BGE 103 IV 60
 
16. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Februar 1977 i.S. Staatsanwaltschaft Graubünden gegen B. und Konsorten
 
Regeste
Art. 268, Art. 269, Art. 270, Art. 273 BStP.
- gegen Kontumazialurteile (Erw. 1);
- nicht gegen die auf kantonales Recht gestützte Feststellung der kantonalen Behörde, dass in einem Punkte nicht Anklage erhoben wurde (Erw. 2).
 
Aus den Erwägungen:
Der Kontumax selber kann nach der Rechtsprechung die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde nur erheben, wenn er vorher ein zulässiges Wiederaufnahmegesuch gestellt hat und er im ordentlichen Verfahren beurteilt worden ist (BGE 80 IV 137, BGE 102 IV 59), ansonst es an der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges fehlt. Der öffentliche Ankläger befindet sich jedoch nicht in der gleichen Lage. Er kann nach dem kantonalen Verfahrensrecht eine Wiederaufnahme nicht verlangen. Für ihn hat der Entscheid den Charakter eines Endurteils. Im übrigen kann er nicht vorausahnen, was der Kontumax bei seiner Gestellung tun werde, ob er sich dem Säumnisurteil unterwerfen oder dessen Aufhebung verlangen werde. Sollte der erste Fall eintreten, würde die Staatsanwaltschaft einem Urteil gegenüberstehen, das sie gegebenenfalls wegen Ablaufs der Fristen nicht mehr anfechten könnte, und es würde dem Gutdünken des in Abwesenheit Verurteilten anheimgestellt, ob ein eventuell Bundesrecht verletzendes Urteil abgeändert werden könnte oder nicht. Die ungewisse Erwartung, dass jener die Wiederaufnahme verlangen könnte, kann deshalb einem selbständigen Anfechtungsrecht des öffentlichen Anklägers nicht entgegenstehen (so auch im Militärstrafprozess: F. STRÄULI, Das Verfahren gegen den Abwesenden im schweizer. Militärstrafprozess, Diss. Zürich 1956, S. 69/70).
2. Soweit die Staatsanwaltschaft das Urteil des Kantonsgerichts in Punkten anficht, in welchen dieses von einer Verurteilung der Beschwerdegegner absah, weil insoweit keine Anklage erhoben worden sei, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden. Inwieweit nämlich die Vorbringen des öffentlichen Anklägers in der Anklageschrift genügen, um als Anklage in einem bestimmten Punkte gelten zu können, ist eine Frage des kantonalen Verfahrensrechtes, dessen Anwendung das Bundesgericht auf Nichtigkeitsbeschwerde hin nicht überprüfen kann. Daran ändert auch der Hinweis der Beschwerdeführerin auf den Grundsatz "iura novit curia" nichts. Wo er im Bundesrecht verankert ist, gehört er als Regel dem betreffenden Verfahrensrecht an und ist in seiner Tragweite auf dieses beschränkt. Art. 277bis Abs. 2 BStP hat deshalb nur Bedeutung für das Verfahren auf eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, verpflichtet aber die Kantone nicht, dieses Prinzip uneingeschränkt auch zum Gegenstand ihrer eigenen Verfahrensordnung zu machen. Vielmehr ist es denkbar, dass nach einer kantonalen Verfahrensordnung der Richter eine Norm nur insoweit anzuwenden hat, als sie von den Parteien selber angerufen worden ist (vgl. BGE 87 IV 102, BGE 102 IV 106). Hat das zur Folge, dass in einem konkreten Fall ein Täter der Strafe entgeht, so handelt es sich um eine Folge der verfassungsmässigen Kompetenz der Kantone zur Regelung des Strafverfahrens (Art. 64bis Abs. 2 BV). Wenn deshalb in casu die Vorinstanz fand, es sei mit Bezug auf die fraglichen Punkte keine den Anforderungen des Art. 98 Abs. 2 lit. b StPO/GR genügende Anklage erhoben worden, weshalb insoweit keine Verurteilung eintreten könne, so ist das eine Feststellung, bei der es für den Kassationshof sein Bewenden haben muss. Es verhält sich hier im Ergebnis nicht anders als beim Strafantrag, der als Prozessvoraussetzung seiner Form nach ebenfalls durch das kantonale Verfahrensrecht geregelt wird und deren Nichteinhaltung im konkreten Fall der Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs und damit der Anwendung des Bundesstrafrechtes entgegensteht (BGE 78 IV 49, 86 IV 225, 87 IV 111). Soweit aber der kantonale Gesetzgeber den Grundsatz im kantonalen Strafprozessrecht verankert hat - und das ist in Art. 125 Abs. 4 StPO/GR geschehen -, kann dessen Verletzung - wie bereits bemerkt - mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).