BGE 108 IV 3 - Fastenkur
 
2. Urteil des Kassationshofes
vom 28. Mai 1982
i.S. Sch. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
(Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 117 StGB; fahrlässige Tötung in Form eines unechten Unterlassungsdelikts.
1. Ein medizinischer Laie, der für eine 10tägige totale Fastenkur (inkl. Flüssigkeitsentzug) aufgrund der konkreten Umstände die Verantwortung trägt, übernimmt dadurch eine Schutzfunktion, die seine Garantenstellung begründet. Von ihm ist objektiv zu erwarten, dass er bei Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Schutzbefohlenen einen Arzt beizieht (E. 1).
2. Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten, die durch eine Unterlassung begangen werden, ist der Erfolg dem Täter dann zuzurechnen, wenn die erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg höchstwahrscheinlich entfällt (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 2).
 
Sachverhalt
A.
A.- Sch. wirkte in der Schweiz als Mittelsmann von Frau H., Berchtesgaden (Westdeutschland), die von sich behauptet, als sogenannte "Adeptin" der "Höchsten Göttlichen Intelligenz" befähigt zu sein, den Menschen (und Tieren) kosmische Strahlen, d.h. "kosmische Ernährung" (nachfolgend mit "KE" abgekürzt) zu gewähren, so dass diese während bestimmter Zeit auf jegliche Nahrungs- und Flüssigkeitseinnahme verzichten könnten. Die Anwendung der von Frau H. "adeptierten" und von Sch. in der Schweiz vermittelten "Lehre" soll nicht nur keine gesundheitlichen Schäden nach sich ziehen, sondern vielmehr den Hunger in der Welt und gesundheitliche Störungen beim Menschen beseitigen.
Frau B. erhoffte sich durch eine derartige Therapie Heilung von ihrer Coxarthrose und weiteren Leiden und bat deshalb Frau H. in ihrem Schreiben vom 28. Juni 1978 um Gewährung der "KE". Bereits am 15. Juli 1978 konnte sie nach Anleitung von Sch., dem sie zuvor einen Fragebogen für die Adeptin ausgefüllt auszuhändigen hatte, mit der "KE" beginnen. Zunächst hatte sie bis 2. August 1978 abwechselnd einen Tag zu fasten und am darauffolgenden sich normal zu ernähren. Diesem alternierenden Fasten folgte eine Kur von 10 Tagen, während welcher Frau B. weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich nahm und Sch. sich täglich telefonisch über ihr Befinden erkundigte. Ab Mitte der totalen Fastenperiode verschlechterte sich indessen der Zustand von Frau B.; sie wurde bettlägerig. Als die Tochter von Frau B. Sch. persönlich in Zürich aufsuchte, wurde sie von diesem beruhigt, indem er sich auf seine reiche Erfahrung stützte und für ein Durchhalten eintrat, was Frau B. denn auch tat. Am Morgen des 12. August 1978 beendigte sie wie vorgeschrieben die 10tägige Fastenkur und ass und trank nach den Weisungen von Sch. normal. Nachdem sie im Verlaufe des Nachmittags das Bett verlassen hatte, brach sie im Badezimmer zusammen und starb. Als Todesursache wurde eine massive Lungenembolie bei ziemlich frischer Thrombose der linken Schenkelvene als Folge der 10tägigen totalen Fastenkur nach vollständiger Flüssigkeitskarenz festgestellt.
B.
Das Bezirksgericht Hinwil verurteilte am 23. September 1980 Sch. wegen fahrlässiger Tötung gemäss Art. 117 StGB zu 4 Monaten Gefängnis unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges mit einer Probezeit von 2 Jahren. Auf Berufung des Angeklagten und Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft hin bestätigte die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich mit Urteil vom 15. September 1981 den Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung nach Art. 117 StGB, erhöhte indessen die Strafe auf 6 Monate Gefängnis unter Verweigerung des bedingten Strafvollzuges.
C.
Gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich führt Sch. staatsrechtliche Beschwerde, auf die mit Urteil vom 10. Mai 1982 nicht eingetreten wurde, und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die zuständige kantonale Instanz zurückzuweisen.
