seine Praxis zu überdenken. Auch sind die Kritikpunkte nicht neu, sondern standen bereits im Raum, als das Bundesgericht seine Praxis mehrfach bestätigte.
5.3.4.2 Wenn in der Literatur vorgebracht wird, es gäbe keinen zwingenden Grund, den Versorgungsschaden anders zu berechnen als den Invaliditätsschaden, wird damit kein wichtiger Grund für eine Änderung einer seit über 60 Jahren bestehenden Rechtsprechung dargetan. Die beiden Schadenarten unterscheiden sich wesentlich: Der Invalide lebt weiter. Mit welchen Einschränkungen er fortan leben muss, zeigt sich erst im Einzelfall. Da der Schadenersatz ausgleichen soll, was dem invalid Gewordenen nicht mehr möglich ist, ist beim Invaliditätsschaden in einer ersten Phase eine konkrete Berechnung sachgerecht. Anders verhält es sich beim Versorgungsschaden: Abgesehen davon, dass hier die Versorgung wegfällt, ändert der Todesfall im Leben, in der Gesundheit und den sonstigen Verhältnissen der anspruchsberechtigten Hinterbliebenen nichts. Aufgrund dessen kann der Versorgungsausfall abstrakt berechnet werden. Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Invalide seine Situation nicht - oder zumindest nicht in jenem Ausmass - zu beeinflussen vermag, wie es die Hinterbliebenen in der Lage sind. Diese können auf ihre Lebensumstände Einfluss nehmen. Eine daran anknüpfende konkrete Schadensberechnung für eine möglicherweise - wie in casu - sehr lange Zeitperiode und für mehrere Personen ist nicht nur komplex, sondern fällt unter Umständen sehr einseitig zugunsten der Hinterbliebenen aus, die ihre Verhältnisse gestalten können.
5.3.4.3 Soweit gegen die bundesgerichtliche Rechtsprechung weiter eingewendet wird, den in BGE 84 II 292 erwähnten Schwierigkeiten bei der Berechnung des Schadens könnte durch die Verwendung des LEONARDO-Programms begegnet werden, liegt darin kein wichtiger Grund, um die bisherige Praxis aufzugeben: Obgleich das LEONARDO-Programm schon länger in Gebrauch ist, hielt das Bundesgericht an seiner Praxis fest. Zum anderen räumt dieses Programm nicht alle praktischen Schwierigkeiten einer konkreten Berechnung aus. Schliesslich - und vor allem - gründet die bestehende Praxis nicht einzig auf Praktikabilitätsüberlegungen.
5.3.4.4 Auch das von den Klägerinnen vorgetragene Argument, wonach veränderte Verhältnisse vorlägen, da der Schweizerische Versicherungsverband, das Bundesamt für Sozialversicherungen und die SUVA die zweiphasige Berechnung empfählen und sich in der Praxis der Sozialversicherungen die zweiphasige Berechnung schon seit Jahren eingespielt habe, indiziert keine Änderung der bundesgerichtlichen Praxis. Abgesehen davon, dass eine solche gelebte Praxis weder belegt wird noch deren Gründe offengelegt werden, offenbart eine nähere Betrachtung einen zentralen Unterschied zur Schadensberechnung im Gerichtsverfahren: Während die Verfahren der Versicherungen meist zeitnah nach dem Tod des Versorgers geführt werden, weshalb die Phase der konkreten Berechnung des Versorgungsschadens überblickbar ist und sich weitgehend der Beeinflussung durch die Leistungsempfänger entzieht, verstreicht in Gerichtsverfahren regelmässig viel Zeit zwischen dem Tod und dem (massgebenden) Zeitpunkt, zu dem letztmals Noven vorgebracht werden können. Dafür liefert der vorliegende Fall das beste Beispiel: Die Versorgerin verstarb im Januar 2006; die Hauptverhandlung vor dem Handelsgericht fand über 14 Jahre später, im März 2020, statt. Hätte das Verfahren in einem Kanton stattgefunden, der einen doppelten Instanzenzug vorsieht, wäre noch mehr Zeit verstrichen. Allein diese lange Dauer macht eine konkrete Berechnung des Schadens bis zum Urteilszeitpunkt ungleich komplizierter und fehleranfälliger als im Verfahren der Versicherungen.
