BGE 103 IV 65
 
18. Urteil des Kassationshofes vom 20. April 1977 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn gegen W. und M.
 
Regeste
1. Art. 18 Abs. 2 StGB. Eventualvorsatz ist auch dann gegeben, wenn dem Täter der als möglich vorausgesehene Erfolg an sich unerwünscht ist, er aber des primär erstrebten Erfolges wegen dennoch handelt (Erw. I 2).
 
Sachverhalt
Am 12. April 1974 traten W., Insasse des Männerheims Satis in Seon, und M., Rekrut, den Osterurlaub an. In Olten trafen sie aufeinander, tranken erheblich Alkohol und kamen überein, es müsse noch etwas "laufen", worunter sie Schlägereien verstanden. Wahllos griffen die beiden damals rund 23-Jährigen auf offener Strasse ahnungslose Bürger an und schlugen sie grundlos und brutal nieder.
So schlugen sie B. und S. und brachten sie zu Fall. K. stiessen sie ausserdem in die Aare. Sie hatten es auch auf Geld abgesehen.
Das Schwurgericht des Kantons Solothurn bestrafte mit Urteil von 25./26. Mai 1976 W. mit 3 1/3 Jahren Zuchthaus wegen einfachen Raubes, Gefährdung des Lebens und Störung des öffentlichen Verkehrs, M. mit 3 1/2 Jahren Zuchthaus wegen wiederholten einfachen Raubes und Gefährdung des Lebens.
Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt die Staatsanwaltschaft, das Urteil des Schwurgerichts teilweise aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit die beiden Angeklagten im Fall K. statt wegen Lebensgefährdung wegen Versuchs der vorsätzlichen Tötung verurteilt würden und der Angeklagte W. in den Fällen B. und S. statt wegen (verjährter) Tätlichkeiten wegen einfacher Körperverletzung.
Die Beschwerdegegner beantragen Abweisung der Beschwerde.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Die Vorinstanz führt aus, die Angeklagten hätten offensichtlich angenommen, K. werde ihnen seine Barschaft schon auf ihre Drohung hin aushändigen. Hätte er das getan, wäre er voraussichtlich, wie kurz zuvor ein anderer, der anstandslos eine "Schutzgebühr" entrichtet hatte, ungeschoren davongekommen. K. habe sich aber widerspenstig erwiesen, sodass sich die Angeklagten in ihrer "Rockerehre" verletzt gefühlt und die Brutalitäten verübt hätten. Sie bestritten, mit Tötungsabsicht gehandelt zu haben. Dies könne nicht widerlegt werden. Sie seien stark angetrunken gewesen und hätten sich in "Schlägerstimmung" befunden. Bereits zuvor hätten sie verschiedene Passanten grundlos niedergeschlagen und sich gegenseitig ihren "Mut" beweisen wollen. Es müsse ihnen abgenommen werden, dass sie sich in diesem euphorischen Zustand keine Gedanken über das Schicksal ihres Opfers gemacht hätten. In erster Linie sei es ihnen darum gegangen, dem in Rockerkreisen üblichen Grundsatz nachzuleben, wonach eine angedrohte Massnahme auch zu vollstrecken sei. Nichts stütze die Annahme, sie hätten K. wissentlich und willentlich umbringen wollen.
Den Angeklagten könne auch nicht Eventualvorsatz zur Last gelegt werden. Sie hätten zwar ihr Opfer erheblich verletzt und in einer Aprilnacht in einen kalten Fluss mit ziemlich starker Strömung gestossen. Ohne Zweifel hätten sie sich, obwohl unter Alkoholeinfluss, darüber klar sein müssen, dass die Möglichkeit gross war, dass der Mann ertrank. Der dolus eventualis erfordere aber ausser dem Wissen auch den Willen des Täters, d.h. er müsse den Erfolg (den Tod des Opfers) auch wollen, falls er eintrete, indem er sich, namentlich auch dann, wenn er ihm nicht angenehm sei, damit abfinde oder ihn in Kauf nehme (BGE 96 IV 101, BGE 98 IV 66). Dieser Nachweis fehle hier. Die Angeklagten hätten in erster Linie Geld gewollt. Gleichzeitig sei ihr Handeln bestimmt gewesen durch die Lust am Zusammenschlagen eines Wehrlosen, die Befriedigung der "Rockerehre" usw. Dafür jedoch, dass ihnen der Tod des Opfers als Sekundäreffekt ihres tätlichen Vorgehens gleichgültig gewesen wäre, ja dass sie ihn wollten, gebe es keine Anhaltspunkte.
Die Vorinstanz umschreibt sodann in Anschluss an BGE 96 IV 101 und BGE 98 IV 66 auch das Willenselement richtig, wenn sie fortfährt, der Täter müsse den Erfolg (den Tod des Opfers) auch wollen, falls er eintrete, indem er sich, namentlich auch dann, wenn er ihm nicht genehm ist, damit abfinde oder ihn in Kauf nehme.
