10. Urteil des Kassationshofes vom 25. März 1955 i.S. Polizeirichteramt der Stadt Zürich gegen Wüger und Lanker.
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Regeste
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Art. 65 Abs. 4 MFG bestimmt nicht, dass die mildere Strafbestimmung des MFG nicht angewendet werden dürfe, wenn der objektive Tatbestand der strengeren Norm erfüllt ist, diese aber mangels der subjektiven Voraussetzungen nicht angewendet werden kann.
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Sachverhalt
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A.- Am Nachmittag des 18. Juli 1953 fuhr Hans Wüger mit einem Personenwagen durch die Hohlstrasse in Zürich stadtauswärts. Als er sich der von rechts einmündenden Zufahrtstrasse zum Güterbahnhof Altstetten näherte, tauchte von dort her ein von Hans Lanker geführter Lastwagen auf. Da Lanker etwas weit in die Hohlstrasse hineinfuhr, ehe er anhielt, um dem Personenwagen den Vortritt zu lassen, bremste Wüger heftig. Der Personenwagen glitt deshalb auf der nassen Fahrbahn nach links, verletzte die auf einem Fahrrad stadteinwärts fahrende Frieda Steiner und prallte an einen Baum.
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B.- Am 10. November 1953 stellte die Bezirksanwaltschaft Zürich die gegen Wüger und Lanker geführte Strafuntersuchung ein, weil, soweit fahrlässige Körperverletzung in Frage komme, Frieda Steiner auf einen Strafantrag verzichtet habe, und weil die wegen Störung des öffentlichen Verkehrs von Amtes wegen angehobene Untersuchung keinen zuverlässigen Beweis für ein strafrechtlich erhebliches Verschulden der beiden Angeschuldigten ergeben habe. In den Erwägungen führte die Bezirksanwaltschaft aus, die Akten seien dem Polizeirichteramt Zürich zu überweisen zur Prüfung, ob das Bundesgesetz über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr übertreten worden sei.
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Am 21. November 1953 genehmigte die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich die Verfügung.
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C.- Am 18. Januar 1954 büsste der Polizeirichter der Stadt Zürich Wüger und Lanker wegen Übertretung des Art. 25 MFG mit je Fr. 20.-. Er warf ersterem vor, er sei zu schnell gefahren und habe deshalb sein Fahrzeug nicht beherrscht, letzterem dagegen, er habe es an der nötigen Vorsicht fehlen lassen.
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Wüger und Lanker verlangten gerichtliche Beurteilung. D. - Der Einzelrichter des Bezirksgerichtes Zürich sprach am 23. September 1954 beide frei. Er liess offen, ob der Grundsatz "ne bis in idem" es ausschliesse, dass ein bestimmter Tatbestand, der unter dem Gesichtspunkt des Vergehens beurteilt wurde, in einem zweiten Verfahren noch als Übertretung beurteilt werden dürfe. Er begründete die Freisprechung damit, dass die Bestätigung der Bussenverfügungen des Polizeirichters gegen materielles Recht verstossen würde. Durch die rechtskräftig gewordene Einstellungsverfügung der Bezirksanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft sei verbindlich festgestellt, dass die objektiven Voraussetzungen gegeben gewesen seien, um auf die Fahrweise der beiden Angeschuldigten Art. 237 StGB anzuwenden. Seien diese der Strafe entgangen, weil ein strafrechtlich erhebliches Verschulden verneint worden sei, so ändere das nichts daran, dass damit die heute den Angeschuldigten vorgeworfenen Übertretungen gemäss Art. 65 Abs. 4 MFG absorbiert blieben und das MFG gesondert nicht mehr angewendet werden könne.
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E.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des Einzelrichters sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung und zur Bestrafung der Angeschuldigten im Sinne der Bussenverfügung zurückzuweisen.
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F.- Wüger und Lanker beantragen, die Nichtigkeitsbeschwerde sei abzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung:
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Art. 65 Abs. 4 MFG bestimmt: "Erfüllt eine der in diesem Titel genannten Handlungen einen Tatbestand, für den die eidgenössische oder kantonale Gesetzgebung eine schwerere Strafe vorsieht, so wird dieses angewendet".
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Darnach darf, wenn ein und dieselbe Tat sowohl eine Bestimmung des Motorfahrzeuggesetzes als auch eine schwerere andere Strafbestimmung erfüllt, nur die letztere angewendet werden (BGE 71 IV 98, BGE 76 IV 175). Die beiden Bestimmungen konkurrieren unecht: die Bestrafung nach der schwereren schliesst die Anwendung der leichteren aus. Mehr sagt Art. 65 Abs. 4 MFG nicht. Insbesondere bestimmt er nicht, dass in Fällen, in denen der objektive Tatbestand der die schwerere Strafe androhenden Norm erfüllt ist, diese aber mangels der subjektiven Voraussetzungen nicht angewendet werden kann, auch die zutreffende Strafbestimmung des Motorfahrzeuggesetzes nicht angewendet werden dürfe. Dabei macht es keinen Unterschied aus, ob der Richter, der nach kantonalem Prozessrecht zur Anwendung des Motorfahrzeuggesetzes zuständig ist, selber zu beurteilen hat, ob die Voraussetzungen der schwereren Strafbestimmung erfüllt seien, oder ob hierüber ein anderer Richter entschieden hat. Das Motorfahrzeuggesetz verlangt, dass seine Strafbestimmungen immer dann, wenn sie zutreffen, angewendet werden, ausgenommen, wenn der Beschuldigte nach einer schwereren anderen Bestimmung zu Strafe verurteilt wird. Das hat der Einzelrichter verkannt. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zurückzuweisen, damit er beurteile, ob die Beschwerdegegner Art. 25 MFG, wie ihnen das Polizeirichteramt vorwirft, objektiv und subjektiv übertreten haben, und sie gegebenenfalls bestrafe.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich vom 23. September 1954 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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