BGE 81 IV 13 |
2. Urteil des Kassationshofes vom 29. März 1955 i.S. Statthalteramt Winterthur gegen Neuhäusler. |
Regeste |
Art. 31 Abs. 1 StGB. |
Sachverhalt |
A.- Am 2. Juli 1954 beantragte Erwin Deiss bei der Kantonspolizei in Winterthur, Bernhard Neuhäusler sei wegen Tätlichkeiten zu bestrafen, weil er am betreffenden Tage mit dem Schuh gegen den Antragsteller geschlagen und ihn ins Gesicht getroffen habe. Nachdem die Polizei Neuhäusler angehört und dem Statthalteramt Winterthur Bericht erstattet hatte, verfällte dieses den Beschuldigten am 25. August 1954 in Anwendung des Art. 126 StGB in eine Busse von Fr. 70.-. Neuhäusler verlangte gerichtliche Beurteilung. Am 25. Oktober 1954 fand vor dem Einzelrichter des Bezirksgerichtes Winterthur die Hauptverhandlung statt. Da Neuhäusler sich am 29. Oktober 1954 mit Deiss verglich und letzterer den Strafantrag zurückzog, schrieb der Einzelrichter am 30. Oktober 1954 den Prozess als erledigt ab.
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B.- Das Statthalteramt Winterthur führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, die Verfügung des Einzelrichters sei aufzuheben und die Strafverfügung des Statthalteramtes zu bestätigen, eventuell die Sache zum Entscheid über den Bestand dieser Strafverfügung an den Einzelrichter zurückzuweisen.
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Zur Begründung wird geltend gemacht, die Strafverfügung des Statthalteramtes sei Urteil erster Instanz im Sinne des Art. 31 StGB, weshalb nach Verkündung dieser Verfügung der Strafantrag nicht mehr habe zurückgezogen werden können.
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C.- Neuhäusler und der Einzelrichter beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen. Sie machen geltend, nach § 346 zürch. StPO sei ein Rekurs gegen Bussenverfügungen der Polizeibehörden nicht zulässig, dagegen könne der Gebüsste binnen zehn Tagen, von der Eröffnung des Entscheides an gerechnet, gerichtliche Beurteilung der Sache verlangen. In diesem Begehren liege nicht die Ergreifung eines Rechtsmittels, vielmehr enthalte es lediglich das Verlangen, das administrative durch das gerichtliche Verfahren zu ersetzen. Daher stünden die Gerichte der Bussenverfügung unabhängig gegenüber. Die Polizeiverfügung trete an die Stelle der Anklageschrift. Demzufolge amte der Einzelrichter als erst- und letztinstanzlich urteilende Gerichtsinstanz. Er sei deshalb befugt gewesen, den Rückzug des Strafantrages entgegenzunehmen und den Prozess als erledigt abzuschreiben.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: |
Urteil im Sinne dieser Bestimmung ist jeder Entscheid der zuständigen Behörde, der verbindlich darüber erkennt, ob der Beschuldigte sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, und der gegebenenfalls die Rechtsfolgen bestimmt, die diese Handlung nach sich zieht (BGE 78 IV 151). Wenn die Kantone, wie in Übertretungssachen (Art. 345 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) und im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche (Art. 84 ff., 91 ff. StGB), berechtigt sind, die Beurteilung einer Verwaltungsbehörde zu übertragen, ist nicht erforderlich, dass das Urteil von einem Richter ausgehe. Ebensowenig ist nötig, dass der Beurteilung eine mündliche Verhandlung vorausgegangen sei, an der der Berechtigte müsste Gelegenheit gehabt haben, den Strafantrag zurückzuziehen. Wie im erwähnten Präjudiz ferner ausgeführt wurde, kann auch ein Entscheid, der nur unter der Voraussetzung Recht schafft, dass die Parteien sich ihm unterziehen oder dass er von keiner Seite durch Appellation, Einsprache und dergleichen angefochten wird, Urteil sein; denn indem Art. 31 Abs. 1 StGB von einem Urteil erster Instanz spricht, ist die Bestimmung insbesondere gerade für jene Fälle aufgestellt worden, in denen der Entscheid angefochten wird und das Verfahren vor einer oberen Instanz weitergeht.
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2. Nach dieser Rechtsprechung, deren Erwägungen durch die Ausführungen des Beschwerdegegners und des Einzelrichters nicht erschüttert werden, liegt in der Strafverfügung des Statthalteramtes Winterthur vom 25. August 1954 das Urteil erster Instanz. Eine Tätlichkeit, wie der Beschwerdeführer sie begangen haben soll, ist wahlweise mit Haft und Busse bedroht (Art. 126 StGB), also eine Übertretung (Art. 101 StGB), und konnte daher von Bundesrechts wegen von einer Verwaltungsbehörde sogut wie von einem Richter beurteilt werden. Dass das Statthalteramt tatsächlich als urteilende, nicht etwa bloss als eine untersuchende und das Urteilsverfahren vorbereitende Instanz geamtet hat, ergibt sich aus § 334 zürch. StPO, wonach es die daselbst bezeichneten Übertretungen "untersucht und beurteilt". Dass es den Beschwerdegegner, der schon vor der Polizei zu Worte gekommen war, nicht nochmals verhört hat, ist unerheblich. Der Begriff des Urteils setzt nicht voraus, dass der Richter oder die entscheidende Verwaltungsbehörde den Beschuldigten einvernommen habe, genügt doch sogar unter dem Gesichtspunkt des Art. 4 BV (Anspruch auf rechtliches Gehör), dass der Verurteilte in irgend einer Form, sei es auch bloss in einem Ermittlungsverfahren vor der Polizei oder erst im Rechtsmittelverfahren, zu Worte gekommen sei (BGE 46 I 327). Der Entscheid des Statthalteramtes wäre denn auch in Rechtskraft erwachsen, wenn der Beschwerdegegner die Sache nicht durch Einsprache an den Einzelrichter des Bezirksgerichtes weitergezogen hätte. Zwar hätte gemäss § 354 StPO die Oberbehörde ihn noch binnen drei Monaten vom Tage der Ausfällung an wegen offenbarer Gesetzesverletzung aufheben können. Das heisst aber nicht, dass er ohne Überprüfung und Genehmigung durch die Oberbehörde nicht habe formell und materiell rechtskräftig werden können. Die Mitwirkung der Oberbehörde ist nicht notwendig, sondern deren Befugnis erschöpft sich darin, binnen drei Monaten den vom Statthalteramt allein gefällten Entscheid unter bestimmten Voraussetzungen von Amtes wegen unverbindlich zu erklären und gemäss § 355 StPO durch einen eigenen Entscheid zu ersetzen. Unerheblich ist auch, dass der Einzelrichter des Bezirksgerichtes hinsichtlich des Strafmasses nicht an die Strafverfügung des Statthalteramtes gebunden ist (§ 361 Abs. 1 StPO); ein Entscheid kann auch dann Urteil sein, wenn die vom Verurteilten angerufene obere Instanz ihn zu Ungunsten- des letztern abändern darf.
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Der Rückzug des Strafantrages war daher im Verfahren vor dem Einzelrichter nicht mehr zulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Entscheid des Statthalteramtes zu bestätigen sei, sondern lediglich, dass das gerichtliche Verfahren vor dem Einzelrichter fortgesetzt werden muss.
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