BGE 93 IV 115
 
29. Urteil des Kassationshofes vom 19. Dezember 1967 i.S. Meier gegen Statthalteramt des Bezirkes Horgen.
 
Regeste
Art. 4 Abs. 1 VRV.
Diese Regel gilt auch auf Autobahnen, insbesondere nachts beim Fahren mit Abblendlicht.
 
Sachverhalt
A.- Meier führte am 9. November 1966 nachts um 19 Uhr einen Personenwagen "Renault-Dauphine" von Richterswil auf der Autobahn N 3 Richtung Zürich. Seine Fahrgeschwindigkeit betrug ca. 95 km/Std. Als er auf der Höhe von Horgen einen langsamer fahrenden Kleinwagen einholte, schaltete er das Abblendlicht ein und schickte sich zum Überholen an. Beim Wechseln des Fahrstreifens gewahrte er im Lichtkegel des Abblendlichts einen Stuhl, der im rechten Teil der linken Fahrspur lag. Es gelang Meier, vor diesem Hindernis nach links auszuweichen und sein Fahrzeug vor der Leitplanke am linken Strassenrand ebenso brüsk wieder nach rechts zu steuern, wobei es jedoch ins Schleudern geriet, nach links kippte und auf dem Dach weiterrutschte, bis es am rechten Strassenrand durch die Leitplanke aufgehalten wurde.
B.- Das Statthalteramt des Bezirkes Horgen verfällte Meier wegen Nichtbeherrschung des Fahrzeuges und Nichtanpassung der Geschwindigkeit in eine Busse von Fr. 30.-.
Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Horgen sprach Meier auf dessen Begehren frei mit der Begründung, dass ihm die Ausweichbewegung nicht als schuldhaftes Verhalten angerechnet werden könne und dass er auf der Autobahn nicht verpflichtet gewesen sei, die an sich nicht übersetzte Geschwindigkeit von 95 km/Std herabzusetzen, um sie der Reichweite der Abblendlichter anzupassen.
C.- Dieser Freispruch wurde vom Statthalteramt Horgen durch kantonale Nichtigkeitsbeschwerde angefochten. Am 26. Oktober 1967 erklärte die I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich in teilweiser Gutheissung der Beschwerde den Verzeigten Meier der Übertretung von Art. 4 Abs. 1 VRV schuldig und büsste ihn in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG mit Fr. 20.-.
D.- Meier bestreitet mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde, dass Art. 4 Abs. 1 VRV auf Autobahnen in gleicher Weise wie auf andern Strassen anwendbar sei, und beantragt, er sei freizusprechen.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Nach der ausdrücklichen Bestimmung des Art. 1 Abs. 2 SVG gelten die Verkehrsregeln dieses Gesetzes (Art. 26-57 SVG) und die sie ergänzenden Vollzugsvorschriften der Verordnung (VRV) auf allen dem öffentlichen Verkehr dienenden Strassen. Unter diese fallen gemäss Art. 1 VRV auch die dem Motorfahrzeugverkehr vorbehaltenen Autobahnen (Abs. 3). Soweit Gesetz und Verordnung keine Ausnahmen vorsehen, finden daher die allgemeinen Verkehrsregeln, so auch diejenigen betreffend die Geschwindigkeit, auf Autobahnen ebenso Anwendung wie auf andern öffentlichen Strassen. Der Bundesrat, der nach Art. 43 Abs. 3 SVG für Autobahnen besondere Verkehrsregeln erlassen kann, hat zwar von dieser Ermächtigung in Art. 36 VRV Gebrauch gemacht. Von den verschiedenen Sonderregeln, die dort abschliessend aufgeführt werden, betrifft aber keine die Fahrgeschwindigkeit der auf Autobahnen verkehrenden Motorfahrzeuge. Dies bedeutet, dass die Geltung der allgemeinen Geschwindigkeitsvorschriften, namentlich der Art. 32 Abs. 1 SVG und Art. 4 Abs. 1 VRV, auf Autobahnen bewusst nicht eingeschränkt werden wollte. Die Absicht des Gesetzgebers, keine weitern als die ausdrücklich festgelegten Ausnahmen zuzulassen, wird in Art. 36 Abs. 5 VRV noch besonders hervorgehoben, indem dort bestimmt wird, dass auf Autobahnen, soweit keine Sonderregeln bestehen, die allgemeinen Fahrregeln gelten.
2. Der Beschwerdeführer ist der Meinung, es bestehe kein zwingendes Bedürfnis für die uneingeschränkte Anwendung von Art. 4 Abs. 1 VRV auf Autobahnen, auf denen mit Fussgängern, Radfahrern, Handkarren, Pferdefuhrwerken, Traktoren und Kleinmotorrädern nicht gerechnet werden müsse. Da praktisch als Hindernisse nur Motorfahrzeuge in Frage kämen und angenommen werden dürfe, dass nachts ihre Schlusslichter bei klarem Wetter vorschriftsgemäss auf eine Entfernung von mindestens 200 m sichtbar seien, entfalle die Notwendigkeit, innerhalb der Reichweite der Scheinwerfer anhalten zu können. Diese Auffassung verkennt, dass die Bestimmung des Art. 4 Abs. 1 VRV nicht nur dem Schutze der Strassenbenützer dient, die auf Autobahnen nicht verkehren dürfen. Ausserdem ist auch auf Autobahnen nicht von Gegebenheiten auszugehen, die dem Idealfall entsprechen, sondern von den tatsächlichen Verhältnissen, die nach