BGE 84 IV 32 |
12. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. März 1958 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen Kunz. |
Regeste |
Art. 27 Abs. 1 MFG. |
Sachverhalt |
A.- Kunz fuhr am 24. Juli 1956 mit einem Personenauto auf der Durchgangsstrasse Basel-Delsberg Richtung Laufen. Nach dem Dorfkern von Grellingen, aber noch innerorts, führt die über zehn Meter breite, eine weite Rechtskurve beschreibende Strasse auf der rechten Seite einem mit vereinzelten Einfamilienhäusern überbauten Hang entlang, den eine 1,7-1,8 m hohe Stützmauer gegen das Trottoir abgrenzt. Nach dem Haus Crelier mündet in einer Maueröffnung der 2,2 m breite sog. Birsblickweg ein, der in den untersten zehn Metern asphaltiert, im übrigen beschottert ist und steil, teils durch ein Wäldchen, zu einem alleinstehenden Mehrfamilienhaus hinaufführt. Als sich Kunz bis auf 21 m der unübersichtlichen Einmündung genähert hatte, fuhr ein Knabe auf einem Fahrrad in rascher Fahrt durch die Maueröffnung auf die Strasse hinaus. Er wurde durch den unvermeidlichen Zusammenstoss so schwer verletzt, dass er drei Tage später starb.
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B.- Das Amtsgericht Laufen und das Obergericht des Kantons Bern, dieses am 16. September 1957, sprachen Kunz von den Anschuldigungen der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs frei. Das Obergericht nahm an, dass der Radfahrer nicht vortrittsberechtigt gewesen sei, weil der Birsblickweg, gemessen an seiner Verkehrsbedeutung, rechtlich wie ein Feld- oder Karrenweg zu behandeln sei, dessen Einmündung daher keine Strassengabelung oder -kreuzung im Sinne des Art. 27 Abs. 1 MFG darstelle.
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C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern macht mit der Nichtigkeitsbeschwerde unter anderem geltend, Kunz habe das Vortrittsrecht des Radfahrers verletzt.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: |
1. Art. 27 Abs. 1 MFG verpflichtet den Motorfahrzeugführer, bei Strassengabelungen und -kreuzungen, denen Strasseneinmündungen gleichgestellt sind (vgl. BGE 81 IV 251, BGE 82 IV 24), die Geschwindigkeit seines Fahrzeuges zu mässigen und einem gleichzeitig von rechts kommenden Motorfahrzeug - und nach Art. 30 MFG auch einem Fahrrad - den Vortritt zu lassen. Nicht als Kreuzung (Einmündung) im Sinne dieser Bestimmung - wie auch des Art. 26 Abs. 3 MFG - gilt nach ständiger Rechtsprechung die Abzweigung von Privatstrassen (Zufahrtswege zu Garagen und Liegenschaften, Hausvorplätze) und blossen Feldwegen (BGE 64 I 351, BGE 64 II 318, BGE 76 IV 58, BGE 78 IV 183, BGE 83 IV 165 sowie das Urteil des Kassationshofes vom 24. Juni 1955 i.S. Rietschi). Einen Unterschied, ob der Feldweg auch der Allgemeinheit zugänglich sei, macht die Rechtsprechung dabei nicht. Die Einmündung von Privatstrassen und Feldwegen wird von den Regeln der Art. 26 Abs. 3 und 27 Abs. 1 MFG ausgenommen, damit der Verkehr auf den öffentlichen Strassen nicht durch Abzweigungen behindert werde, die für den Motorfahrzeugverkehr praktisch keine oder nur sehr geringe Bedeutung haben.
