BGE 87 IV 113
 
26. Urteil des Kassationshofes vom 6. September 1961 i.S. Csonka gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen.
 
Regeste
Art. 112 StGB; Mord.
2. Der Richter muss bei der Beurteilung der Gesinnung und der Gefährlichkeit des Täters auch die vor und nach der Tat gegebenen Umstände in Betracht ziehen, soweit sie Aufschluss geben über die Persönlichkeit des Täters, über dessen Grundhaltung sowie über die psychischen Zustände und Vorgänge zur Zeit der Tat.
 
Aus den Erwägungen:
1. Mord (Art. 112 StGB setzt im Gegensatz zur vorsätzlichen Tötung (Art. 111 StGB) voraus, dass der Täter unter Umständen oder mit einer Überlegung tötet, die seine besonders verwerfliche Gesinnung oder seine Gefährlichkeit offenbaren.
a) ...
b) Der deutsche Text verlangt nicht, dass die Gefährlichkeit des Täters einen besonderen Grad erreiche; denn das Wort "besonders" bezieht sich grammatikalisch nur auf verwerfliche Gesinnung, nicht auch auf Gefährlichkeit. Der französische Text, lautend: "Si le délinquant a tué dans des circonstances ou avec une préméditation dénotant qu'il est particulièrement pervers ou dangereux...", lässt eine andere Auslegung zu. Der italienische Text mit der Wendung "particolare pericolosità o perversità" sodann verlangt ausdrücklich die besondere Gefährlichkeit. Diese Fassung gibt offensichtlich den wahren Sinn des Gesetzes wieder und ist daher massgebend (BGE 77 IV 78 und dort angeführte Entscheidungen). Jede vorsätzliche Tötung im Sinne von Art. 111 StGB offenbart eine gewisse Gefährlichkeit des Täters. Eine solche genügt daher nicht, um ihn als Mörder zu kennzeichnen. Nur wenn sie einen überdurchschnittlichen, einen besonderen Grad erreicht, hebt sich der Tatbestand von dem in Art. 111 StGB umschriebenen Fall ab.
Diese Auslegung entspricht auch der Entwicklungsgeschichte der Bestimmung. Die ursprünglich vom Nationalrat angenommene Fassung führte das Merkmal der besonders verwerflichen Gesinnung nicht an, sondern stellte einzig auf die besondere Gefährlichkeit ab (Sten. Bull. Sonderausgabe, NatR S. 249, 267 f.). Dass dieses Erfordernis durch die vom Ständerat vorgenommene Ergänzung, wonach auch die besondere Verwerflichkeit anzuführen sei (Sten. Bull. Sonderausgabe, StR S. 135), nicht abgeschwächt werden wollte, ergibt sich u.a. aus den Ausführungen des deutschsprachigen Berichterstatters der nationalrätlichen Kommission, der feststellte, der Ständerat habe den Wortlaut insofern ergänzt, als er neben der besonderen Gefährlichkeit auch noch das Moment der besonderen Verwerflichkeit in die Formulierung aufnahm (Sten. Bull. Sonderausgabe, NatR S. 665).
c) Die besonders verwerfliche Gesinnung oder besondere Gefährlichkeit des Täters führt gemäss Art. 112 StGB u.a. dann zur Verurteilung wegen Mordes, wenn sie sich aus den Umständen ergeben, "unter" denen er tötet. Diese Wendung darf jedoch nicht dahin verstanden werden, dass bei der Beurteilung der Gesinnung und des Grades der Gefährlichkeit des Täters das der Tat vorausgehende und an sie anschliessende Vorgehen und die Umstände, die dabei gegeben sind, gänzlich ausser Acht zu lassen seien. Zu den Umständen, unter denen der Täter tötet, gehören insbesondere seine Persönlichkeit und Grundhaltung sowie die psychischen Zustände und Vorgänge zur Zeit der Tat. Diese werden in der Regel durch Schlussfolgerungen aus den vor und nach der Tat gegebenen Umständen bestimmt werden können. Soweit das zutrifft, muss daher der Richter bei der Beurteilung der Gesinnung und der Gefährlichkeit des Täters auch diese Umstände in Betracht ziehen.
Das entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers; denn bei der parlamentarischen Beratung wurde nie unterschieden zwischen den Umständen vor, bei und nach der Tat, sondern stets unterstellt, massgebend seien alle Umstände, aus denen auf eine besonders verwerfliche Gesinnung oder besondere Gefährlichkeit geschlossen werden könne (vgl. Sten.Bull. Sonderausgabe, NatR 250, 251, 256; StR 137).