BGE 94 IV 81
 
22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 3. Mai 1968 i.S. Bigler gegen Staatsanwaltschaft Zürich.
 
Regeste
1. 1. Art. 96 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2 SVG. Nach beiden Bestimmungen ist strafbar, wer ein nach Art. 16 VVV provisorisch immatrikuliertes Motorfahrzeug nach Ablauf der im Fahrzeugausweis angegebenen Gültigkeitsdauer führt (Erw. 1).
 
Sachverhalt
A.- Bigler führte 1965 einen Personenwagen Chevrolet unverzollt in die Schweiz ein und erwirkte gestützt auf Art. 16 VVV die provisorische Immatrikulation für die Zeit vom 25. Januar bis 31. Dezember 1966. Er erhielt einen entsprechenden Fahrausweis (Art. 17 VVV) und die Kontrollschilder "SG 2288-Z-1966". Die Haftpflichtversicherung war ebenfalls bis 31. Dezember 1966 befristet.
Am 18. Januar 1967 fuhr Bigler mit dem Wagen von Wil/SG nach Zürich, wo er von der Polizei wegen Führens eines Motorfahrzeuges ohne gültigen Fahrzeugausweis und ohne Haftpflichtversicherung angezeigt wurde.
B.- Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Bigler am 24. Oktober 1967 in Anwendung von Art. 96 Ziff. 2 SVG zu einer nach einjähriger Bewährung löschbaren Busse von Fr. 300.--, wobei es subjektiv einen besonders leichten Fall im Sinne von Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG annahm.
Das Obergericht des Kantons Zürich, an das die Staatsanwaltschaft Berufung erklärt hatte, verneinte das Vorliegen eines besonders leichten Falles und verurteilte Bigler am 15. Februar 1968 zu einer Gefängnisstrafe von drei Tagen und einer Busse von Fr. 748.--. Der Vollzug der Gefängnisstrafe wurde bedingt aufgeschoben, unter Ansetzung einer zweijährigen Probezeit.
C.- Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass es sich um einen besonders leichten Fall gemäss Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG handle. Er wendet sich vor allem gegen die Gefängnisstrafe.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Die Vorinstanzen haben den Beschwerdeführer nur nach Art. 96 Ziff. 2 SVG bestraft. Er ist aber nicht bloss ohne Haftpflichtversicherung, sondern auch ohne gültigen Fahrzeugausweis gefahren und hätte deshalb auch nach Art. 96 Ziff. 1 Abs. 1 SVG bestraft werden sollen, wobei die nach Ziffer 2 verwirkte Strafe gemäss Art. 68 Ziff. 1 StGB zu schärfen gewesen wäre. Das Fahren ohne vorgeschriebene Haftpflichtversicherung umfasst nicht notwendig auch das Führen eines Motorfahrzeuges ohne den erforderlichen Fahrzeugausweis. Art. 11 Abs. 1 SVG schreibt zwar vor, dass der Fahrzeugausweis nur erteilt werden darf, wenn eine Haftpflichtversicherung besteht. Die Behörde kann jedoch den Fahrzeugausweis versehentlich abgeben, ohne dass eine Versicherung abgeschlossen wurde; oder eine Versicherung kann vorgetäuscht werden. Indessen kann hier mangels Anklage nur Art. 96 Ziff. 2 SVG zur Beurteilung gelangen.
Die Bestimmung fand sich schon im Entwurf des Bundesrates zum SVG, allerdings beschränkt auf die Verletzung von Verkehrsregeln. In der Botschaft vom 24. Juni 1955 heisst es (S. 62), der Richter werde in der Regel einen besonders leichten Fall nur annehmen können, wenn der Täter für die Abweichung von der Verkehrsregel einen vernünftigen Grund gehabt und tatsächlich niemanden gefährdet habe. Die ständerätliche Kommission nahm dann die Bestimmung in die allgemeinen Vorschriften über die Strafbarkeit (damals Art. 93) hinüber und stellte gleichzeitig gegenüber der inzwischen vom Nationalrat beschlossenen Abänderung - nach der die Möglichkeit, von Strafe Umgang zu nehmen, schon für leichte Fälle gegeben sein sollte - die bundesrätliche Fassung, welche sie nur für besonders leichte Fälle vorsah, wieder her. Beim Grundgedanken, dass