BGE 91 IV 197
 
52. Urteil des Kassationshofes vom 2. November 1965 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft gegen Bach.
 
Regeste
Art. 7 Abs. 1, 95 Ziff. 2 SVG, Art. 72 Abs. 2 VRV.
 
Sachverhalt
A.- Bach, Inhaber einer Garage in Wangen a. A., fuhr am Abend des 4. April 1964 in Begleitung seines Angestellten Jordi nach Basel, um mit seinem Personenauto den defekten Personenwagen eines Kunden von Basel nach Wangen abzuschleppen. Obschon Bach wusste, dass Jordi der Führerausweis dauernd entzogen worden war, veranlasste er diesen, das geschleppte Fahrzeug zu lenken, während er selber den Zugwagen führte. Da sie in Liestal in eine Polizeikontrolle gerieten, wurden beide wegen Widerhandlung gegen Art. 95 Ziff. 2 SVG verzeigt.
B.- Die Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Landschaft erklärte Bach mit Strafbefehl vom 17. September 1964 in Anwendung von Art. 100 Ziff. 2 SVG der Widerhandlung gegen Art. 95 Ziff. 2 SVG in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 VRV schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Strafe von zehn Tagen Haft und zu einer Busse von Fr. 80.-.
Das Polizeigericht Liestal änderte auf Einsprache des Verurteilten am 5. November 1964 den Strafbefehl dahin ab, dass es die Haftstrafe aufhob und nur auf Busse von Fr. 80.- erkannte. Es ging davon aus, der geschleppte Wagen sei zwar als Motorfahrzeug anzusehen, doch habe es Jordi nur gelenkt, nicht im Sinne des Art. 95 Ziff. 2 SVG geführt, so dass bloss eine Widerhandlung gegen Art. 72 Abs. 2 VRV vorliege, die gemäss Art. 96 VRV mit Haft oder mit Busse zu bestrafen sei. Es nahm ferner an, Art. 100 Ziff. 2 SVG sei in Fällen, in denen dem Haupttäter die Eigenschaft eines Motorfahrzeugführers fehle, nicht anwendbar, weshalb es Bach in Anwendung von Art. 24 StGB als Anstifter zur erwähnten Übertretung bestrafte.
Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft, an das die Staatsanwaltschaft appellierte, bestätigte am 16. Februar 1965 das Urteil des Polizeigerichts, soweit dieses gestützt auf Art. 72 Abs. 2 und 96 VRV eine Busse von Fr. 80.- gegen Bach verhängte. Es hält jedoch, abweichend von der Begründung des Polizeigerichts, dafür, Jordi habe das geschleppte Fahrzeug geführt, dieses stelle aber kein Motorfahrzeug dar, und es sei statt der allgemeinen Bestimmung des Art. 24 StGB richtigerweise Art. 100 Ziff. 2 SVG anzuwenden.
C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese Bach nach Art. 95 Ziff. 2 SVG mit Haft von wenigstens zehn Tagen und mit Busse bestrafe.
D.- Bach beantragt Abweisung der Beschwerde.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 100 Ziff. 2 SVG untersteht der Arbeitgeber oder Vorgesetzte der gleichen Strafandrohung wie der Motorfahrzeugführer, den er zur begangenen Widerhandlung veranlasst hat. Bach hiess seinen Arbeitnehmer Jordi, einen geschleppten Personenwagen zu lenken, obschon er wusste, dass Jordi der Führerausweis entzogen worden war. Verstiesse die Tat nur gegen Art. 72 Abs. 2 VRV, wonach ein geschlepptes Fahrzeug von einem Führer mit Ausweis gelenkt werden muss, so wäre sie bloss mit Haft oder mit Busse bedroht (Art. 96 VRV, vgl. Art. 95 Ziff. 1 SVG). Nach Art. 95 Ziff. 2 SVG, der den Tatbestand des Führens während der Dauer eines Führerausweisentzuges gegenüber jenem des Fahrens ohne Führerausweis durch erhöhte Strafandrohung auszeichnet, müssten dagegen mindestens zehn Tage Haft und eine Busse ausgefällt werden. Die Anwendung dieser Bestimmung setzt jedoch voraus, dass das Lenken des geschleppten Wagens als Führen eines Motorfahrzeuges gilt.
2. Motorfahrzeug ist nach Art. 7 Abs. 1 SVG jedes Fahrzeug mit eigenem Antrieb, durch den es auf dem Erdboden unabhängig von Schienen fortbewegt wird. Diese Umschreibung bezieht sich wie schon die frühere des Art. 1 MFV auf das im Betrieb befindliche Motorfahrzeug. Auszugehen ist jedoch vom technischen Begriff des Motorfahrzeuges, der auch nach allgemeinem Sprachgebrauch den Inhalt des Wortes Motorfahrzeug bestimmt. Danach kommt es nur darauf an, ob ein Fahrzeug als Motorfahrzeug gebaut und eingerichtet, d.h. nach seiner technischen Ausrüstung dazu bestimmt ist, sich durch eigenen Antrieb auf dem Erdboden fortzubewegen, ohne an Schienen gebunden zu sein. Ein derart beschaffenes Fahrzeug bleibt Motorfahrzeug ohne Rücksicht darauf, ob es sich im Betrieb befindet oder nicht und ob es infolge eines technischen Fehlers oder aus einem andern Grunde vorübergehend anstelle der eigenen Motorkraft durch die Schwerkraft oder eine andere Kraft in Bewegung gesetzt wird. Den Charakter eines Motorfahrzeuges verliert es erst, wenn das Fahrzeug die Fähigkeit, sich durch eigenen Antrieb fortzubewegen, dauernd einbüsst (STREBEL, N 23 zu Art. 1 MFG).
