BGE 87 IV 92 |
21. Urteil des Kassationshofes vom 23. Juni 1961 i.S. Polizeirichteramt der Stadt Zürich gegen Schönholzer. |
Regeste |
Art. 25 Abs. 1 letzter Satz MFG. |
Sachverhalt |
A.- Schönholzer führte am Vormittag des 30. März 1960 ein Oldsmobile-Personenauto vom Löwenplatz in Zürich über die Gessnerbrücke in der Absicht, von dort geradeaus in die Lagerstrasse zu gelangen. Vor ihm fuhr ein "VW"-Personenwagen, der auf der Gessnerbrücke mit nach links gestelltem Richtungsanzeiger gegen die Strassenmitte einspurte, um in einem Abstand von rund 4 m hinter einem mit 15 km/Std. fahrenden Tramzug nach links in die Kasernenstrasse einzubiegen. Schönholzer begann darauf, den VW rechts zu überholen, wobei er von diesem einen seitlichen Abstand von 30 cm hatte. Während des Überholens machte der VW plötzlich einen Schwenker nach rechts, so dass die beiden Fahrzeuge einander berührten. Am VW wurde der rechte vordere Kotflügel leicht eingedrückt, und am Oldsmobile entstanden auf der linken Seite Farbschäden.
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B.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich verfällte Schönholzer wegen mangelnder Aufmerksamkeit und ungenügenden seitlichen Abstandes beim Überholen in eine Busse von Fr. 15.-.
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Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Zürich hob auf Einsprache des Gebüssten am 17. März 1961 die Busse auf. Er fand, Schönholzer habe sich keiner Verfehlung schuldig gemacht.
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C.- Der Polizeirichter führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das freisprechende Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des Verzeigten wegen Übertretung von Art. 25 Abs. 1 letzter Satz, 26 Abs. 4 Satz 2 MFG und Art. 46 Abs. 3 MFV an den Einzelrichter zurückzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: |
1. Wie der Kassationshof in BGE 83 IV 169 entschieden hat, dürfen Fahrzeuge, die zum Linksabbiegen gegen die Strassenmitte eingespurt haben, auch dann rechts überholt werden, wenn die Fahrbahn nicht mit behördlich angeordneten Fahrstreifen bezeichnet ist, vorausgesetzt, dass das Rechtsüberholen mit der nach den Umständen geforderten Vorsicht durchgeführt wird. Dazu gehört, wie bei jedem Überholen, die Einhaltung eines angemessenen seitlichen Abstandes (Art. 25 Abs. 1 letzter Satz MFG). Dieser richtet sich vor allem nach dem erkennbaren oder voraussehbaren Fahrverhalten des zu überholenden Fahrzeuges und nach der Geschwindigkeit, die dieses und der Überholende einhalten (vgl. BGE 83 IV 36). Beim gewöhnlichen Linksüberholen, das nicht notwendig eine Ankündigung durch Zeichengebung verlangt (BGE 84 IV 30), muss auch auf geraden, gutausgebauten und hindernisfreien Strassen damit gerechnet werden, dass der zu Überholende, der nicht gewarnt worden ist, seinen eigenen Abstand vom rechten Strassenrand nicht auf den Dezimeter genau innehält und sein Fahrzeug sich somit wieder leicht nach links verschieben kann. Je grösser dabei die Fahrgeschwindigkeit ist, desto stärker wirken sich Abweichungen nach der Seite aus und umso schwerer kann der Überholende einem drohenden Zusammenstoss begegnen, wenn er den Abstand zum andern Fahrzeug knapp bemisst. Beim Rechtsüberholen eingespurter Fahrzeuge dagegen verhält es sich nicht gleich.
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Wer links einspurt, gibt damit nachfolgenden Fahrzeugen zu erkennen, dass sie ihn rechts überholen können. Er ist auf die Möglichkeit, rechts überholt zu werden, gefasst und weiss daher, dass er von der gewählten Fahrspur nicht mehr abweichen darf, ohne sich vorher sorgfältig vergewissert zu haben, ob er es ohne Gefährdung anderer tun kann. Das hat umgekehrt zur Folge, dass der Überholende sich weniger auf die Gefahr einstellen muss, das eingespurte Fahrzeug könnte von seiner Fahrbahn abgehen, vorbehalten Fälle, wo besondere Umstände darauf schliessen lassen. Er darf deshalb, zumal bei engen Platzverhältnissen, mit einem geringeren seitlichen Abstand überholen als sonst, sofern die Geschwindigkeit dem Abstand angepasst ist.
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2. Im vorliegenden Falle hatte der Führer des VW mit nach links gestelltem Richtungsanzeiger, also für die nachfolgenden Motorfahrzeugführer deutlich erkennbar, hinter einem von der Gessnerbrücke Richtung Kaserne fahrenden Tramzug gegen die Strassenmitte eingespurt. Damit gab er zu verstehen, dass er beabsichtigte, nach der Gessnerbrücke nach links abzuschwenken, und dass er die Fahrbahn zwischen Tramzug und Trottoir den Fahrzeugen, die geradeaus in die Lagerstrasse fahren oder nach rechts Richtung Sihlpost abbiegen wollten, zur Durchfahrt freigab. Nach den Akten zu schliessen fuhr der Beschwerdegegner beim Überholen hart dem rechten Trottoirrand entlang, und seine Geschwindigkeit überstieg nicht wesentlich diejenige des VW, die 18 km/Std. betrug. Der seitliche Abstand von 30 cm, der zwischen den beiden Personenwagen blieb, darf auf der geraden Strecke bei derart knappen Raumverhältnissen und so geringen Fahrgeschwindigkeiten als genügend erachtet werden. Wäre das Überholen eingespurter Fahrzeuge überhaupt nur zulässig, wenn seitliche Abstände von mindestens 40 cm und darüber möglich sind, so könnte der mit dem Einspuren in erster Linie verfolgte Zweck, die Flüssigkeit des Fahrzeugverkehrs zu fördern, gerade in engen städtischen Verhältnissen, wo er am dringensten zu verwirklichen ist, nicht oder nur in ungenügendem Masse erreicht werden.
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Fahrlässigkeit wäre dem Beschwerdegegner allenfalls zur Last zu legen, wenn er den Schwenker des VW hätte voraussehen können. Dafür liegt jedoch nichts vor. Weder kam auf dem linken Geleise ein Tramzug entgegen, noch wurde der VW von dem mit einem Abstand von mindestens 4 m vorausfahrenden Tramwagen zu Beginn der Linkskurve gefährdet. Dass die dort vom hintersten Teil des Tramwagens beschriebene Bewegung nach rechts aussen den Führer des VW zum Rechtshalten bewegen werde, obschon dazu keine Veranlassung bestand, war für den Beschwerdegegner nicht ohne weiteres voraussehbar. Damit musste er umso weniger rechnen, als er annehmen durfte, der Führer des VW werde einen genügenden Abstand vom Tramzug wahren und er werde die Fahrspur umso eher einhalten, als ihm dazu das Tramgeleise eine gute Richtlinie bot. Nach der Behauptung des Beschwerdegegners, die nicht widerlegt wurde und von der auch der Beschwerdeführer ausgeht, hatte der Oldsmobile den VW bereits zu Zweidritteln überholt, als dieser den Schwenker nach rechts machte. Dem Beschwerdegegner kann daher auch nicht vorgeworfen werden, er hätte bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit den Zusammenstoss vermeiden können. Die Vorinstanz hat ihn zu Recht freigesprochen.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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