BGE 86 IV 195
 
50. Entscheid der Anklagekammer vom 5. September 1960 i.S. Verhöramt Zug gegen Staatsanwaltschaft Aargau.
 
Regeste
Art. 372 Abs. 1 und 3, 346 StGB; Art. 263 BStP.
2. Verhältnis des Gerichtsstandes des Wohnsitzes zu demjenigen des Aufenthaltsortes im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche (Erw.2).
3. Konkurrenz des besondern Gerichtsstandes des Art. 372 Abs. 1 mit dem allgemeinen des Art. 346 StGB (Erw. 3).
 
Sachverhalt
A.- Der am 5. Juli 1942 geborene, in Sins (Aargau) wohnhafte X. trat im Frühjahr 1958 bei einem Metzgermeister in Cham (Zug), wo er Kost und Logis hatte, in die Leehre, die er ein Jahr später für die Dauer von neun Monaten unterbrach, anfangs 1960 aber in der gleichen Metzgerei unter einem neuen Meister wieder aufnahm. Am 22. Juli 1960, also gut zwei Wochen nach Erreichung des 18. Altersjahres, wurde X. in Cham verhaftet und in Strafuntersuchung gezogen, da sich herausstellte, dass er während der Lehrzeit laufend Geldbeträge aus der Ladenkasse seiner Lehrmeister entwendet und das gestohlene Geld, insgesamt rund Fr. 2500.--, für sich und zum Nutzen seiner Familienangehörigen verwendet hatte.
B.- Das Verhöramt Zug stellte unter Berufung darauf, dass X. seinen Wohnsitz in Sins beibehalten und von den zahlreichen Gelddiebstählen nur drei im Gesamtbetrag von Fr. 220.-- nach dem 5. Juli 1960 begangen habe, bei den Behörden des Kantons Aargau das Gesuch, den Fall gemäss Art. 372 StGB zu übernehmen, jedoch ohne Erfolg. Es gelangte daher an die Anklagekammer des Bundesgerichtes mit dem Begehren, es sei der Kanton Aargau zur Verfolgung und Beurteilung des Beschuldigten zuständig zu erklären.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt Abweisung des Gesuches.
 
