13. Urteil des Kassationshofes vom 25. März 1959 i.S. Tschannen gegen Generalprokurator des Kantons Bern.
|
Regeste
|
Art. 70 Abs. 2 MFV. Diese Bestimmung verpflichtet den Motorfahrzeugführer nicht, dafür zu sorgen, dass Radfahrer an seinem Fahrzeug nicht anhängen.
|
Sachverhalt
|
A.- Am 4. November 1957 gegen 17 Uhr führte Landwirt Tschannen einen Traktor mit angehängtem BrückenPneuwagen, der mit sieben Säcken Dünger im Gewicht von ca. 420 kg beladen war, auf der Strasse von Aarberg über Radelfingen Richtung Detligen. Bei der Käserei Radelfingen überholte er eine Gruppe von vier Sekundarschülern, die sich auf Fahrrädern auf dem Heimweg befanden und sich undiszipliniert benahmen. Nachdem ihm die Knaben beim Dorfausgang auf dem zur Salzbachbrücke abfallenden Strassenstück vorgefahren waren, überholte er sie ein zweites Mal nach der Brücke, wo die Strasse stark anzusteigen beginnt. Tschannen schaltete dort vom 4. in den 3. Gang zurück, warf hierauf einen Blick rückwärts, um sich zu vergewissern, ob der Anhänger nicht einen der Knaben streife, und fuhr dann, ohne nochmals zurückzuschauen, weiter. Unmittelbar darauf hängten der 13 Jahre alte Fritz Tiefenbach auf der rechten Seite und zwei weitere Knaben auf der Rückseite des Anhängers an, um auf den Fahrrädern sitzend sich die Steigung hinaufziehen zu lassen. Möglicherweise hatten zwei der Knaben schon vorher angehängt, im Augenblick, als der Traktorführer zurückblickte, aber wieder losgelassen. Kurz vor der Anhöhe, nach einer Strecke von ca. 650 m, verlor Tiefenbach, der sich mit der linken Hand am vordern Teil des Anhängers festhielt, das Gleichgewicht, als er ein Stück Schokolade aus seiner Tasche nahm, stürzte zwischen das rechte Vorder- und Hinterrad des Brückenwagens und zog sich dabei so schwere Verletzungen zu, dass er auf der Unfallstelle starb. Tschannen hatte nicht bemerkt, dass sich die Knaben nachziehen liessen, und wegen des starken Motorenlärms, den der Traktor verursachte, auch den Sturz des verunfallten Knaben nicht wahrgenommen.
|
B.- Das Amtsgericht Aarberg sprach Tschannen von der Anklage der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs frei.
|
Das Obergericht des Kantons Bern erklärte ihn dagegen auf Appellation der Staatsanwaltschaft des Seelandes am 7. November 1958 der eingeklagten Vergehen schuldig und verurteilte ihn zu zehn Tagen Gefängnis, bedingt vollziehbar, mit einer Probezeit von zwei Jahren. Das fahrlässige Verhalten erblickte es darin, dass Tschannen sich nicht gehörig nach beiden Seiten umgedreht habe, um sich zu vergewissern, ob nicht die Knaben am Fahrzeug angehängt hätten. Zu dieser Vorsichtsmassnahme sei er verpflichtet gewesen, weil er nach dem undisziplinierten Verhalten und auf Grund der ihm bekannten Gewohnheit der Knaben, sich auf dieser Steigung von Fuhrwerken nachziehen zu lassen, damit habe rechnen müssen, dass sie anzuhängen beabsichtigten. Er hätte deshalb schon zu Beginn der Steigung die sich in unmittelbarer Nähe befindlichen Knaben wegweisen und auf der Weiterfahrt wiederholt zurückschauen müssen, bis ihn ein genügender Vorsprung von den Knaben getrennt hätte. Zur gewissenhaften Beobachtung habe umso eher Veranlassung bestanden, als der starke Lärm des Motors seine Wahrnehmungsfähigkeit herabgesetzt habe und der Rückspiegel des Traktors verstellt und darum unbenützbar gewesen sei. Statt dessen habe er sich mit einem einmaligen und flüchtigen Blick nach rückwärts begnügt.
|
C.- Tschannen führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
|
D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern hat unter Hinweis auf die Erwägungen des angefochtenen Urteils auf Gegenbemerkungen verzichtet.
