BGE 84 IV 54
 
18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. Mai 1958 i.S. Meier gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau.
 
Regeste
Art. 26 Abs. 3 MFG.
 
Sachverhalt
A.- Loreliese Meier führte am Abend des 17. Oktober 1956 bei Nacht und Nebel einen Personenwagen auf der 6,1 m breiten Hauptstrasse von Diessenhofen nach Schaffhausen. Als sie ausserhalb von Diessenhofen auf gerader Strecke mit ca. 40 km/Std. einen am rechten Strassenrand stehenden Personenwagen zu überholen begonnen und die Höhe der Hinterräder dieses Fahrzeugs erreicht hatte, stiess sie mit einem entgegenkommenden Motorrad zusammen, dessen Führer mit ca. 50 km/Std. der Leitlinie entlang gefahren und nicht nach rechts ausgewichen war, obschon ihm ein rund 2,5 m breiter Streifen zur Verfügung stand. Loreliese Meier will den abgeblendeten Scheinwerfer des Motorrades erst im letzten Augenblick wahrgenommen haben, während Gruber, der angetrunken war, seine ganze Aufmersamkeit auf die Leitlinie gerichtet und deshalb den vorfahrenden Personenwagen nicht gesehen hatte. Beide Fahrzeugführer und der Mitfahrer des Motorradfahrers wurden verletzt.
B.- Das Bezirksgericht Diessenhofen sprach Loreliese Meier von Schuld und Strafe frei. Den Angeklagten Gruber verurteilte es in Anwendung von Art. 125, 237 Ziff. 2 StGB und Art. 59 Abs. 2 MFG zu drei Wochen Gefängnis und zu einer Busse von Fr. 100.--.
Auf Appellation der Staatsanwaltschaft erklärte das Obergericht des Kantons Thurgau am 23. Januar 1958 auch die Angeklagte Meier der fahrlässigen schweren Körperverletzung und der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 150.--. Es wirft ihr Verletzung der Art. 26 Abs. 3 MFG und Art. 46 MFV vor, indem sie überholt habe, trotzdem die Sicht durch den Nebel stark behindert gewesen sei.
C.- Loreliese Meier führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, sie sei freizusprechen. Sie macht geltend, das Überholen sei zulässig gewesen; sie habe den Motorradfahrer, der seinen Scheinwerfer abgeschirmt habe, erst erblicken können, als ihr Fahrzeug bereits auf der Höhe der Hinterräder des parkierten Wagens angelangt sei.
D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Die Auffassung der Staatsanwaltschaft und des Obergerichts, dass die Beschwerdeführerin wegen der durch den Nebel beeinträchtigten Sicht überhaupt nicht hätte überholen dürfen, sondern dass sie verpflichtet gewesen wäre, den Führer des stillstehenden Wagens zur Weiterfahrt aufzufordern, ist nicht haltbar. Ob eine unter normalen Umständen übersichtliche Strecke durch Nebel oder ähnliche atmosphärische Einflüsse zur unübersichtlichen Stelle im Sinne des Art. 26 Abs. 3 MFG bzw. des gleichlautenden Art. 46 Abs. 3 MFV werde oder ob unter diesem Begriff nur unübersichtliche örtliche Verhältnisse zu verstehen seien, wie STREBEL (N. 26 zu Art. 26 MFG) annimmt, kann dahingestellt bleiben. Das Überholen eines in zulässiger Weise am rechten Strassenrand stationierten Fahrzeuges muss im Interesse des Verkehrs in jedem Fall grundsätzlich gestattet sein, auch wenn Nebel die Sicht beschränkt. Müsste in solchen Verhältnissen immer und überall angehalten und das Freiwerden der rechten Strassenhälfte abgewartet werden, sooft zum Überholen die linke Strassenhälfte in Anspruch genommen werden muss, so würde der Ablauf des Verkehrs unnötig erschwert, ja in vielen Fällen geradezu verunmöglicht, insbesondere, wenn der Führer des stillstehenden Wagens nicht zur Stelle ist oder aus irgendeinem Grund sein Fahrzeug nicht in Bewegung setzen kann. Unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung entgegenkommender Fahrzeuge ist es auch nicht das Gleiche, ob auf gerader Strecke bei Nebel oder ob an einer durch die örtlichen Verhältnisse unübersichtlichen Stelle, wie z.B. vor einer Biegung, überholt wird. Im ersten Fall wirkt sich der Nebel auf die Sicht aller Verkehrsteilnehmer in gleicher Weise nachteilig aus, und es darf unter solchen Umständen vorausgesetzt werden, dass jeder Motorfahrzeugführer seine Geschwindigkeit der beschränkten Sichtweite pflichtgemäss anpasse, damit er auf kurze Distanz anhalten kann, während im zweiten Fall der Überholende mit dem plötzlichen Auftauchen rasch fahrender Fahrzeuge rechnen muss.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Freisprechung der Beschwerdeführerin an die Vorinstanz zurückgewiesen.