5.3.4.5 Gegen eine zweiphasige Berechnung spricht schliesslich auch, dass der Urteilszeitpunkt, der die Grenze zwischen konkreter und abstrakter Schadenskalkulation bildet, von prozessualen Taktiken der Parteien abhängt (vgl. BGE 145 III 225 E. 4.1.2.2). Überdies steht er in keinem logischen Zusammenhang zum Zeitpunkt, da der Anspruch auf Schadenersatz entstanden ist (Tod).
5.3.5 Dem Gesagten zufolge ist die Kapitalisierung auf den Todestag durch die Vorinstanz nicht zu beanstanden. Es liegen keine ernsthaften, sachlichen Gründe vor, die eine Änderung der bundesgerichtlichen Praxis zu begründen vermöchten. Die Beschwerde der Klägerinnen ist in diesem Punkt abzuweisen.
(...)
Die Klägerinnen merken an, es sei heute - 33 Jahre nach dem Entscheid C 509/86 vom 28. April 1987, in: Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung (ZWR) 1989 S. 294, in welchem sich das Bundesgericht letztmals mit der Anrechnung von Erträgen aus Anteilen am Nachlass der verstorbenen Person auseinandergesetzt habe - an der Zeit, diese Rechtsfrage erneut zu beurteilen, zumal die aktuelle Lehre mehrheitlich gegen eine Anrechnung sei und das Bundesgericht sich im früheren BGE 62 II 55 S. 58 noch gegen die Anrechenbarkeit von Vermögenserträgen ausgesprochen habe. Sie beantragen eine Änderung der Rechtsprechung.
Sowohl die vertieften Überlegungen der Vorinstanz wie das Schrifttum (vgl. MARC HÜRZELER, Versorgungsschaden: Vermögensbildung und Anrechnung güter- und erbrechtlicher Zuwendungen?[nachfolgend: Versorgungsschaden], HAVE 2019 S. 291) lassen erkennen, dass sich die Schwierigkeiten der Abgrenzung aus den dogmatisch unklaren Begriffen des Vorteils einerseits und der Versorgungsleistung andererseits ergeben.
Kongruenz bedeutet, dass ein Vorteil nur anrechenbar ist, wenn er sich auf einen Schadenposten bezieht, bei dem der Vorteil eingetreten ist. Das Bundesgericht verlangte in BGE 112 Ib 322 in diesem Sinn, es müsse zwischen dem Vorteil und dem schädigenden Ereignis ein "innere[r] Zusammenhang bestehen, ähnlich der adäquaten Kausalität". Dabei könnten allerdings auch Billigkeitsüberlegungen einbezogen werden. Im konkreten Fall bestätigte es, ersparte Unterhaltskosten für ein Kind könnten zwar beim Versorgerschaden angerechnet werden, nicht jedoch beim eingeklagten Ersatz für Bestattungskosten ( BGE 112 Ib 322 E. 5). Dies ist ohne Weiteres einsichtig, handelt es sich doch bei Bestattungskosten um einen Schadenposten, der in keinem Zusammenhang zum Unterhalt und damit auch nicht zum eingesparten Unterhalt steht. In BGE 136 III 113 wurde die Berufung auf die Vorteilsanrechnung als "an der Sache vorbei[gehend]" bezeichnet; zwischen dem (im Rahmen der Haftung eines Beirats für die Vermögensverwaltung) eingeklagten Schaden aus Verlust des Wertschriftenvermögens einerseits, und den mit Baulandgrundstücken erwirtschafteten Gewinnen andererseits, bestehe keine "Konnexität" ( BGE 136 III 113 E. 3.1.1). Hier handelte es sich in der Tat nicht um eine Frage der Vorteilsanrechnung. Sowohl die Argumentation der Vorinstanz wie jene der Klägerinnen beruht darauf, dass die Anrechnung eines Vermögensertrags unzulässig ist, wenn nicht gleichzeitig der Ausfall des künftigen Vermögensaufbaus als Versorgungsschaden anerkannt wird. Ist aber anerkannt, wie hiervor in E. 10.5.2 dargelegt, dass der Begriff des Versorgungsschadens nicht so weit geht, eine solche künftig entgehende Vermögensbildung einzubeziehen, dann ist es auch zulässig, den vorzeitigen Anfall der Erbschaft bzw. die Möglichkeit, damit Vermögenserträge zu erwirtschaften, als Vorteil anzurechnen. Um eine Frage der Kongruenz handelt es sich dabei nicht.
