BGE 100 IV 248 |
63. Urteil des Kassationshofes vom 13. Dezember 1974 i.S. Iten gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. |
Regeste |
Art. 397 StGB. |
Sachverhalt |
A.- Mit Strafverfügung des Polizeirichters der Stadt Zürich vom 6. September 1973 wurde Gertrud Iten wegen Übertretung von Art. 34 Abs. 3 SVG in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 50.- verurteilt. Die Gebüsste stellte das Begehren um gerichtliche Beurteilung verspätet, weshalb die Verwaltungsbehörde darauf nicht eintrat.
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Mit Eingabe vom 14. Dezember 1973 ersuchte die Gebüsste um Wiederaufnahme des mit der Strafverfügung abgeschlossenen Verfahrens.
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B.- Mit Entscheid vom 13. Juni 1974 ist das Obergericht des Kantons Zürich auf das Wiederaufnahmebegehren nicht eingetreten.
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Die kantonale NichtigkeitsbeschWerde Itens wurde vom zürcherischen Kassationsgericht am 5. November 1974 abgewiesen, soweit auf sie einzutreten war.
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
Die Vorinstanz änderte im angefochtenen Entscheid ihre bisherige Rechtsprechung, wonach die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäss Art. 397 StGB gegen Strafverfügungen zulässig war. Nach erneuter Überprüfung der Frage gelangte sie zur Auffassung, dass im Gegensatz zum ordentlichen Strafverfahren und Strafbefehlsverfahren die Ermittlungen, die dem Erlass einer Strafverfügungen vorausgehen, sehr summarisch seien oder ganz fehlten. Die Beweisgrundlage der Strafverfügungen sei somit regelmässig unvollständig. Die Wiederaufnahme nach Art. 397 StGB setze jedoch voraus, dass der Entscheid auf Grund eines ordentlichen Strafuntersuchungsverfahrens oder Strafverfahrens ergangen sei. Nur in diesen Fällen sei die ausnahmsweise bestehende Unkenntnis erheblicher Beweismittel und Tatsachen ein Mangel, der es rechtfertige, das Verfahren neu aufzurollen. Dies treffe indessen bei der Strafverfügung nicht zu. Finde sich der Gebüsste mit der Bestrafung nicht ab, könne er gerichtliche Beurteilung verlangen und eine Entscheidung im ordentlichen Verfahren herbeiführen. Unterlasse er dies, so begnüge er sich mit dem nach einer summarischen Beweisaufnahme ergangenen Entscheid. In diesen Fällen bestehe kein Bedürfnis, dem Verurteilten das Rechtsmittel der Wiederaufnahme, das in der kantonalen Strafprozessordnung nicht vorgesehen sei, zur Verfügung zu stellen.
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a) Nach Art. 397 StGB haben die Kantone gegenüber Urteilen, die auf Grund des Schweizerischen Strafgesetzbuches oder eines anderen Bundesgesetzes ergangen sind, unter gewissen Voraussetzungen die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten zu gestatten. Als Urteile im Sinne des Gesetzes sind Entscheide sowohl der Gerichte als auch der Verwaltungsbehörden zu betrachten. Dies ergibt sich aus Art. 345 Ziff. 1 Abs. 2 StGB, wonach die Kantone die Beurteilung von Übertretungen einer Verwaltungsbehörde übertragen können. Die Lehre vertritt einstimmig die Meinung, dass der Begriff des Urteils nicht von der Art der entscheidenden Behörde - Richter oder Verwaltungsbehörde - abhängt (CLERC, Des conditions de fond du pourvoi en revision visé par l'art. 397 CP, in: Rec. de travaux offerts à la Soc. suisse des juristes à l'occasion de sa 80e assemblée générale, 1946, S. 62; MAUNOIR, La revision pénale, S. 151; PFENNINGER, SJZ 43, S. 172; CRESPI, ZStR 77, S. 290; ECKERT, Die Wiederaufnahme des Verfahrens, S. 47).
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b) Da das Gesetz mit der Wiederaufnahme ein ausserordentliches Rechtsmittel gegen jedes rechtskräftige Urteil zur Verfügung stellen will, kann die Anwendbarkeit von Art. 397 StGB nicht von den Besonderheiten des kantonalen Verfahrens abhängig gemacht werden. Massgebend ist vielmehr, dass eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt, die in Anwendung eidgenössischen Strafrechtes ergangen ist.
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Solche Entscheidungen werden nach den kantonalen Prozessordnungen in verschiedenen Formen und Verfahren erlassen. Wenn nun die Wiederaufnahme gewissen Beschränkungen in Bezug auf die entscheidende Behörde oder das Verfahren unterliegen würde, könnten sich die Kantone der Verpflichtung, die ihnen Art. 397 StGB auferlegt, entziehen (vgl. CRESPI, a.a.O., S. 289 f.).
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Die Wiederaufnahme des Verfahrens muss auch möglich sein, wenn der Entscheid in einem vereinfachten Verfahren ergangen ist. Gerade in solchen Verfahren werden erhebliche Tatsachen und Beweise leicht übersehen. Dies gilt namentlich für Entscheidungen in Form eines Strafbefehls oder einer Strafverfügung. Diesen Standpunkt vertrat denn auch das Obergericht des Kantons Zürich in seiner bisherigen Rechtsprechung, die von verschiedenen anderen Kantonen übernommen wurde (RS 1961, Nr. 38 und 1962, Nr. 40; SJZ 65, Nr. 140; ebenso die Lehre: CLERC, a.a.O., S. 63; ECKERT, a.a.O., S. 47; zum zürcherischen Recht AEPPLI, Formelles Übertretungsstrafrecht im Kanton Zürich, S. 84).
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Dies ist übrigens die einzige Lösung, die in der praktischen Anwendung zu keinen Schwierigkeiten führt, denn die Einführung von Unterscheidungen, die auf der Art des prozessualen Verfahrens gründen, würde zur Rechtsunsicherheit führen. Dem Bundesgericht würde damit praktisch verunmöglicht, die einheitliche Anwendung von Art. 397 StGB zu überwachen. Massgebend ist demnach allein, dass der Entscheid durch eine zuständige Behörde erlassen und in Rechtskraft erwachsen ist.
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c) Ferner stimmt diese Auffassung mit dem Begriff des Urteils überein, wie er vom Bundesgericht im Zusammenhang mit Art. 31 Abs. 1 StGB verstanden wird. Nach dieser Rechtsprechung gelten Strafbefehle und -verfügungen als Urteile, sofern sie in Rechtskraft erwachsen sind (BGE 92 IV 161 ff.; vgl. AEPPLI, a.a.O., S. 58 ff.). Für Art. 397 StGB drängt sich kein anderer Standpunkt auf.
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3. Da es sich bei der Strafverfügung im vorliegenden Fall um einen rechtskräftigen Entscheid handelt, der von der zuständigen Behörde auf Grund eines Bundesgesetzes erlassen worden ist, ist Art. 397 StGB anwendbar. Dass das kantonale Recht für solche Fälle keine Wiederaufnahme des Verfahrens vorsieht, ändert nichts daran. Denn der Anspruch auf eine Wiederaufnahme ergibt sich unmittelbar aus dem Bundesrecht (vgl. AEPPLI, a.a.O., S. 85). Der angefochtene Entscheid muss deshalb aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen werden, damit sie auf das Wiederaufnahmebegehren der Beschwerdeführerin eintrete.
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