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Daraus ergibt sich, dass die Einmündung eines Weges nicht notwendig schon deswegen unter Art. 26 Abs. 3 und Art. 27 Abs. 1 fällt, weil er im Sinne des Art. 1 Abs. 1 MFG ein öffentlicher ist. Ein von Motorfahrzeugen befahrbarer Weg kann, trotzdem er öffentlichen Charakter hat, für den Motorfahrzeugverkehr ohne massgebliche Bedeutung sein. Mit der Feststellung, dass der Birsblickweg dem Gemeingebrauch dient, ist daher entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers noch nicht entschieden, ob die Stelle, wo er mit der Hauptverkehrsstrasse zusammentrifft, eine Kreuzung im Sinne des Art. 27 Abs. 1 MFG sei.
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2. Die ursprüngliche Natur des früher über unbesiedeltes Gebiet führenden Weges hat sich insofern gewandelt, als ihm seit dem Bau des Mehrfamilienhauses Birsblick vorwiegend die Aufgabe zukommt, dem Fussgänger- und Fahrzeugverkehr von und zu dieser Wohnsiedlung zu dienen. Trotz der veränderten Verhältnisse den Weg immer noch als blossen Feldweg zu bezeichnen, der in Wirklichkeit die Merkmale eines Quartiersträsschens trägt, ginge zu weit. Anderseits steht fest, dass das nicht für den durchgehenden Verkehr bestimmte Strässchen wegen seines sehr geringen Verkehrs im Verhältnis zur Durchgangsstrasse praktisch ohne Bedeutung ist und dass die Abzweigung auch nach dem äussern Erscheinungsbild, das sie dem Benützer der Durchgangsstrasse darbietet, als bedeutungslos eingeschätzt werden darf. Denn nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz erscheint der auf 50 m sichtbare Mauerdurchbruch zunächst als Garage- oder Hauseinfahrt, und erst auf eine Distanz von ca. 20 m wird erkennbar, dass dort überhaupt ein Weg einmündet. Auf seine geringe Verkehrsbedeutung lässt ausserdem die Gestaltung des Trottoirs schliessen, das durchgezogen ist und auf der Höhe der Ausfahrt lediglich einen vertieften Randstein hat.
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Dem auf einer grossen Durchgangsstrasse verkehrenden Motorfahrzeugführer kann auch innerorts nicht zugemutet werden, vor jedem Seitensträsschen oder Gässchen, das nach Anlage und Grössenordnung offensichtlich nicht für den durchgehenden Verkehr bestimmt und im Verhältnis zur Durchgangsstrasse ohne Verkehrsbedeutung ist, die gleiche Vorsicht walten zu lassen wie vor einmündenden Strassen mit Durchgangsverkehr, wo zum vornherein mit dem Einbiegen von Fahrzeugen gerechnet werden muss (STREBEL, Kommentar, N. 5 zu Art. 27 MFG). Müsste er innerorts überall, sogar auf den in Aussenquartieren oft anzutreffenden Strassen mit mehr als zwei Fahrbahnen vor jedem untergeordneten Seitensträsschen, das von rechts einmündet, die Geschwindigkeit so stark herabsetzen, dass er einem dort allenfalls Einbiegenden den Vortritt lassen kann, so würde dadurch die Abwicklung des auf Flüssigkeit angewiesenen dichten Durchgangsverkehrs in einem nicht zu rechtfertigenden Ausmass beeinträchtigt. Tatsächlich fällt keinem vernünftigen Automobilisten ein, beim Einbiegen aus einem bedeutungslosen Strässchen gegenüber den auf der Hauptverkehrsstrasse Fahrenden den Vortritt zu beanspruchen, wie umgekehrt diese mit einem solchen Verhalten rechnen. Dem ist rechtlich dadurch Rechnung zu tragen, dass solchen Einmündungen die Eigenschaft einer Strassenkreuzung im Sinne des Art. 27 Abs. 1 MFG nicht zuerkannt wird. Diese Ordnung ist überdies im Interesse der Verkehrssicherheit geboten, wenn man bedenkt, dass der grösste Teil der am Durchgangsverkehr Beteiligten ortsunkundig ist und dass die Abzweigung der nicht für den durchgehenden Verkehr bestimmten Wege und Strässchen häufig an unübersichtlichen Stellen liegt.
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