19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. August 1965 i.S X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern.
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Regeste
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1. Der Begriff des fortgesetzten Delikts setzt nicht voraus, dass alle Einzelhandlungen, die auf denselben Willensentschluss zurückgehen, unter die gleiche Strafbestimmung fallen; es genügt, dass sie den gleichen gesetzlichen Tatbestand erfüllen oder Begehungsformen desselben Verbrechens oder Vergehens darstellen (Erw. 1a).
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3. Art. 13 Abs. 1 StGB. Der Umstand, dass der Beschuldigte die Tat in angetrunkenem Zustand begangen hat, ist noch kein Grund, ihn psychiatrisch begutachten zu lassen (Erw. 2).
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Sachverhalt
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A.- Der 41-jährige X. sprach am 23. August 1964 im Bahnhof Luzern den 14 Jahre alten Y. an, der dort herumstrich. Er nahm den Knaben in seine Wohnung, wo er ihn umarmte und küsste. Sie legten sich beide nackt auf ein Bett und rieben sich den Geschlechtsteil, und als auch beim Knaben der Same floss, nahm X. dessen Glied in den Mund. Y. begab sich hierauf in die Küche, wusch und parfümierte sich. Alsdann befriedigte sich X., der immer noch unbekleidet war, in Gegenwart des Knaben abermals.
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B.- Das Obergericht des Kantons Luzern verurteilte X. am 30. März 1965 wegen Unzucht mit einem Kinde im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 und 2 StGB zu einem Jahr Zuchthaus und stellte ihn für drei Jahre in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit ein.
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Das Obergericht ist der Auffassung, es lägen zwei strafbare Handlungen vor, denn zwischen der Selbstbefriedigung des X. vor dem Knaben und dem, was vorausgegangen sei, habe ein namhafter zeitlicher Unterbruch bestanden.
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C.- X. führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde, welcher unter anderem zu entnehmen ist, dass er die Verurteilung nach Art. 191 Ziff. 2 StGB anficht und die Anordnung eines psychiatrischen Gutachtens verlangt.
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D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
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Aus den Erwägungen:
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Der Beschwerdeführer macht dagegen geltend, dass er für das, was er nachher getan habe, nicht gemäss Art. 191 Ziff. 2 StGB bestraft werden könne; die Selbstbefriedigung, die er vor dem Knaben vorgenommen habe, nachdem dieser von der Küche ins Zimmer zurückgekehrt sei, bilde zusammen mit den vorher begangenen Handlungen eine Einheit, könne daher keinen selbständigen Straftatbestand mehr darstellen. Massgebend sei, dass er schon in der Bahnhofhalle den Entschluss gefasst habe, mit dem Knaben gleichgeschlechtliche Handlungen vorzunehmen, wozu er ihn denn auch in seine Wohnung eingeladen habe.
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Der Einwand kann nur dahin verstanden werden, dass fortgesetzte Begehung vorliege.
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a) Ein fortgesetztes Delikt setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gleichartige oder ähnliche Handlungen voraus, die gegen das gleiche Rechtsgut gerichtet sind und auf ein und denselben Willensentschluss zurückgehen (BGE 68 IV 99;BGE 72 IV 165, 184;BGE 78 IV 154; BGE 83 IV 159; BGE 88 IV 65 Erw. 3; BGE 90 IV 132). Der Begriff ist von der Gerichtspraxis entwickelt worden, um das Verfahren (z.B. bei einer Unzahl von Diebstählen) zu vereinfachen und um Unbilligkeiten, die sich bei der Anwendung des Art. 68 StGB auf solche Handlungen ergeben können, zu vermeiden. Das fortgesetzte Delikt wird deshalb ohne Rücksicht darauf, dass mehrere strafbare Handlungen vorliegen, rechtlich wie eine Straftat behandelt. Diese Betrachtungsweise hat zur Folge, dass eine Gesamtstrafe ausser Betracht fällt und der für die schwerste Einzeltat vorgesehene Strafrahmen allein anwendbar ist und nicht überschritten werden darf. Sie bedingt aber auch, dass die Verjährungsfrist für alle Einzelhandlungen erst mit dem Tage zu laufen beginnt, an dem die letzte dieser Handlungen ausgeführt wird (Art. 71 Abs. 3 StGB) und dass im Falle eines Antragsdeliktes die Strafverfolgung nicht auf die dreimonatige Frist des Art. 29 StGB beschränkt bleibt, sondern der Täter auch wegen weiter zurückliegender Handlungen verfolgt werden darf (BGE 80 IV 8).
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Dass sämtliche Einzelhandlungen unter die gleiche Strafbestimmung fallen, ist für die Annahme eines fortgesetzten Deliktes nicht erforderlich; es genügt, dass sie den gleichen gesetzlichen Tatbestand erfüllen oder Begehungsformen desselben Deliktes darstellen. Fortsetzungszusammenhang ist deshalb insbesondere möglich zwischen Handlungen, die teils einer leichteren, teils einer schwereren Form desselben Verbrechens oder Vergehens angehören. Beispiele hiefür sind: schwere und einfache Körperverletzung (Art. 122 und 123), einfache und privilegierte Fälle von Sachentziehung (Art. 143 Abs. 1 und 2), Hehlerei (Art. 144 Abs. 1 und 2), Geldfälschungen (Art. 240 Abs. 1 und 2), Urkundenfälschungen (Art. 251 Ziff. 1 und 3), einfache und qualifizierte Fälle politischen oder militärischen Nachrichtendienstes (Art. 272 Ziff. 1 und 2, 274 Ziff. 1 Abs. 1 und 3 StGB). In diesem Sinne hat der Kassationshof denn auch schon in BGE 83 IV 159 ff. entschieden. Nicht im Fortsetzungszusammenhang stehen können dagegen Strafhandlungen, die dem gesetzlichen Tatbestand oder ihrer rechtlichen Natur nach verschieden sind, wie z.B. vorsätzliche Tötung und Mord (Art. 111 und 112), Diebstahl und Veruntreuung (Art. 137 und 140), Urkundenfälschung und Urkundenunterdrückung (Art. 251 und 254 StGB) (vgl. Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, Bd. 12 S. 147 und dort angeführte Urteile; ferner Komm. SCHÖNKE/SCHRÖDER, 12. Auflage, S. 488 ff.).