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
1. Dem Beschuldigten werden nur Diebstähle zur Last gelegt, und diese hat er ohne Ausnahme im Kanton Zug verübt. Hätte er die Straftaten nach erfülltem 18. Altersjahr begangen, so wäre nach der allgemeinen Regel des Art. 346 StGB ohne weiteres der Gerichtsstand des Begehungsortes gegeben. Da aber ein Teil der strafbaren Handlungen in die Zeit vor Erreichung des 18. Altersjahres fällt, ist streitig, ob für diesen Teil gemäss Art. 372 Abs. 1 StGB die Behörden des Kantons Zug, wo der Beschuldigte Aufenthalt genommen hatte, oder aber die Behörden des Kantons Aargau, wo sich sein Wohnsitz befand, zur Verfolgung zuständig seien und ob, wenn der letztere Fall zutrifft, nicht trotzdem mit Rücksicht auf die nach dem erfüllten 18. Altersjahr im Kanton Zug begangenen Handlungen die Gesamtheit aller Diebstähle diesem Kanton zur Verfolgung und Beurteilung zuzuweisen sei. Gerichtsstandsstreitigkeiten solcher Art sind nicht durch den Bundesrat, sondern durch die Anklagekammer des Bundesgerichts zu entscheiden, die nach der neueren Rechtsprechung immer dann den Gerichtsstand zu bezeichnen hat, wenn nicht eine reine Jugendstrafsache vorliegt, so wenn der Täter teils vor und teils nach Erreichung des 18. Altersjahres straffällig geworden ist (BGE 85 IV 254). An dieser Ordnung ist im Interesse einer klaren und einfachen Kompetenzausscheidung ohne Einschränkung festzuhalten; sie gilt daher unabhängig davon, ob die dem Täter zur Last gelegten Handlungen in mehreren Kantonen begangen wurden oder nicht und ohne Rücksicht darauf, ob das Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit in die Zeit vor oder nach Erreichung des 18. Altersjahres fällt. Auf das Gesuch ist somit einzutreten.
X., der unter elterlicher Gewalt steht, hatte gemäss Art. 25 Abs. 1 ZGB seinen Wohnsitz in Sins (Aargau), wo seine Eltern wohnhaft sind. Anderseits steht fest, dass er sich während längerer Zeit in Cham (Zug) aufhielt. Er trat dort im Frühjahr 1958 eine Stelle als Metzgerlehrling an und bezog während 13 Monaten Kost und Logis bei seinem Meister. Nach einem Unterbruch von neun Monaten, während denen er ebenfalls in Cham in einer Fabrik arbeitete, aber offenbar bei seinen Eltern in Sins wohnte, setzte er die Metzgerlehre in Cham vom Januar 1960 an bis zu seiner Verhaftung am 22. Juli 1960 fort. Auf die zeitliche Dauer des Aufenthaltes an einem andern Ort kommt es indessen nicht allein an. Dauernd im Sinne von Art. 372 Abs. 1 StGB ist der Aufenthalt an einem fremden Ort nur, wenn der Ortswechsel auch zu einer Lockerung der Bindungen des Jugendlichen zum elterlichen Wohnsitz führt und zur Folge hat, dass der Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen am Aufenthaltsort begründet wird. Nach den Akten war das hier nicht der Fall. Nichts deutet daraufhin, dass X. die Bande mit Sins gelöst und engere Beziehungen mit den Bewohnern von Cham angeknüpft hätte. Er hat im Gegenteil die Zeit von Samstagabend bis Montagmorgen fast ausnahmslos am Wohnort seiner Eltern zugebracht, und ebenso ist er sehr oft an freien Mittwochnachmittagen nach Sins, das nur 7 km von Cham entfernt liegt, zurückgekehrt, wo er weiterhin seine Kollegen traf und anscheinend auch dem Turnsport oblag. Er hat zudem sein eigenes Schlafzimmer im Elternhaus beibehalten, es mit Hilfe des gestohlenen Geldes neu ausgestattet und einen Teil der entwendeten Beträge zur Bezahlung von Haushaltschulden seiner Mutter und zur Anschaffung von Gegenständen für seine Angehörigen ausgegeben. Diese Umstände lassen darauf schliessen, dass der Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in Sins und nicht in Cham lag.
Wären nur die vor dem 5. Juli 1960 verübten Diebstähle zu verfolgen, läge demnach der Gerichtsstand im Wohnsitzkanton Aargau.
3. Eine Aufteilung des Verfahrens auf die beiden verschiedenen Gerichtsstände, die sich aus Art. 372 Abs. 1 und Art. 346 StGB für die vor und nach Erreichung des 18. Altersjahres begangenen Handlungen ergeben, kommt aus den in BGE 85 IV 255 Erw. 2 genannten Gründen nicht in Frage. Wie in diesem Entscheid ferner festgestellt wurde, enthält das Gesetz keine Regel zur Lösung von Gerichtsstandskonflikten dieser Art. Auch kann nicht allgemein der Grundsatz aufgestellt werden, dass der ordentliche Gerichtsstand, der auf die nach dem 18. Altersjahr verübten Taten zutrifft, dem besonderen Gerichtsstand des Art. 372 Abs. 1 immer vorgehe. Es ist vielmehr in jedem Einzelfall in Anlehnung an die auf Grund von Art. 263 BStP entwickelten Grundsätze abzuwägen, welcher der konkurrierenden Gerichtsstände den Vorzug verdient.
Im vorliegenden Falle fällt in Betracht, dass X. ausschliesslich im Kanton Zug straffällig geworden ist und dort in Strafuntersuchung steht. Dem steht jedoch die Tatsache gegenüber, dass er den weitaus überwiegenden Teil seiner Straftaten in den zwei Jahren vor der Vollendung seines 18. Altersjahres begangen hat, während die nach dem 5. Juli 1960 verübten Diebstähle, gesamthaft betrachtet, zahlen- wie wertmässig nicht ins Gewicht fallen. Liegt aber das Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit ganz offensichtlich bei den Handlungen, die der Beschuldigte als Jugendlicher beging, so sind die Gesichtspunkte der Jugendgerichtsbarkeit, die eine umfassendere Erforschung der Persönlichkeit und der Familienverhältnisse des Täters ermöglichen und den zweckmässigen Vollzug einer allenfalls nach Art. 91 ff. StGB zu ergreifenden Massnahme gewährleisten soll, von ausschlaggebender Bedeutung. Dass das Jugendstrafverfahren auch auf jugendliche Täter anzuwenden ist, die im Zeitpunkt der Beurteilung bereits im Alter von 18-20 Jahren stehen, ergibt sich aus Art. 371 Abs. 2 StGB. Der besondere Gerichtsstand des Art. 372 Abs. 1, der gerade dazu bestimmt ist, den Zielen des Jugendstrafrechtes zu dienen, ist daher gegenüber dem allgemeinen des Art. 346 StGB vorzuziehen. Nach den in Ziff. 2 dargelegten Erwägungen sind infolgedessen die Behörden des Kantons Aargau zuständig.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Die Behörden des Kantons Aargau werden berechtigt und verpflichtet erklärt, X. für alle ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.