BGE 84 IV 107
 
32. Urteil des Kassationshofes vom 1. September 1958 i.S. Imboden gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
 
Regeste
Art. 25 Abs. 1, Art. 27 Abs. 1 MFG.
Wird es von diesem verletzt, so ist nicht Art. 27 Abs. 1, sondern Art. 25 Abs. 1 anwendbar.
 
Sachverhalt
A.- Am 6. Juli 1957 wollte Imboden, der ein Motorrad führte, ausserhalb Busslingen/AG von einem Privatweg nach links in die 5,5 m breite Strasse Baden-Bremgarten einbiegen. Beim Halt vor der Einmündung sah er einen VW-Bus von rechts herankommen, der eine Geschwindigkeit von 70-80 km/Std. hatte. In der Annahme, dieses Fahrzeug werde auf der rechten Strassenseite hinter einem etwa 50-70 m vor der Einmündung stationierten Personenwagen anhalten, setzte er sein Motorrad in Bewegung, um in die Strasse hinauszufahren, als er bemerkte, dass der VW-Bus am stationierten Wagen vorbeifuhr. Imboden liess davon ab, die Strasse zu überqueren, und hielt sich an den linken Strassenrand, um die Fahrbahn freizugeben. Der Führer des VW-Bus, Gartmann, hatte seinerseits beim Auftauchen des Motorrades gebremst und, um einen Zusammenstoss zu vermeiden, gleichzeitig nach rechts gesteuert. Sein Wagen geriet über den Strassenrand und überschlug sich auf der Wiese; Gartmann wurde dabei verletzt.
B.- Das Bezirksgericht Baden verurteilte Imboden am 12. Dezember 1957 wegen Widerhandlung gegen Art. 27 Abs. 1 MFG zu einer Busse von Fr. 20.-.
Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Beschwerde, die der Verurteilte gegen dieses Urteil einreichte, am 4. Juli 1958 ab. Es fand, Imboden hätte, da er links fuhr, richtigerweise auch noch wegen Übertretung von Art. 26 Abs. 1 MFG bestraft werden müssen, und er sei vom Bezirksgericht zu Unrecht von der Anschuldigung der Störung des öffentlichen Verkehrs freigesprochen worden.
C.- Imboden führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei freizusprechen. Er macht geltend, Art. 27 Abs. 1 MFG sei nicht anwendbar, weil eine Strassenkreuzung im Sinne dieser Bestimmung beim Zusammentreffen einer öffentlichen Strasse mit einem Privatweg nicht vorliege und hier zudem das Vortrittsrecht nicht missachtet worden sei, indem er bloss einen Teil der linken Strassenhälfte in Anspruch genommen habe.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Nach ständiger Rechtsprechung gilt die Stelle, wo sich eine Privatstrasse mit einer öffentlichen Strasse vereinigt, nicht als Strassengabelung oder -kreuzung im Sinne des Art. 27 Abs. 1 MFG (BGE 84 IV 34 und dort erwähnte Entscheidungen). Diese Bestimmung, die nur den Verkehr beim Zusammentreffen öffentlicher Strassen regelt, ist daher im vorliegenden Fall, wo der einmündende Weg ein privater ist, nicht anwendbar. Das bedeutet aber nicht, dass der auf der öffentlichen Strasse Fahrende gegenüber dem aus einer Privatstrasse Kommenden nicht vortrittsberechtigt sei; er hat im Gegenteil im Verhältnis zu diesem nicht bloss das Vorrecht im Sinne des Art. 27 MFG, sondern den absoluten Vortritt (BGE 64 I 352), gleich wie vor demjenigen, der z.B. aus einer Wiese, aus einer Garage oder von einem Abstellplatz in die öffentliche Strasse hinausfährt, unabhängig davon, ob der Einbiegende von rechts oder von links kommt.
Dieses absolute Vortrittsrecht stand Gartmann nicht nur auf seiner rechten Strassenhälfte, sondern auch beim Überholen des stationierten Personenwagens zu. Da die Einmündung des Privatweges sowenig eine Strassenkreuzung im Sinne des Art. 26 Abs. 3 MFG ist wie nach Art. 27 MFG, war das Überholen an dieser Stelle gestattet. Es war Sache des Beschwerdeführers, sich gewissenhaft davon zu überzeugen, ob die Strasse nach beiden Richtungen frei sei, bevor er sich in den Verkehr einzuschalten begann, und seine Pflicht, erst einzubiegen, wenn er sicher sein konnte, dass herannahende Fahrzeuge durch sein Unternehmen weder behindert noch gefährdet werden (BGE 64 I 353, 358; BGE 80 IV 132; BGE 83 IV 33).
Infolgedessen musste er zum mindesten mit der Möglichkeit, wenn nicht mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, dass Gartmann das stillstehende Fahrzeug überholen und einige Sekunden später an der Abzweigung des Privatweges eintreffen werde. Es war in hohem Masse unvorsichtig, trotzdem in die Strasse einzubiegen, statt pflichtgemäss den Sicherheitshalt zu verlängern, bis die Lage geklärt war. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer nach begonnenem Einbiegen die Fahrbahn durch Linksausweichen wieder freigab und dass deshalb das brüske Ausweichen Gartmanns nach rechts, nachträglich gesehen, nicht notwendig gewesen wäre, um einen Zusammenstoss zu vermeiden.
3. Gartmann war nach der verbindlichen Feststellung des Obergerichtes dem Motorrad so nahe gekommen, dass er unmöglich noch rechtzeitig hätte anhalten können, und anderseits war für ihn nicht voraussehbar, dass der Beschwerdeführer die Strasse nicht ganz überqueren, sondern das eingeleitete Manöver abbrechen und an den linken Strassenrand ausweichen werde. Das unvorsichtige Einbiegen des Beschwerdeführers ist somit rechtserhebliche Ursache der Ausweichbewegung Gartmanns und damit auch der konkreten Gefährdung, der dieser ausgesetzt war. Der Beschwerdeführer hätte daher, wie die Vorinstanz mit Recht feststellt, richtigerweise nicht nur wegen Übertretung des MFG, sondern wegen Störung des öffentlichen Verkehrs nach Art. 237 Ziff. 2 StGB bestraft werden müssen. Mangels Beschwerde der Staatsanwaltschaft muss es jedoch bei der ausgesprochenen Strafe sein Bewenden haben; die Sache bloss zur Berichtigung der Urteilsgründe an das Obergericht zurückzuweisen, besteht kein Anlass (BGE 79 IV 90).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.