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b) Art. 191 StGB stellt die verschiedenen Begehungsformen der "Unzucht mit Kindern" unter Strafe. Missbrauch eines Kindes zum Beischlaf oder zu einer ähnlichen Handlung (Ziff. 1) werden als qualifizierte Fälle besonders streng bestraft. Die übrigen Formen, nämlich Missbrauch eines Kindes zu einer andern unzüchtigen Handlung, die Vornahme einer solchen Handlung vor einem Kinde und die Verleitung eines Kindes zur Unzucht (Ziff. 2 Abs. 1-3), werden milder bestraft, unter sich aber gleich behandelt. Daraus erhellt, dass es sich im Verhältnis von Ziff. 1 zu Ziff. 2 um schwere und leichtere, innerhalb der Ziff. 2 um gleichwertige Strafhandlungen desselben Verbrechens handelt. Zwischen Unzuchtshandlungen im Sinne dieser Bestimmungen ist daher nach dem hiervor Gesagten Fortsetzungszusammenhang möglich. Dass Art. 191 StGB nicht ausdrücklich von schweren oder leichteren Fällen spricht, ändert nichts. Die vorwiegend kasuistisch bedingte Verschiedenheit in der Umschreibung des Verbrechens darf nicht ausschlaggebend sein dafür, ob ein fortgesetztes Delikt vorliege oder nicht. Sonst würde die Frage von Zufälligkeiten der Formulierung abhängig gemacht. Zu bedenken ist zudem, dass diesfalls nicht nur die Möglichkeit, zwischen ähnlichen oder gleichartigen Handlungen Fortsetzungszusammenhang anzunehmen, sondern auch das Anwendungsgebiet der Art. 29 und 71 Abs. 3 StGB erheblich eingeschränkt würde.
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c) Der Beschwerdeführer hat den Knaben in seine Wohnung genommen, um ihn zur Unzucht zu missbrauchen. Dass sich seine Absicht auf bestimmte Unzuchtshandlungen beschränkt habe, stellt die Vorinstanz nicht fest und ist auch nach den Akten nicht anzunehmen. Es ging dem X., der angetrunken war und in diesem Zustand zu gleichgeschlechtlichen Handlungen neigte, vielmehr darum, die sich bietende Gelegenheit zur Unzucht auszunützen. Seine Verfehlungen an und vor dem Knaben entsprangen daher zweifellos einem einheitlichen Willensentschluss.
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Sie richteten sich zudem nicht nur gegen das gleiche Rechtsgut, sondern auch gegen die gleiche Person. Der Umstand, dass X. nach der beischlafsähnlichen Handlung nackt liegen blieb und die Rückkehr des Knaben abwartete, lässt bei natürlicher Betrachtungsweise die spätere Handlung ebenfalls als Fortsetzung der früheren erscheinen. Von einem Unterbruch des Tatzusammenhanges kann keine Rede sein.
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Das angefochtene Urteil, das auf der Annahme beruht, es lägen zwei strafbare Handlungen vor, ist daher aufzuheben und die Sache zur Überprüfung der Strafzumessung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Obergericht hat von einem fortgesetzten Delikt auszugehen, die Strafe folglich unter Ausschluss des Art. 68 StGB zuzumessen.
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Nach dem angefochtenen Urteil war der Beschwerdeführer nur leicht angetrunken. Deswegen brauchte die Vorinstanz an seiner Zurechnungsfähigkeit noch keineswegs zu zweifeln, zumal er sich nach einer weitern Feststellung des Obergerichts an alle Vorgänge während, vor und nach der Tat gut zu erinnern vermochte. Der Angetrunkene neigt wohl zu Unbeherrschtheiten, bleibt im allgemeinen aber durchaus fähig, das Unrecht einer Tat einzusehen und gemäss dieser Einsicht zu handeln; einzig wer seine Neigung zu Straftaten infolge einer Beeinträchtigung im Sinne von Art. 11 StGB - sei diese dem Alkoholgenuss zuzuschreiben oder nicht - nur mit ungewöhnlicher Willensanstrengung meistern kann, begeht die Tat unter dem Einfluss verminderter Willensfreiheit (BGE 71 IV 193,BGE 77 IV 216und nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 15. Oktober 1954 i.S. Walther). Dass dies bei ihm der Fall gewesen sei, behauptet der Beschwerdeführer selber nicht. Der Hinweis auf die Urteile in BGE 90 IV 159 ff. und 224 ff. geht fehl. Dass die Fähigkeit, ein Motorfahrzeug sicher zu führen, beeinträchtigt wird, wenn der Führer einen Alkoholgehalt von 0,8 Gewichtspromille aufweist, heisst noch keineswegs, der Lenker sei deswegen auch vermindert zurechnungsfähig. Dieser ist normalerweise dennoch fähig einzusehen, dass er in seinem Zustand kein Motorfahrzeug führen darf, und gemäss seiner Einsicht zu handeln. Es ist denn auch nicht üblich, angetrunkene Fahrer begutachten zu lassen (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 21. November 1952 i.S. Engi).
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