Die gegenteilige Auffassung, wie sie in BGE 73 IV 38 für das MFG vertreten wurde, hält nicht stand. Es kann nicht der Sinn der Strassenverkehrsvorschriften sein, dass sie immer dann nicht anwendbar sein sollen, wenn sich ein Motorfahrzeug anders als durch den Betrieb seines Motors fortbewegt, wie auch vernünftigerweise nicht gewollt sein kann, die Anwendung des Gesetzes von der momentanen Betriebsfähigkeit des Motors abhängig zu machen mit der Folge, dass z.B. der eine Führer, der mit betriebsbereitem Motor, aber im Leerlauf einen Abhang hinunterrollt, dem Gesetz unterstände, der andere, der die gleiche Strecke mit betriebsunfähigem Motor zurücklegt, dagegen nicht, obschon die mit der Fortbewegung zusammenhängende Gefährlichkeit in beiden Fällen dieselbe sein kann. Dass nicht bloss das durch eigene Motorkraft sich fortbewegende Fahrzeug als Motorfahrzeug zu gelten hat, sondern auch das mit abgestelltem Motor auslaufende oder das unter bewusster Ausnutzung der Schwerkraft abwärts fahrende und unter Umständen sogar das stillstehende Fahrzeug, war im Haftpflichtrecht schon unter der Herrschaft des MFG anerkannt (BGE 78 II 163, BGE 63 II 342; OFTINGER, Schweiz. Haftpflichtrecht, II/2 S. 537, 542 f.). Das SVG hat diese Praxis nicht nur übernommen, sondern noch erweitert, indem es in Art. 58 Abs. 2 allgemein eine verschärfte Haftung der Halter für Verkehrsschäden vorsieht, die durch nicht im Betrieb stehende Motorfahrzeuge veranlasst werden, womit es zu den Motorfahrzeugen ausdrücklich auch solche zählt, die nicht durch ihren Motor angetrieben werden, wie z.B. dann, wenn sie am Strassenrand abgestellt sind, von Hand gestossen werden oder mit gelöster Bremse auf geneigter Ebene abrollen (OFTINGER, a.a.O. S. 545 f.).
Als Motorfahrzeug ist das Fahrzeug daher auch anzusehen, wenn es von einem andern geschleppt oder gestossen wird (vgl.BGE 63 II 198). Die VRV bestätigt es, indem sie im Randtitel zu Art. 72 vom Schleppen von Motorfahrzeugen spricht und in dieser Bestimmung wie in Art. 71 das geschleppte oder gestossene Auto als Motorwagen bezeichnet. Es wäre denn auch verfehlt, das Gegenteil daraus ableiten zu wollen, dass Art. 72 Abs. 2 VRV neben der allgemeinen Bestimmung des Art. 10 Abs. 2 SVG für den Lenker des geschleppten Motorfahrzeugs den Führerausweis verlangt. Abgesehen davon, dass die VRV an zahlreichen Stellen Grundsätze wiederholt, die bereits im SVG enthalten sind, ist die erwähnte Vorschrift in Art. 72 Abs. 2 VRV nicht überflüssig, weil sie der Klärung der Frage dient, ob der Lenker eines geschleppten Motorwagens als Führer zu betrachten sei, was nicht ohne weiteres selbstverständlich ist. Nicht massgebend für die Auslegung des Motorfahrzeugbegriffs ist, dass das Motorfahrzeug, das durch ein anderes im Schlepptau gezogen wird, im Haftpflichtrecht einem Anhänger gleichgestellt wird und der Halter des im Betrieb befindlichen Zugwagens auch für den durch das geschleppte Fahrzeug verursachten Schaden haftet (Art. 69 Abs. 1 SVG). Wegen dieser haftpflichtrechtlichen Sonderregelung das geschleppte Fahrzeug von der allgemeinen Ordnung auszunehmen, nach der auch nicht im Betrieb stehende Motorfahrzeuge als solche gelten, wäre nicht gerechtfertigt, dies um so weniger, als die dem Verkehr drohenden Gefahren beim Abschleppen keineswegs geringer sind als z.B. beim Schieben oder Stossen eines Motorfahrzeuges.
3. Der Lenker eines geschleppten Motorwagens trägt im Vergleich zum selbständigen Führer insofern eine geringere Verantwortung, als er sich bei der Befolgung der Verkehrsregeln weitgehend den Entscheidungen des Führers des Zugwagens anzupassen hat. Anderseits erfordern die Einhaltung der Spur und die ständige Anpassung des geschleppten Fahrzeuges an die Bewegungen, Richtungsänderungen und die Geschwindigkeit des Zugwagens eine erhöhte Anspannung und gesteigerte Aufmerksamkeit. Die Aufgabe des Lenkers des geschleppten Wagens wird noch dadurch erschwert, dass er nebst der Beobachtung der Verkehrsvorgänge und des Zugwagens sowie der Bedienung des Lenkrades und Bremspedals sein Augenmerk dauernd auch auf das Schleppseil richten muss, um zu verhindern, dass es schlapp wird und sich in den Vorderrädern seines Fahrzeuges verwickeln kann oder dass es beim Wiederanziehen eine ruckweise Beschleunigung hervorruft. Die Anforderungen, die an den Lenker des geschleppten Motorwagens gestellt werden, stehen daher jenen, die der selbständige Führer zu erfüllen hat, gesamthaft betrachtet kaum nach. Dass er einem solchen gleichzusetzen ist, folgt auch daraus, dass er nach Art. 72 Abs. 2 VRV im Besitze desFührerausweises seinmuss (ebenso SCHULTZ, Die Strafbestimmungen des SVG, S. 186).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen; das Urteil des Obergerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 16. Februar 1965 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.