BGE 104 IV 28
 
9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 25. Januar 1978 i.S. Jungo gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg
 
Regeste
Art. 26 SVG.
 
Sachverhalt
A.- Am 24. Mai 1977, um ca. 16.10 Uhr fuhr Alfons Jungo mit seinem Personenwagen von Gurmels nach Liebisdorf/FR. Mit einem Tempo von etwa 60 km/h passierte er die Geschwindigkeitsbeschränkungstafel eingangs Liebisdorf und bremste dann auf ungefähr 40 bis 50 km/h ab, als er am rechten Strassenrand vor der Einfahrt zum Schulhausplatz etwa zwanzig Schulkinder sah. Er wich diesen Kindern ein wenig nach links aus, gegen den dort wartenden Schulbus zu, der nachher auf den Schulhausplatz einschwenkte.
Während oder unmittelbar nach dem Kreuzen mit dem Schulbus erblickte Jungo ungefähr 20 m vor sich am linken Strassenrand drei Kinder, die korrekt in seiner Fahrrichtung marschierten. Nach seinen Aussagen lief dann plötzlich der Knabe Anton Spicher gegen die Strassenmitte, machte drei bis vier Sprünge und wurde dann von der linken vorderen Ecke des Personenwagens erfasst und weggeschleudert. Der Knabe blieb schwer verletzt liegen und starb später während des Transportes in das Spital.
B.- Das Zuchtgericht des Seebezirks sprach mit Urteil vom 16. September 1977 Alfons Jungo der fahrlässigen Tötung schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 10 Tagen sowie zu einer Busse von Fr. 800.-.
Auf Strafkassationsbeschwerde des Verurteilten hin bestätigte das Kantonsgericht des Staates Freiburg (Strafkassationshof) am 28. November 1977 das erstinstanzliche Urteil.
C.- Jungo führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag das angefochtene Urteil aufzuheben und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Demgegenüber macht der Beschwerdeführer geltend, es habe für ihn kein Anlass bestanden, langsamer zu fahren und zu hupen. Nach dem Vertrauensprinzip habe er davon ausgehen dürfen, die verkehrserzogenen Kinder würden sich korrekt verhalten. Es habe kein Anzeichen für die verkehrswidrigen Sprünge des Knaben gegen die Strassenmitte vorgelegen. Die Ansicht der Vorinstanz bedeute eine Überforderung des Automobilisten. Schliesslich rügt er eventualiter einen Verstoss gegen Art. 63 StGB.
3. Nach dem in Art. 26 SVG niedergelegten Vertrauensprinzip darf ein Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgemäss verhält, sofern nicht besondere Umstände dagegen sprechen, damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet (BGE 99 IV 175 mit Verweisungen; ferner BGE 101 IV 241 f.). Der Beschwerdeführer bestreitet solche besonderen Umstände. Er habe sich nämlich darauf verlassen dürfen, dass sich die Kinder richtig verhalten würden, da heute Kinder schon im vorschulpflichtigen Alter Verkehrsunterricht genössen.
a) In tatbeständlicher Hinsicht ist zunächst festzustellen, dass die Strasse im Bereich des Unfallorts 6,1 m breit ist und keine Trottoirs aufweist. Als sich der Beschwerdeführer der Stelle näherte, kamen rechts aus einer Wegeinmündung etwa zwanzig Kinder, welche teils auf der Böschung Platz nahmen, teils als Gruppe auf der rechten Strassenseite stehen blieben und teils in die Strasse hinaustraten. Gleichzeitig nahte aus der Gegenrichtung der VW-Bus, der dann den linken Blinker betätigte und bei der Einmündung anhielt.
Nach den für den Kassationshof verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz achteten die Kinder nicht auf den Wagen des Beschwerdeführers; die gegenteilige Behauptung in der Nichtigkeitsbeschwerde ist unzulässig (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Falsch ist ferner das Argument, die Kinder hätten den Beschwerdeführer gesehen, weil sie dem Schulbus entgegenblickten. Der Bus kam nämlich aus der Gegenrichtung, und gerade wenn die Kinder seine Fahrt bis zum Anhalten beobachteten, konnten sie den von links herannahenden Jungo nicht sehen. Auf dessen Personenwagen wurden die Kinder erst aufmerksam, als er bereits auf ihrer Höhe war.
