BGE 96 IV 82
 
20. Urteil des Kassationshofes vom 12. Juni 1970 i.S. St. gegen Generalprokurator des Kantons Bern
 
Regeste
Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG.
 
Sachverhalt
A.- St. ist am 29. Oktober 1964 wegen Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustande zu 10 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Am 22. Mai 1969 machte er sich des gleichen Vergehens erneut schuldig. Der Gerichtspräsident von Wangen verurteilte ihn deswegen am 20. November 1969 zu 6 Wochen Gefängnis und ordnete gemäss Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG die Veröffentlichung des Urteils an.
Auf Appellation des Angeschuldigten setzte das Obergericht des Kantons Bern durch Urteil vom 17. Februar 1970 die Strafe auf 30 Tage Gefängnis herab, bestätigte dagegen die Anordnung der Urteilspublikation, indem es annahm, dass bei der Berechnung der Fünfjahresfrist auf die Begehung der neuen Tat, nicht auf den Zeitpunkt der erneuten Verurteilung abzustellen sei.
B.- St. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, die vom Obergericht angeordnete Veröffentlichung des Urteils sei aufzuheben. Er macht geltend, die neue Strafe sei nach Ablauf von fünf Jahren seit der früheren Verurteilung ausgesprochen worden, so dass die Urteilspublikation unzulässig sei.
C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt Abweisung der Beschwerde.
 