|
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
|
1. Das Verhalten und damit auch das Mass der Sorgfalt, das der Motorfahrzeugführer im öffentlichen Verkehr zu beachten hat, wird im allgemeinen durch die Verkehrsregeln des MFG und der zugehörigen MFV bestimmt. Eine Verletzung dieser Verkehrsvorschriften durch den Beschwerdeführer hat die Vorinstanz mit Recht verneint. Tschannen hat die Radfahrer gemäss Art. 26 Abs. 3 MFG und Art. 46 Abs. 3 MFV vorsichtig überholt und auf sie Rücksicht genommen, indem er beim Vorfahren nach rückwärts schaute, um sich zu vergewissern, dass der Anhänger des Traktors nicht einen der Knaben gefährde. Er war nicht auch noch verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Knaben die Vorschrift des Art. 70 Abs. 2 MFV befolgten, d.h. an seinem Fahrzeug nicht anhängten. Das Verbot, an Fuhrwerken und Motorfahrzeugen anzuhängen, ist nach der Überschrift zu Abschnitt IV lit. c der MFV eine für Radfahrer bestimmte Verkehrsvorschrift; das Gesetz schreibt nirgends vor, dass die Motorfahrzeugführer Vorsichtsmassnahmen zu treffen hätten, damit das Verbot von den Radfahrern eingehalten werde.
|
|
2. Das heisst aber nicht, dass jedes Verhalten im öffentlichen Verkehr als erlaubt gelte, wenn die Bestimmungen des MFG und der MFV es nicht ausdrücklich verbieten. Der Motorfahrzeugführer, der mit seinem Fahrzeug einen Unfall verursacht, kann z.B. der fahrlässigen Körperverletzung oder der fahrlässigen Tötung auch schuldig sein, wenn er ein Gebot der allgemeinen Vorsichtspflicht missachtet, vorausgesetzt, dass sein Verhalten nach den Regeln des MFG und der MFV nicht geradezu rechtmässig ist (BGE 78 IV 75).
|
Der Beschwerdeführer hat die ihm obliegende Sorgfaltspflicht nicht verletzt. Hätte er aus irgendeinem Grunde festgestellt, dass einer der Knaben am Brückenwagen anhängte, so wäre er verpflichtet gewesen, die zur Abwendung der Unfallgefahr erforderlichen Massnahmen zu treffen. Tschannen hat jedoch nicht gewusst, dass die Knaben sich nachziehen liessen, und bestimmte Anhaltspunkte, dass sie es tun werden, hatte er nicht. Der Umstand allein, dass sie sich auf dem Heimweg undiszipliniert benahmen und erfahrungsgemäss gerne anhängten, rückte die Gefahr des Anhängens nicht derart in die Nähe, dass er besondere Vorsichtsmassnahmen ergreifen musste. Der Beschwerdeführer durfte davon ausgehen, dass Knaben im Sekundarschulalter, die täglich mit dem Fahrrad zur Schule fahren, wissen, dass Anhängen an Fahrzeugen verboten ist. Tatsächlich war ihnen das Verbot bekannt, und sie wussten auch, dass Tschannen das Anhängen nicht duldete. Nachdem der Beschwerdeführer zu Beginn der Steigung nach rückwärts beobachtet und dabei keinen Knaben gesehen hatte, der sich am Anhänger festhielt, durfte er sich mit dieser Feststellung begnügen. Er war nicht verpflichtet, die Knaben zum voraus zu warnen oder wegzuweisen, denn gefährdet waren sie erst, als sie anhängten, und das taten sie nach den Feststellungen der Vorinstanz nicht, als Tschannen zurückblickte. Dass der Beschwerdeführer dabei den Knaben Tiefenbach, der sich rechts neben dem Anhänger befand, nicht gesehen hat, wahrscheinlich deshalb nicht, weil er den Kopf nach links drehte und seine Aufmerksamkeit der Rückseite des Brückenwagens zuwandte, kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Mit der Möglichkeit, dass sich ein Knabe im vordern Teil der rechten Längsseite des Brückenwagens, an einer völlig ungewöhnlichen Stelle, anhängen könnte, brauchte er nicht zu rechnen. Auch konnte von ihm nicht verlangt werden, dass er während der Fahrt den Brückenwagen nach allen Seiten einer genauen Kontrolle unterziehe, wie denn auch die Forderung, dass er sich wiederholt hätte zurückwenden müssen, um sich zu vergewissern, ob die Knaben nicht doch noch angehängt hätten, die Grenzen des Zumutbaren übersteigt. Der Beschwerdeführer war in erster Linie verpflichtet, sein Augenmerk auf die Führung. des Traktors und die Beobachtung des vor ihm liegenden Strassenstückes zu richten, das eine langgezogene Kurve beschrieb; es ginge zu weit, dem Führer eines Motorfahrzeuges auch noch die Aufgabe zu überbürden, überholte Strassenbenützer so lange zu überwachen, bis feststeht, dass sie sein Fahrzeug nicht mehr einholen können. Dass schliesslich der Rückspiegel am Traktor des Beschwerdeführers verstellt und unbenützbar war, ist ohne Belang, weil er nach Art. 38 MFV nicht zur gesetzlich geforderten Ausrüstung landwirtschaftlicher Traktoren gehört.
|
|
Demnach erkennt der Kassationshof:
|
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen.
|