der Erfahrung des Lebens nicht ausser Betracht gelassen werden können. Freilich ist die Gefahr des Zusammentreffens mit unbeleuchteten Hindernissen auf gewöhnlichen Strassen grösser als auf Autobahnen, doch ist sie auf diesen nicht so selten, dass ihre Möglichkeit unberücksichtigt bleiben darf. So ist auch auf Autobahnen mit Tieren zu rechnen, die sich auf die Fahrbahn verirren oder von vorausfahrenden Fahrzeugen angefahren werden und die Fahrbahn nicht mehr verlassen können. Ebenso tritt verhältnismässig häufig der Fall ein, dass Ladegut von fahrenden Fahrzeugen herabfällt und den nachfolgenden Verkehr behindert. Anlass zu Auffahrkollisionen geben auch immer wieder Motorfahrzeuge, die hinten nicht oder nur schlecht beleuchtet sind, vor allem aber auch stillstehende Fahrzeuge, die infolge einer Betriebsstörung oder eines Unfalles die Fahrbahn versperren, ohne dass sie sofort beiseitegeschafft oder durch Sicherungsmassnahmen für den übrigen Verkehr rechtzeitig und auf genügende Entfernung kenntlich gemacht werden können. Auch kommt es hin und wieder vor, dass ein Verunfallter, z.B. ein gestürzter Motorradfahrer, bewusstlos oder in verletztem Zustande während kürzerer oder längerer Zeit auf der Fahrbahn liegen bleibt. Trotz der Möglichkeit solcher Hindernisse um der Erreichung hoher Geschwindigkeiten willen auf das Gebot des Fahrens auf Sicht ganz oder teilweise zu verzichten, wäre unverantwortlich. Auch auf Autobahnen geht die Sicherheit des Verkehrs und der Schutz von Menschenleben dem Streben nach Zeitgewinn vor.
Unzutreffend ist auch der Einwand, dass auf Autobahnen, wenn Art. 4 Abs. 1 VRV uneingeschränkt gelte, wegen des Gegenverkehrs fast dauernd nur mit einer Höchstgeschwindigkeit von 60 km/Std gefahren werden könnte und dass sie infolgedessen ihrer Zweckbestimmung als Schnellverkehrsstrassen entfremdet würden. Wenn auch in den Fällen, in denen die überblickbare Strecke durch die Abblendlichter bestimmt wird, von der geringsten Reichweite der abgeblendeten Scheinwerfer als massgebendem Wert, somit von einer auf der linken Fahrbahnseite beleuchteten Strecke von 50 m auszugehen ist (Art. 13 bis Abs. 2 lit. c des BRB vom 9. März 1959 über die Änderung der MFV), so erlaubt diese Sichtweite unter günstigen Voraussetzungen (trockener Belag, gute Bremsen und einwandfreie Reifen) immerhin Geschwindigkeiten von 60-70 km/Std. In Wirklichkeit muss aber auf Autobahnen im Nachtverkehr nicht dauernd mit der der Reichweite des Abblendlichts angepassten Geschwindigkeit gefahren werden. Abgesehen davon, dass sich nicht jederzeit entgegenkommende Fahrzeuge nähern und die richtunggetrennten Fahrbahnen auch nicht überall parallel zueinander oder auf gleicher Höhe verlaufen, so dass trotz Gegenverkehr streckenweise oder doch oft für kürzere Zeit das Fernlicht eingeschaltet werden kann, gibt es auch immer wieder Teilstücke, so jedenfalls im Bereiche von Ausfahrten, Signaltafeln, Rastplätzen usw., die durch ortsfeste Lichtanlagen so hell erleuchtet werden, dass auch beim Fahren mit Abblendlicht Geschwindigkeiten von über 70 km/Std. möglich sind. Dazu kommt, dass die Mittelstreifen der Autobahnen zum mindesten teilweise bereits bepflanzt sind oder noch werden und dass deshalb auf diesen Strecken in absehbarer Zeit, sobald die Sträucher einen genügenden Blendschutz bieten, unabhängig von Gegenverkehr mit Fernlicht gefahren werden kann.
Der Beschwerdeführer anerkennt selber, dass die Bemessung der zulässigen Geschwindigkeit auch auf Autobahnen sich nach den Sichtverhältnissen zu richten hat, wie es Art. 32 Abs. 1 SVG vorschreibt. Wie nachts dieser Grundsatz sinnvoll und nach einem allgemeingültigen Massstab verwirklicht werden könnte, wenn nicht im Sinne von Art. 4 Abs. 1 VRV auf die Sichtweite abgestellt würde, ist nicht zu ersehen und vermag auch der Beschwerdeführer nicht zu sagen. Die deutsche Rechtsprechung, die aus langjähriger Erfahrung schöpfen kann, vertritt denn auch heute noch den Standpunkt, dass auch auf Autobahnen stets auf Sicht gefahren werden müsse und dass Einbrüche in diese Regel abzulehnen seien (FLOEGEL-HARTUNG, Strassenverkehrsrecht, 14. Aufl., S. 353; Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, 16. Band, S. 145). Desgleichen wird im Entwurf einer europäischen Strassenverkehrsordnung, wo Art. 9 eine Art. 4 Abs. 1 VRV entsprechende Vorschrift enthält, keine von dieser Regel abweichende Ausnahmebestimmung vorgesehen, auch nicht unter den Sonderregeln (Art. 42 ff.), die das Fahren auf Autobahnen ordnen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.