Der Kassationshofzieht in Erwägung:
Wie der Kassationshof in BGE 92 IV 187 ausgeführt hat, schreibt Art. 102 Ziff. 2 SVG in den genannten zwei Fällen die Veröffentlichung des Strafurteils zwingend vor. Der Richter hat daher im Unterschied zu andern Fällen nicht zu prüfen, ob die Urteilspublikation gemäss Art. 61 StGB im öffentlichen Interesse geboten sei, sondern muss diese Voraussetzung von Gesetzes wegen als erfüllt annehmen.
Die Vorinstanz hat sich bei der Berechnung der Fünfjahresfrist nicht an den Wortlaut des Gesetzes gehalten, sondern die auch von SCHULTZ (Strafbestimmungen des SVG, S. 102) geteilte Auffassung vertreten, dass richtigerweise darauf abzustellen sei, ob die neue Tatbegehung in die fünfjährige Frist falle, ansonst der Täter durch Verzögerung der rechtskräftigen Verurteilung die Frist ablaufen lassen und die Urteilspublikation ausschliessen könnte. Der Einwand hat etwas für sich. Es erscheint in der Tat nicht ganz befriedigend, dass hauptsächlich bei Verfehlungen, die erst im vierten oder fünften Jahr nach der früheren Verurteilung begangen werden, die Frage der Anwendung von Art. 102 Ziff. 2 lit. b von der Dauer des kantonalen Verfahrens und damit oft von Zufälligkeiten abhängt und erst im Zeitpunkt der neuen rechtskräftigen Verurteilung beantwortet werden kann. Allein daraus ergibt sich noch nicht, dass der Wortlaut der Bestimmung vernünftigerweise nicht dem wirklichen Sinne des Gesetzes entsprechen könne und folglich der Auslegung bedürfe (BGE 95 IV 73 Erw. 3a). Jedenfalls steht dem in Art. 102 Ziff. 2 lit. b umschriebenen Rückfallsbegriff nicht entgegen, dass die Rückfallsbestimmungen des Strafgesetzbuches (Art. 67 und 108) darauf abstellen, ob die massgebende Frist im Zeitpunkt der Tat abgelaufen sei oder nicht. Art. 102 Ziff. 1 SVG sieht ausdrücklich vor, dass das Strassenverkehrsgesetz abweichende Vorschriften aufstellen kann und dass insoweit die allgemeinen Bestimmungen des StGB keine Anwendung finden. Auch der Umstand, dass sich ein Strafverfahren aus irgendwelchen Gründen in die Länge ziehen und deswegen die gesetzlich vorgesehene Massnahme oder Strafe wegen Zeitablaufes nicht mehr verhängt werden kann, ist nichts Aussergewöhnliches; ein Beispiel dafür ist der Eintritt der Verfolgungsverjährung. Dazu kommt namentlich, dass in diesen Fällen der Fristenlauf eine andere Bedeutung hat als in Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG. Während dort die Versäumung der Frist den Wegfall der an die Tat geknüpften Rechtsfolge schlechthin nach sich zieht, trifft dies hier nicht zu. Kann der Motorfahrzeugführer, der innert der Frist von fünf Jahren erneut angetrunken fährt, wie im vorliegenden Falle erst nach Ablauf dieser Zeitspanne bestraft werden, so heisst das nicht, dass die Veröffentlichung des Urteils überhaupt nicht mehr angeordnet werden könne. Vielmehr bleibt die Möglichkeit der fakultativen Urteilspublikation nach Art. 61 StGB offen, und unter Umständen können gleichzeitig auch die Voraussetzungen zur Publikation nach Art. 102 Ziff. 2 lit. a SVG gegeben sein. Es kann somit nicht die Rede davon sein, dass der Beschuldigte es in der Hand habe, die Urteilspublikation durch Verzögerung des Verfahrens auszuschliessen.
Wie die Entstehungsgeschichte des Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG zeigt, ist ein Versehen des Gesetzgebers nicht anzunehmen. In der Gesetzesberatung wurde zwar nicht erörtert, ob es zweckmässiger sei, auf die Tatbegehung oder die neue Verurteilung abzustellen. Dagegen war lange Zeit umstritten, ob neben der Urteilsveröffentlichung auch die Verwaltungsbehörden zur Publikation der Ausweisentzüge berechtigt sein sollten. Die Befürworter, die nach anfänglicher Opposition im Nationalrat durchdrangen, dann aber am Widerstand des Ständerates scheiterten, führten zur Begründung ihres Standpunktes immer wieder an, dass eine Urteilspublikation, die nicht rasch auf die Tat folge, nicht wirksam genug sei und dass die Veröffentlichung des Urteils oft zu einer ungerechtfertigten Härte führe, wenn zwischen der Verfehlung und der Urteilsfällung längere Zeit verstreiche; ferner könne der Betroffene durch Erschöpfung aller Rechtsmittel das Strafverfahren absichtlich verlängern und dadurch erreichen, dass der Richter wegen Zeitablaufes auf die Publikation verzichte (Amtliches Bulletin NR 1956 S. 601: Votum Huber und Grendelmeier; 1958 S. 465: Votum Eggenberger, S. 659: Votum Grendelmeier; Protokoll nationalrätl. Kommission 1958 S. 513/515). Wenn trotz diesen Einwänden am Text des Art. 102 Ziff. 2 lit. b festgehalten wurde, so kann dies nur bedeuten, dass der Gesetzgeber diejenigen Rückfälle, die nicht innert fünf Jahren seit der früheren Verurteilung gerichtlich beurteilt werden, von der obligatorischen Publikation bewusst ausnehmen wollte, um zu verhindern, dass diese Massnahme auch noch längere Zeit nach Ablauf der Frist zur Anwendung komme, was möglich wäre, wenn nur die Tatbegehung in die Fünfjahresfrist fallen müsste. Dass der Gesetzgeber die obligatorische Urteilspublikation zeitlich beschränken wollte, muss auch daraus geschlossen werden, dass in den eidgenössischen Räten gegen die Veröffentlichung der Namen von Fehlbaren wiederholt Bedenken geäussert, ja Stimmen laut wurden, die eine Vorschrift, durch die Personen an den Pranger gestellt werden, als überholt bezeichneten, und dass die Meinung vorherrschte, es müsse von einer einschneidenden Massnahme, wie sie die Publikation darstelle, mit Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden (vgl. z.B. Votum Müller in Bulletin StR 1958 S. 93/94).
Die in Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG getroffene Lösung ist somit keinesfalls sinnwidrig, weshalb es nicht angeht, über den klaren und eindeutigen Wortlaut der Bestimmung hinauszugehen (BGE 90 IV 187 Erw. 6, BGE 91 IV 196). Das angefochtene Urteil ist demzufolge aufzuheben und die Sache an dieVorinstanz zurückzuweisen, damit sie prüfe, ob die Publikation des Urteils allenfalls nach Art. 102 Ziff. 2 lit. a SVG oder nach Art. 61 StGB anzuordnen sei oder nicht.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird dahin gutgeheissen, dass die vom Obergericht des Kantons Bern gemäss Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG angeordnete Urteilspublikation aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.