Die Voraussetzungen für eine Änderung der Rechtsprechung sind daher nicht erfüllt. Die Vermögenserträge aus dem Vermögenszufluss von Fr. 2'748'727.- für den Witwer (vgl. aber E. 10.7 hiernach) und von je Fr. 504'587.- für die beiden Söhne sind anzurechnen. Aus den obigen Ausführungen (vgl. E. 10.5.1 in fine) folgt gleichzeitig, dass entgegen der Beklagten (Verfahren 4A_415/2020) die Erträge auf jenem Vermögen, das bereits vor dem Ableben der Versorgerin im Eigentum des Witwers stand, nicht anzurechnen sind.
(...)
Die Klägerinnen halten selbst fest, die Vorinstanz habe nirgends explizit festgestellt, bei der streitgegenständlichen Lebensversicherungspolice der Säule 3b handle es sich um eine Summenversicherung. Ihnen ist jedoch zuzustimmen, dass die Vorinstanz offensichtlich von einer solchen ausging, da sie die Frage diskutierte, ob gestützt auf Art. 96 VVG auf die Anrechnung von Erträgen aus der Lebensversicherung verzichtet werden könnte. Die Beklagte rügt die fehlende Begründung nicht. Darauf ist somit nicht weiter einzugehen und mit der Vorinstanz von einer Summenversicherung auszugehen, was auch - wie erwähnt (E. 10.7.2) - der Regel entspricht.
Nach anderer Auffassung ist die Anrechnung ausgeschlossen, jedoch nicht aufgrund von Art. 96 VVG, sondern weil im Sinn der hiervor dargelegten Überlegungen zu den Erträgen aus zugeflossenem Vermögen grundsätzlich keine Anrechnung von Erträgen darauf erfolgen soll. Ebenso wie die getötete Person weiterhin Ersparnisse gebildet hätte, hätte sie auch weiterhin Versicherungsprämien bezahlt und die Erträge aus dem Versicherungskapital wären den versorgten Personen nicht zur Verfügung gestanden (HÜRZELER, System, a.a.O., S. 251).
Ein weiterer Teil der Lehre nimmt an, aus Art. 96 VVG folge, dass als Summenversicherung ausgestaltete Lebensversicherungen nicht der Vorteilsausgleichung unterworfen seien (MERZ, a.a.O., S. 210), womit auch die Anrechnung von darauf zu erzielenden Vermögenserträgen als Vorteil wegfällt. Der - namentlich von BREHM geäusserten - Auffassung, wonach es den Gesetzgeber bei der Schaffung von Art. 96 VVG nicht interessiert habe, was mit den Zinsen auf ausbezahltem Versicherungskapital geschehe, sei entgegenzuhalten, dass Sinn und Zweck des Privilegs von Art. 96 VVG gerade darin bestehe, durch Spar- und Risikoprämien finanzierte Summenversicherungen vom "Zugriff" des Haftpflichtigen zu schützen, weshalb auch die Anrechnung der Erträge von Art. 96 VVG erfasst werde (LANDOLT, Zürcher Kommentar, 2007, N. 381 f. zu Art. 45 OR; im Ergebnis gl.M. STEHLE, Versorgungsschaden, a.a.O., Rz. 759 ff.; STEIN, a.a.O., S. 285 f.; WEBER/SCHAETZLE/DOLF, a.a.O., Rz. 9.190).
Des Weiteren ist Folgendes zu beachten: Wird ein Versicherungsanspruch - wie in casu - nicht zu Lebzeiten zugunsten eines Dritten begründet, bildet die Versicherungsleistung Teil der Erbschaft (Art. 476 ZGB). Deshalb ist es folgerichtig, den Ertrag aus diesem Teil der Erbschaft genauso zu berücksichtigen wie den Ertrag aus der übrigen Erbschaft. Sowohl die Erbschaft wie die auf den Todesfall ausbezahlte Summenversicherung beruhen auf einem besonderen Rechtsgrund, werden aber beide infolge des Todes ausgerichtet und stehen beide in einem inneren Zusammenhang mit dem Wegfall des Versorgers. Es wäre inkonsequent, könnten Erträge aus Erbschaft angerechnet werden, solche aus dem Kapital einer Summenversicherung jedoch nicht. Demzufolge ist der Vorinstanz zu folgen und die Beschwerde auch in diesem Punkt abzuweisen.