BGE 92 IV 156 |
40. Entscheid der Anklagekammer vom 29. August 1966 i.S. X. gegen Kriminalkommission des Kantons Appenzell-I. Rh. |
Regeste |
1. Art. 351 StGB, Art. 264 BStP. Ist die Tat nur auf Antrag strafbar, so kann der Antragsteller die Anklagekammer auch anrufen, wenn kein Gerichtsstandskonflikt vorliegt (Erw. 1). |
3. Art. 220 StGB. Gerichtsstand bei Vorenthalten von Unmündigen (Erw. 3). |
Sachverhalt |
A.- Die im Kanton Thurgau heimatberechtigten und in Vaduz (Fürstentum Liechtenstein) niedergelassenen Eheleute X. versuchten aus einer Ehekrise herauszukommen, indem sie vereinbarten, Frau X. solle vom 15. Januar 1966 an für sechs Monate ihren Wohnsitz nach Chur verlegen und berechtigt sein, die beim Ehemann verbleibenden unmündigen Kinder R. und M. jeden zweiten Mittwochnachmittag in Vaduz zu besuchen und sie alle vierzehn Tage über das Wochenende nach Chur zu nehmen. Frau X. scheint sich dann erst am 1. Februar 1966 nach Chur begeben zu haben. Mittwoch, den 27. Juli 1966 lebte sie von ihrem Ehemanne noch immer getrennt. Sie holte am Nachmittag dieses Tages mit ihrem in St. Gallen wohnhaften Bruder Georges B. die beiden Kinder beim Ehemann in Vaduz ab, um angeblich das Besuchsrecht auszuüben. In Wirklichkeit nahm sie sie auf Anraten eines Anwaltes nach St. Gallen mit, um die Sache "ins Rollen" zu bringen. B. stellte Frau X. und den beiden Kindern sein Ferienhaus im Kanton Appenzell - I. Rh. zur Verfügung und liess X. auf telephonische Anfrage wissen, dass sie dort verbleiben würden, bis X. seine Ehefrau bitte, zu ihm nach Vaduz zurückzukehren.
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B.- X. reichte am 28. Juli 1966 gegen seine Frau und gegen Georges B. beim Untersuchungsamt des Kantons Appenzell-I. Rh. Strafanzeige wegen Entziehens und Vorenthaltens von Unmündigen ein (Art. 220 StGB).
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Mit Entscheid vom 10. August 1966 verneinte die Kriminalkommission von Appenzell-I. Rh. die Zuständigkeit dieses Kantons zur Strafverfolgung. Sie führte aus, der Entschluss der beiden Beschuldigten, die Kinder vorläufig in die Schweiz mitzunehmen, müsse bereits in Vaduz gefasst worden sein. Deshalb sei der eingeklagte Tatbestand mit hoher Wahrscheinlichkeit als in Vaduz gesetzt zu betrachten. Der gegenwärtige Aufenthalt der Kinder in Appenzell sei dabei lediglich sekundärer Natur. Sei nun aber die strafbare Handlung im Auslande verübt worden oder sei der Ort der Begehung nicht zu ermitteln, so seien gemäss Art. 348 Abs. 1 StGB die Behörden des Ortes zuständig, wo der Täter wohnt. Georges B. und Frau X. hätten ihren Wohnsitz in St. Gallen bzw. in Chur, jedenfalls nicht in Appenzell. Deshalb sei Appenzell-I. Rh. nicht zuständig.
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C.- Mit Eingabe vom 24. August 1966 beantragt X. der Anklagekammer des Bundesgerichts, den zur Verfolgung und Beurteilung zuständigen Kanton zu bezeichnen.
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Die Anklagekammer zieht in Erwägung: |
1. Das Entziehen und Vorenthalten von Unmündigen ist nur auf Antrag strafbar. X. ist Antragsteller. Ein solcher ist grundsätzlich berechtigt, den Gerichtsstand durch die Anklagekammer des Bundesgerichtes bestimmen zu lassen. Die Anklagekammer hat ihm diese in Art. 264 BStP nicht ausdrücklich erwähnte Befugnis in Anlehnung an den Entscheid in Sachen Pedler (BGE 73 IV 55) zunächst bei negativen Gerichtsstandskonflikten zuerkannt und später entschieden, dass er sie auch bei einem positiven Kompetenzkonflikt habe (BGE 88 IV 143). Im vorliegenden Fall liegt weder ein negativer noch ein positiver Kompetenzkonflikt vor, denn bis jetzt hat nur der Kanton Appenzell-I. Rh. zur Frage der Zuständigkeit Stellung genommen. Trotzdem rechtfertigt es sich auch hier, das in Art. 270 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 268 Ziff. 2 BStP vorgesehene Recht des Antragstellers, Einstellungsbeschlüsse letzter Instanz mit der Nichtigkeitsbeschwerde beim Kassationshof anzufechten, durch die Befugnis zur Anrufung der Anklagekammer zu ersetzen. Damit es überhaupt zu einem Kompetenzkonflikt kommen könnte, müsste X. zuerst in der vom kantonalen Prozessrecht vorgeschriebenen Form in einem weiteren Kanton Strafantrag stellen (BGE 73 IV 207). Dieser Umweg wäre nicht sinnvoll. Da Art. 264 BStP den Beschuldigten nicht nur bei Gerichtsstandskonflikten sondern schlechthin legitimiert, die Anklagekammer anzurufen, ist nicht zu ersehen, weshalb die Legitimation des Antragstellers auf Fälle von Gerichtsstandskonflikten beschränkt sein sollte (vgl. COUCHEPIN, ZStrR 63 115; WAIBLINGER, ZBJV 85 489).
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Daher ist unerheblich, ob die Beschuldigten am 27. Juli 1966 schon in Vaduz entschlossen waren, dem Gesuchsteller die beiden Kinder nicht mehr zurückzugeben, und ob sie ihm diese schon dadurch im Sinne des Art. 220 StGB entzogen haben, dass sie sie zwecks Ausübung des vereinbarten Besuchsrechtes in Vaduz abholten, oder erst dadurch, dass sie die Kinder nach Ablauf der Besuchsfrist, also in einem Zeitpunkt, wo sie sich wahrscheinlich bereits in der Schweiz befanden, nicht zurückbrachten. Der Erfolg der Tat ist auf alle Fälle in der Schweiz eingetreten, nämlich im Kanton Appenzell-I.Rh., in den die Kinder verbracht wurden und in dem Frau X. sie verwahrte.
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3. Übrigens macht sich nach Art. 220 StGB nicht nur strafbar, wer die unmündige Person dem Inhaber der elterlichen Gewalt entzieht, sondern auch, wer sie ihm vorenthält, sie z.B. im Zeitpunkt, wo er sie dem Inhaber der elterlichen Gewalt zurückgeben sollte, bei sich behält (vgl. BGE 80 IV 70, BGE 91 IV 232).
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Gerade das wirft der Gesuchsteller den Beschuldigten in der Strafanzeige vor, indem er geltend macht, sein Anwalt habe sie am 28. Juli 1966 erfolglos aufgefordert, die beiden Knaben zurückzugeben. Die vorgeworfene Unterlassung ist überall da ausgeführt, wo die Beschuldigten hätten tätig werden müssen, um der Aufforderung zu entsprechen, namentlich also im Kanton Appenzell-I.Rh., wo die Knaben verweilten.
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Auch unter diesem Gesichtspunkt befindet sich daher der Gerichtsstand im Kanton Appenzell-I.Rh.
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Demnach erkennt die Anklagekammer:
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