b) Selbst wenn es sich nicht um Kinder, sondern um erwachsene Personen gehandelt hätte, könnte sich der Beschwerdeführer nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Denn die Fussgänger kamen völlig ungeordnet aus dem Weg auf die Strasse. Sie waren miteinander im Gespräch und bewegten sich in verschiedene Richtungen, teils die Strasse überquerend, ohne dem herannahenden Personenwagen des Beschwerdeführers Beachtung zu schenken. Zudem war ein Ausweichen nur sehr beschränkt möglich, wurde doch die freie Fahrbahn durch den wartenden Bus auf 4 bis 4 1/2 m eingeengt. Jungo musste demnach jederzeit damit rechnen, dass einer der Fussgänger direkt vor sein Auto gelangen könnte.
c) Im übrigen schreibt Art. 26 Abs. 2 SVG vor, dass gegenüber Kindern besondere Vorsicht geboten ist. Dies hat zur Folge, dass hier eine Berufung auf das Vertrauensprinzip grundsätzlich selbst dann versagt, wenn keine konkreten Anzeichen vorliegen, dass sich die Kinder unkorrekt verhalten würden (R. VON WERRA, Du principe de la confiance dans le droit de la circulation routière..., ZWR 4/1970, S. 200).
Nun ist allerdings richtig, dass heute der Verkehrserziehung der Kinder in den Schulen grösseres Gewicht beigelegt wird als früher. Man kann sich deshalb fragen, ob bei Schülern, die mehr als 12 Jahre alt sind, das Vertrauensprinzip in einem gewissen Umfange zur Anwendung gelangen darf (Vgl. VON WERRA, a.a.O., S. 202 f.). Diese Frage braucht hier jedoch nicht entschieden zu werden; denn an der Unfallstelle waren zum Teil wesentlich jüngere Kinder anwesend. So erwähnte etwa die Polizei zwei Knaben im Alter von 8 und 9 Jahren; das Unfallopfer war 8jährig. Kinder im Alter von weniger als 9 Jahren folgen oft momentanen Regungen und neigen zu spontanen, unüberlegten Handlungen. Demzufolge muss ein Fahrzeugführer bei Kindern dieses Alters stets auf Verkehrswidrigkeiten gefasst sein und seine Fahrweise darauf einrichten.
d) Berücksichtigt man die in lit. b und c dargelegten Erwägungen, so erscheint die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Verstössen gegen das SVG für die erste Phase des Geschehens - nämlich für die Fahrt bis zum Kreuzen mit dem VW-Bus - als voll gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer hätte unter den gegebenen Umständen seine Geschwindigkeit auf unter 45 km/h herabsetzen und die Kinder durch ein Hupsignal warnen müssen.
e) Während oder unmittelbar nach dem Kreuzen des Schulbusses erblickte der Beschwerdeführer in ungefähr 20 m Abstand zwei grosse Mädchen und dahinter einen kleinen Knaben. Die drei Kinder gingen am linken Strassenrand in die gleiche Richtung. Weder schauten sie zurück, noch konnte Jungo - wegen des mit laufendem Motor wartenden VW-Busses - darauf bauen, dass sie seinen Personenwagen gehört hatten. Insbesondere musste er auch damit rechnen, dass eines der Kinder, vor allem der 8jährige Knabe, vom Rand her gegen die Strassenmitte laufen könnte. Ein sofortiges Hupsignal hätte die Kinder gewarnt, und sofortiges Bremsen hätte zwar bei einer Geschwindigkeit von 45 km/h die Gefahr eines Zusammenstosses nicht ganz behoben, aber aller Wahrscheinlichkeit nach doch gemildert. Wäre der Beschwerdeführer schon in der ersten Phase mit einer angemessenen Geschwindigkeit gefahren, so hätte er nötigenfalls auch rechtzeitig anhalten können.
f) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich Jungo in beiden Phasen der Fahrt pflichtwidrig verhalten und gegen die Vorschriften des SVG verstossen hat. Dass zwischen diesem pflichtwidrigen Verhalten und dem Tod des Knaben ein adäquater Kausalzusammenhang besteht, ist unbestritten. Infolgedessen hat die Vorinstanz den Beschwerdeführer zu Recht der fahrlässigen Tötung schuldig erklärt.