Eine ebenfalls gegen das obergerichtliche Urteil gerichtete kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 7. Januar 1982 ab.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
b) Tötungsdelikte können nach Lehre und Rechtsprechung auch durch Unterlassen begangen werden, sofern der Unterlassende Garant ist (BGE 105 IV 19; SCHULTZ, AT, 4. Aufl., S. 127; RENE MEYER, Die Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt, Diss. Zürich 1972, S. 28; HANS WALDER, Vorsätzliche Tötung, Mord und Totschlag, in ZStrR 96/1979, S. 125; SCHUBARTH, Kommentar zum schweiz. Strafrecht, Bd. 1, 1982, N. 128 zur systematischen Einleitung, N. 9 zu Art. 117 StGB). Eine solche Garantenstellung wird angenommen, wenn der Täter auf Grund einer besonderen Rechtsbeziehung verpflichtet ist, ein Rechtsgut vor allen oder bestimmten Gefahren zu schützen, oder wenn er durch sein Tun eine Gefahr geschaffen oder eine solche vergrössert hat und deshalb gehalten ist, dafür zu sorgen, dass die Gefahr zu keiner Verletzung fremder Rechtsgüter führt (BGE 106 IV 278; 101 IV 30 E. 2b; 83 IV 13 ff.; 53 I 351 ff.; SCHULTZ, a.a.O., S. 140; STRATENWERTH, AT, 1982, S. 377 ff., N. 11-18 insb. 17 und 18 zu § 14; SCHUBARTH, a.a.O., N. 130-155 insb. 146, 155/56 zur systematischen Einleitung; HAUSER/REHBERG, Strafrecht I, 2. Aufl., S. 135; MEYER, a.a.O., S. 102-109; SCHÖNKE/SCHRÖDER, Kommentar zum deutschen Strafgesetzbuch, 21. Aufl., N. 8-12, 26-28 und 32 zu § 13 D-StGB). Die Garantenstellung setzt demnach eine Rechtspflicht voraus; ein moralisches Gebot kann nicht genügen (BGE 100 IV 212 E. 2; 98 IV 172; 79 IV 146; SCHULTZ, a.a.O., S. 141; derselbe, Das Unterlassungsdelikt, Referat gehalten am kriminalistischen Institut des Kt. Zürich, Wintersemester 1964/65, S. 25; HAUSER/REHBERG, a.a.O., S. 134; MEYER, a.a.O., S. 96 und 98; SCHÖNKE/SCHRÖDER, a.a.O., N. 32 zu § 13 D-StGB). Strafbar macht sich der Garant, wenn er die gebotene Handlung unterlässt, obwohl diese objektiv möglich gewesen wäre. Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten im besonderen muss durch Verletzung der gebotenen Sorgfalt der drohende tatbestandsmässige Erfolg (infolge des Nichthandelns) eingetreten sein (BGE 101 IV 30 ff.; 83 IV 15 ff.; STRATENWERTH, AT, 1982, S. 420, N. 3 zu § 17; HAUSER/REHBERG, a.a.O., S. 137 und 139).
Was die Botentätigkeit des Sch. betrifft, stellte die Vorinstanz in verbindlicher Weise fest, dass der Beschwerdeführer, Präsident der Kosmischen Gesellschaft, Frau B. mit der Lehre der "KE" bekannt machte, ihr das Werbematerial, auf dem seine Anschrift vermerkt war, herausgab und als Mittelsperson zwischen der Geschädigten und Frau H. wirkte. So konnte die Verstorbene ihr Bittgesuch für die Gewährung der "KE" nur über die Person des Beschwerdeführers der Adeptin H. zukommen lassen. Der Beschwerdeführer las sowohl dieses Schreiben, als auch etwas später den von Frau B. ausgefüllten Fragebogen über ihren Gesundheitszustand. Es war auch der Beschwerdeführer, der Frau B. mitteilte, dass ihr die Adeptin die "KE" gewähre. Nur er und nicht Frau H. stand während der darauffolgend durchgeführten Kur mit Frau B. in Verbindung. Er hatte während der ganzen Dauer des 10tägigen, absoluten Fastens Kontakt mit Frau B. So wurde täglich telefoniert. Am 5. Tag unternahm der Beschwerdeführer mit Frau B. und deren Tochter einen gemeinsamen Spaziergang.