Die Anwendung dieses Grundsatzes auf den vorliegenden Fall ist aber fehlerhaft und verstösst damit gegen Bundesrecht, wenn die Vorinstanz fortfährt, der Nachweis für diesen Vorsatz fehle. Die Angeklagten hätten in erster Linie Geld gewollt. Gleichzeitig sei ihr Handeln bestimmt gewesen durch die Lust am Zusammenschlagen eines Wehrlosen, die Befriedigung der "Rockerehre" usw. Dafür jedoch, dass ihnen der Tod des Opfers als Sekundäreffekt ihres Vorgehens gleichgültig gewesen wäre, ja dass sie ihn wollten, gebe es keine Anhaltspunkte. Die Vorinstanz nimmt hier an - entgegen der von ihr selber gegebenen Definition - das Willenselement im Eventualvorsatz setze voraus, dass der Erfolg den Tätern gleichgültig war, "ja dass sie ihn wollten". Diese Steigerung zeigt, dass die Vorinstanz diesem "Wollen" unterstellt, der Erfolg müsse den Tätern, wenn nicht gleichgültig, sogar erwünscht sein, wenn auch dieser Erfolg nicht das primäre Motiv der Tat gewesen sei. Die Vorinstanz übersieht die dritte Möglichkeit des Wollens im Eventualvorsatz (wie auch im einfachen Vorsatz und im Gegensatz zur Absicht im engern Sinne). Der Erfolg ist auch dann in Kauf genommen und damit gewollt, wenn der Täter ernsthaft mit dessen Eintritt rechnet und er dennoch handelt, mag ihm dieser Erfolg, für sich allein genommen, auch unerwünscht sein. Die Beschwerdegegner hatten sich vor die Wahl gestellt, die angedrohte Massnahme, das Opfer, falls es das Geld nicht herausgebe, in die Aare zu werfen und dabei das Ertrinken des Opfers in Kauf zu nehmen, sich also mit dessen Tod als Folge des Vollzugs der angedrohten Massnahme abzufinden, oder aber das Opfer entgegen der Androhung nicht in den Fluss zu werfen. Vor dieser Wahl haben sie nach dem völlig verfehlten Kodex ihrer sogenannten "Rockerehre" gehandelt und damit den Tod des Opfers im Sinne des Eventualvorsatzes in Kauf genommen, sie haben das Opfer zu töten versucht. Die Verurteilung wegen Lebensgefährdung im Sinne von Art. 129 StGB ist aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Beschwerdegegner wegen versuchter vorsätzlicher Tötung verurteile (Art. 111 in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 StGB).
b) Gegen 23.40 Uhr des 12. April 1974 war S. auf dem Heimweg bei der Ringstrasse 37 in Olten. W. schlug ihm völlig grundlos dreimal die Faust ins Gesicht. S. wollte fliehen, doch brachte ihn W. durch einen Beinhaken zu Fall und versetzte ihm mehrere Fusstritte. S. täuschte Bewusstlosigkeit vor, worauf W. von ihm abliess. Der Arzt stellte eine Prellung der Unterkieferregion rechts, eine Rippenkontusion links vorne, Schürfwunden im Bereich des rechten Vorderarmes und der linken Hand fest.
b) Der Entscheid der Vorinstanz ist vorweg insofern fehlerhaft, als die nächstleichtere Form der Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit eines Menschen nach der einfachen Körperverletzung gemäss Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 1 StGB nicht die Tätlichkeiten gemäss Art. 126 StGB sind, die nur die unbedeutendsten Angriffe umfassen (BGE 68 IV 85), sondern die fakultative Strafmilderung ermöglichenden leichten Fälle der einfachen Körperverletzung gemäss Art. 123 Ziff. 1 Abs. Satz 2 StGB. Doch ist darauf nicht weiter einzugehen, weil die Vorinstanz schon den Begriff der einfachen Körperverletzung gemäss Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 1 StGB verkannt hat.
c) Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 StGB schützt Körper, körperliche Integrität, körperliche und geistige Gesundheit. Diese Schutzobjekte verletzen erhebliche Eingriffe in die körperliche Integrität, wie Verabreichen von Injektionen oder auch Kahlscheren. Weiter ist unzulässig das Bewirken oder Verschlimmern eines krankhaften Zustandes oder das Verzögern seiner Heilung. Das kann geschehen durch Zufügen äusserer oder innerer Verletzungen und Schädigungen, wie unkomplizierter, verhältnismässig rasch und problemlos völlig ausheilender Knochenbrüche oder Hirnerschütterungen, durch Schläge, Stösse und dergleichen hervorgerufener Quetschungen, Schürfungen, Kratzwunden, ausser wenn sie keine weitere Folge haben als eine vorübergehende harmlose Störung des Wohlbefindens. Wo indessen die auch bloss vorübergehende Störung einem krankhaften Zustand gleichkommt (z.B. durch Zufügen von erheblichen Schmerzen, Herbeiführen eines Nervenschocks, Versetzen in einen Rausch- oder Betäubungszustand), ist eine einfache Körperverletzung gegeben (BGE 68 IV 85/86, BGE 82 IV 43, BGE 83 IV 140, 92 IV 22, BGE 99 IV 209; STRATENWERTH, BT I S. 56 ff.).
d) B. trug am rechten Auge Zeichen eines Faustschlages und an der Unterlippe eine Quetschung davon, S. erlitt eine Prellung der Unterkieferregion rechts, eine Rippenkontusion links vorne sowie Schürfwunden am rechten Vorderarm und an der linken Hand, welche Verletzungen auf Hakenstellen, Fusstritte und vor allem Faustschläge des W. zurückgingen. Sie bewirkten nicht eine bloss harmlose vorübergehende Störung des Wohlbefindens, sondern waren mit erheblichen Schmerzen verbunden und schon deswegen einfache Körperverletzungen. W. hat auch den subjektiven Tatbestand von Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 erfüllt. Wer dem Gegner die Faust ins Gesicht schlägt, sieht die Möglichkeit von zumindest einfachen Verletzungen so nahe vor sich, dass er sie billigt, also mit Eventualvorsatz handelt (BGE 74 IV 83, BGE 99 IV 126). Die Sache ist daher zur Bestrafung wegen einfacher Körperverletzung an die Vorinstanz zurückzuweisen.