die Bestimmung nur dort angewandt werden solle, wo eine noch so geringe Strafe, weil dem Verschulden in keiner Weise angemessen, als stossend hart erschiene (vgl. BGE 91 IV 152 Erw. 3), ist es jedoch bei der Ausdehnung auf sämtliche Straftatbestände des SVG geblieben. Aus der Begrenzung auf besonders leichte Fälle ergibt sich, dass der Richter von der Befugnis nur einen sehr zurückhaltenden Gebrauch machen und die Regel nur anwenden soll, wenn das Verhalten des Täters - trotzdem der gesetzliche Straftatbestand an sich erfüllt ist - nach den besonderen Umständen nicht als strafwürdig erscheint (vgl. SCHULTZ, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr, S. 91 ff.). Keinesfalls darf sie dazu dienen, die gesetzlichen Strafandrohungen zu entwerten oder abzuschwächen. Das ist namentlich da zu beachten, wo das SVG eine Widerhandlung zum Vergehen erhoben hat und dadurch betont, dass die betreffenden Gesetzesverstösse im allgemeinen als besonders schwer anzusehen sind; umso seltener wird eine solche Widerhandlung als besonders leichter Fall angesehen werden können (SCHULTZ, a.a.O., S. 93).
Das gilt vorbehaltlos auch für das Führen eines Motorfahrzeuges ohne die vorgeschriebene Haftpflichtversicherung (Art. 96 Ziff. 2 SVG). Der Gesetzgeber hat für diesen Tatbestand bewusst und gewollt eine Mindeststrafe von drei Tagen Gefängnis, verbunden mit einer Busse in der Höhe einer Jahresprämie der Versicherung, angedroht, um das Führen eines unversicherten Motorfahrzeuges möglichst wirksam zu bekämpfen. Dem Richter steht es daher nicht zu, die Mindeststrafe mit Hilfe von Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG herabzusetzen oder gar auszuschalten, nur weil er sie zu rigoros findet (vgl. BADERTSCHER/SCHLEGEL, S. 279).
Hieran ändert nichts, dass gemäss Art. 76 Abs. 2 SVG Ersatzansprüche für Personenschäden, die durch den Gebrauch von nichtversicherten und nicht mit gültigen Kontrollschildern oder Kennzeichen versehenen Motorfahrzeugen entstehen, vom Bund gedeckt werden und dass nach Art. 77 Abs. 1 SVG für Schäden, die ein nicht versichertes Fahrzeug verursacht, der Kanton haftet, wenn er für das Fahrzeug Ausweis und Kontrollschilder abgegeben hat. Die Mindeststrafen des Art. 96 Ziff. 2 SVG sind ungeachtet der im gleichen Gesetze vorgesehenen Deckung der Schäden durch die öffentliche Hand aufgestellt worden, weil nach Art. 76 Abs. 2 SVG vom Bund nur Personen-, nicht auch Sachschäden gedeckt werden. Der Staat springt nicht zur Entlastung derjenigen Motorfahrzeugführer ein, die sich des Fahrens mit einem nichtversicherten Fahrzeug schuldig gemacht haben, sondern er haftet zum Schutze der Geschädigten, die sonst meistens für ihre Ersatzansprüche keine oder nur ungenügende Deckung fänden. Dementsprechend regelt Art. 76 Abs. 2 SVG den Rückgriff des Bundes auf die Schuldigen oder die für die Verwendung des nicht versicherten Fahrzeuges Verantwortlichen, so wie Art. 77 Abs. 2 SVG den Rückgriff des Kantons auf den nicht gutgläubigen Halter vorsieht. Deshalb bildet die staatliche Deckung allfällig entstehenden Schadens für den fehlbaren Fahrzeugführer keinerlei Entschuldigung und soll ihm in der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht zugutekommen. Dies scheint SCHULTZ nicht genügend zu beachten, wenn er die Strafdrohung des Art. 96 Ziff. 2 SVG, besonders die obligatorische Gefängnisstrafe, im Hinblick auf Art. 76 Abs. 2 und 77 Abs. 1 SVG als reichlich streng bezeichnet (a.a.O., S. 285, Fussnote 70).
Aus diesen Gründen kann von einer Anwendung des Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG auf den vorliegenden Fall nicht ernsthaft die Rede sein...
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.