Dem Beschwerdeführer kann zugebilligt werden, dass sich bei der Entschlussfassung der Verstorbenen, die Therapie durchzuführen, und in der ersten Phase der Kur seine Tätigkeit einerseits auf Vermitteln und andererseits auf Beraten beschränkte, was für die Annahme einer Garantenstellung nicht ausreicht. Als aber Frau B. bettlägerig wurde und bei ihr Beschwerden auftraten, ermunterte er sie unter Berufung auf seine eigenen Erfahrungen zum Durchhalten. Am 7. Tag suchte die Tochter von Frau B., beunruhigt über den Gesundheitszustand ihrer Mutter, den Beschwerdeführer auf, wobei er sie zu beschwichtigen vermochte. Obwohl er von den Leiden der 65jährigen Frau (u.a. Kreislaufstörungen) wusste, trat er für eine Weiterführung der Kur ein und beseitigte die bestehenden Bedenken. Indem er sich auf Erfahrungswerte berief und sich um Frau B. äussert aktiv kümmerte, erweckte er ihr und ihrer Tochter gegenüber den Anschein, er verfüge über das notwendige Fachwissen, um jederzeit entscheiden zu können, ob die "KE"-Therapie weitergeführt werden könne oder allenfalls abgebrochen werden müsse. Die Verstorbene und ihre Tochter vertrauten daher auf sein Wissen, denn ihnen gegenüber hatte er zweifellos einen Wissensvorsprung in derartigen Therapien. Den beiden Frauen war zwar bekannt, dass er kein Arzt war. Sie verzichteten aber auf weitere Massnahmen im Vertrauen darauf, dass er wisse, was zu tun sei. Für Frau B. war der Beschwerdeführer nicht nur ein Berater sondern ein Fachmann, der für die Therapie die Verantwortung übernehmen konnte und auch übernahm. Indem er durch sein Verhalten auf die Kur und insbesondere auf die Fortführung derselben einen entscheidenden Einfluss ausübte und gleichsam die Verpflichtung der medizinischen Betreuung einging, vergrösserte er zumindest (infolge Fehlens ausreichender medizinischer Kenntnisse) eine bestehende Lebensgefahr, wenn er nicht gar eine solche setzte. Auf jeden Fall übernahm er eine Schutzfunktion, die ihn als Garant erscheinen liess, auf Grund dessen in der damaligen Situation (wie die Vorinstanz zutreffend festhielt) objektiv erwartet werden konnte, dass er in Kenntnis des verschlechterten Gesundheitszustandes von Frau B. einen Arzt beiziehe.
Die Rüge des Beschwerdeführers, er habe sich in keiner Garantenstellung befunden, erweist sich somit als unbegründet.
 
Erwägung 2
Bei Unterlassungsdelikten kann nicht im gleichen Sinn von Kausalität gesprochen werden wie bei positiven Handlungen. Bei Erfolgsdelikten sind nach der neueren Praxis des Bundesgerichts hinsichtlich der Kausalität die Unterlassungen hypothetisch zum eingetretenen Erfolg in Beziehung zu setzen (BGE 105 IV 19/20 mit Verweisungen). Der Kausalzusammenhang ist nur dann gegeben, wenn die erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden könnte, ohne dass der Erfolg höchstwahrscheinlich entfiele (BGE 105 IV 20; 102 IV 102; 101 IV 149 ff.; STRATENWERTH, AT, 1982, N. 34 zu § 14; SCHULTZ, AT, 4. Aufl., S. 128/29).
Die Vorinstanz erachtete den Kausalzusammenhang auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung und des überzeugenden, ausführlichen gerichtsmedizinischen Gutachtens als erstellt, indem durch Abbruch der Diät und Einleitung einer Thrombosetherapie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die gefährliche Situation hätte behoben und der Tod von Frau B. hätte vermieden werden können. Diesen Erwägungen ist beizutreten. Nach dem Gutachten ist der Tod von Frau B. auf die 10tägige Fastenkur mit totalem Flüssigkeitsentzug zurückzuführen, da das totale Fasten (inkl. Flüssigkeitsentzug) zu einer Bluteindickung mit zunehmender Thrombosegefahr führte, die durch das vorbestehende Kreislaufleiden noch erhöht wurde. Ohne ärztliche und klinische Überwachung derartiger Kuren mit der Möglichkeit eines rechtzeitigen Abbruchs und der Einleitung einer entsprechenden Behandlung besteht die Gefahr lebensbedrohlicher Stoffwechselentgleisungen.
Der Vorinstanz kann beigepflichtet werden, wenn sie aus dem Gutachten und aus der allgemeinen Lebenserfahrung den Schluss zog, ein Arzt hätte - wäre er gerufen worden - bei aller Sorgfalt die notwendigen, lebenserhaltenden Massnahmen getroffen, so dass der Tod höchstwahrscheinlich nicht eingetreten wäre. Der Kausalzusammenhang im Sinne der Rechtsprechung ist deshalb zu bejahen.
 
Erwägung 3
Gemäss Art. 18 Abs. 3 StGB handelt fahrlässig, wer die Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder darauf nicht Rücksicht genommen hat. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit dann, wenn der Täter die Vorsicht nicht beobachtet hat, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (BGE 103 IV 14/15, 292; 97 IV 171 f. E. 2).
Wie die Vorinstanz verbindlich feststellte, hätten die ab 6. Tag der Kur aufgetretenen Beschwerden, insbesondere die Bettlägerigkeit von Frau B. und auch der Besuch der Tochter der Verstorbenen am 7. Tag, dem Beschwerdeführer aufzeigen müssen, dass die Therapie nicht problemlos verlief. Er wusste, dass die 65jährige Frau an Kreislaufstörungen litt. Ebenfalls musste er wissen, dass ein 10tägiger totaler Flüssigkeitsentzug schaden kann. Auch konnte er nicht davon ausgehen, er werde Komplikationen richtig diagnostizieren und auf solche richtig reagieren. Trotzdem trat er aber für eine Fortsetzung der Kur ein. In der gleichen Situation hätte ein umsichtiger Mensch, welcher sich selbst als medizinischen Laien bezeichnet, eine sachkundige Person beigezogen. Diese Sorgfaltspflichtverletzung ist dem Beschwerdeführer auch dann subjektiv vorwerfbar, wenn man berücksichtigt, dass er selbst an die Heilung mittels "KE", welche stets eine vorübergehende Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit sich bringe, glaubte. Der Beschwerdeführer hätte auf Grund des geschilderten Wissens, seiner überdurchschnittlichen Intelligenz, seiner Erfahrungen und trotz der ihm attestierten herabgesetzten Fähigkeit, das Unrecht seines Tuns und Lassens einzusehen, erkennen müssen, dass ein Arzt beizuziehen ist. Die nur reduzierte Einsichtsfähigkeit reicht nicht aus, um diese Anforderung an die von ihm zu erwartende pflichtgemässe Handlung hinfällig werden zu lassen.
Die Frage, ob der Beschwerdeführer den Tod von Frau B. hätte voraussehen können, ist nach den vorstehenden Erwägungen über den Wissensstand und die Fähigkeiten des Beschwerdeführers ebenfalls zu bejahen.
Die Vorinstanz hat mit ihrer rechtlichen Würdigung des für den Kassationshof verbindlich festgestellten Sachverhalts (Art. 277bis Abs. 1 BStP) den Begriff der Fahrlässigkeit im Sinne von Art. 18 Abs. 3 StGB daher nicht verkannt und kein Bundesrecht verletzt.
Da die Vorinstanz entsprechend dem psychiatrischen Gutachten dem Beschwerdeführer lediglich eine in leichtem Grade verminderte Zurechnungsfähigkeit attestierte und dies in der vorliegenden Beschwerde ausdrücklich nicht in Frage gestellt wird, erfolgte die Verurteilung von Sch. wegen fahrlässiger Tötung zurecht.
 
Erwägung 4
Abgesehen davon, dass ein Widerspruch im Sachverhalt mit der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV geltend zu machen ist, geht der Beschwerdeführer bei seiner Schlussfolgerung von einer falschen Prämisse aus: Trotz der "fanatisch religiösen Überzeugung" wurde die Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers vom Gutachter nicht ausgeschlossen; die Annahme eines Verschuldens durch die Vorinstanz schliesst daher jene über den religiösen Fanatismus des Beschwerdeführers nicht aus. Der Psychiater folgert denn auch hinsichtlich der fortbestehenden fanatisch religiösen Überzeugung des Beschwerdeführers auf S. 31 seines Gutachtens:
    "Dementsprechend besteht selbstverständlich die Gefahr, dass er sich auch in Zukunft ähnlich verhalten könnte."
Wenn demnach die Vorinstanz über künftiges Wohlverhalten des Beschwerdeführers keine günstige Prognose zu stellen vermochte, überschritt sie das ihr gemäss Art. 41 Ziff. 1 StGB zustehende Ermessen nicht.
Die Nichtigkeitsbeschwerde erweist sich somit in allen Teilen als unbegründet und ist abzuweisen.