BGE 114 IV 63
 
20. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. Januar 1988 i.S. Polizeiamt der Stadt Winterthur gegen B. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 2 lit. a OBG (SR 741.03); Art. 27 Abs. 1 SVG.
 
Sachverhalt
A.- Mit Verfügung vom 30. Oktober 1985 büsste das Polizeiamt der Stadt Winterthur B. gestützt auf Art. 27 Abs. 1 SVG und Art. 68 Abs. 1 SSV (Missachtung eines Rotlichts; Verzugszeit 18,3 Sekunden) mit Fr. 150.--.
Auf Begehren um gerichtliche Beurteilung fällte der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirks Winterthur am 25. Juli 1986 im Ordnungsbussenverfahren eine Busse von Fr. 50.-- aus.
Die vom Polizeiamt der Stadt Winterthur gegen dieses Urteil eingereichte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich am 15. Mai 1987 ab.
B.- Das Polizeiamt der Stadt Winterthur führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zwecks Ausfällung einer Busse von Fr. 150.-- im ordentlichen Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
 
Aus den Erwägungen:
2. Gemäss Art. 2 des Bundesgesetzes über die Ordnungsbussen (OBG; SR 741.03) ist das Verfahren nach diesem Gesetz unter anderem ausgeschlossen bei Widerhandlungen, durch die der Täter Personen gefährdet oder verletzt oder Sachschaden verursacht hat.
Das Obergericht gelangte zum Schluss, nur die konkrete Gefährdung von Personen führe zum Ausschluss des Ordnungsbussenverfahrens, während der Beschwerdeführer die Auffassung vertritt, dafür genüge bereits eine erhöhte abstrakte Gefährdung.
Mit der bundesrechtlichen Einführung von Ordnungsbussen im Strassenverkehr wurde die Verfolgung von geringfügigen, aber häufigen Verstössen gegen Verkehrsvorschriften in einem vereinfachten Verfahren angestrebt, welches sich aus praktischen Gründen und unter dem Druck der Tatsachen als notwendig aufdrängte. Wo das zu ahndende Unrecht minim ist, die Schuld nach Art und Intensität wenig Unterschiede aufweist, die Busse im untersten Bereich liegen muss, so dass für irgendwelche Abstufungen nur wenig Raum bleibt, ist auch der Richter gezwungen, auf die Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und der Vorstrafen des Täters zu verzichten, die Busse nach äusseren Tatmerkmalen routinemässig zu bemessen. Nachdem sich dessen Entscheidung in solchen Fällen praktisch auf einen mechanischen Vorgang reduziert, wurde mit dem Bundesgesetz über die Ordnungsbussen die Konsequenz aus dieser Entwicklung gezogen und die Entscheidung bei Einverständnis des Täters der Polizei übertragen. Es wurde dadurch ferner dem Umstand Beachtung geschenkt, dass die Mehrheit der Kantone, verschiedene Städte, alle Nachbarstaaten der Schweiz und weitere europäische Länder ein ordnungsbussenähnliches Verfahren bereits längst eingeführt hatten. Zu verhindern galt es anderseits aber, dass ernsthafte Verstösse gegen die Verkehrssicherheit der Einfachheit halber durch Ordnungsbusse erledigt und so der richterlichen Beurteilung entzogen werden (BBl 1969 I/2 S. 1091, 1092 und 1094). Diese dem Bundesgesetz über die Ordnungsbussen zugrunde liegenden Zwecke und Wertungen lassen eher darauf schliessen, das Ordnungsbussenverfahren solle nicht erst bei konkreter, sondern bereits bei erhöhter abstrakter Gefährdung von Personen nicht zur Anwendung gelangen; schon damit fehlen effektiv jene erwähnten Umstände, die aus praktischen Gründen und unter dem Zwang der Tatsachen zur Einführung des Ordnungsbussenverfahrens Anlass gaben.
Nach dem Amtsbericht des Bundesamtes für Polizeiwesen sprach sich die Expertengruppe für Strafrechtsfragen des Strassenverkehrs dafür aus, das Ordnungsbussenverfahren nur bei konkreter Gefährdung von Personen auszuschliessen. Bereits in der bundesrätlichen Botschaft zum Entwurf des Bundesgesetzes über die Ordnungsbussen ist im Zusammenhang mit der vom Bundesrat aufzustellenden Bussenliste die Rede davon, diese dürfe keine groben Verstösse, vor allem keine konkreten Gefährdungen und bei Motorfahrzeugführern keine erhöhten abstrakten Gefährdungen enthalten (BBl 1969 I/2 S. 1094). Damit wird, wenn auch bloss in indirekter Weise, unverkennbar und deutlich zum Ausdruck gebracht, bei Verkehrswiderhandlungen von Motorfahrzeugführern sei in Fällen erhöhter abstrakter Gefährdung keine Ordnungsbusse zu erheben. Ein Abänderungsantrag von Nationalrat Renschler zu Art. 2 lit. a des Entwurfs, mit der "eine schärfere Formulierung dieser Gefährdung" vorgesehen werden sollte durch die Formulierung "... in grober Verletzung der Verkehrsregeln eine ernsthafte Gefährdung von Personen hervorgerufen hat", wurde mit offensichtlichem Mehr zugunsten der Fassung des Bundesrats abgelehnt. Fürsprecher Bühler, Sektionschef der eidgenössischen Polizeiabteilung, bemerkte in diesem Zusammenhang, mit Gefährdung sei die konkrete Gefährdung einer oder mehrerer Personen gemeint, nicht jede abstrakte Gefährdung; viele in der provisorischen Bussenliste enthaltenen Tatbestände schlössen "irgendeine abstrakte Gefährdung in sich" (Protokoll der Sitzung vom 13./14. August 1969 der nationalrätlichen Kommission, S. 20/21). In beiden Räten wurde Art. 2 lit. a des Entwurfs diskussionslos angenommen. Aufgrund der Entstehungsgeschichte ist trotz der klaren Aussage in der Botschaft nicht eindeutig auszumachen, ob das Ordnungsbussenverfahren nur bei konkreter oder auch schon bei erhöhter abstrakter Gefährdung ausgeschlossen sein soll.
Andere Bestimmungen des Strassenverkehrsrechts, und zwar früher in Kraft getretene als Art. 2 OBG, die wie dieser ohne nähere Kennzeichnung von einer Gefährdung sprechen, kommen nach ständiger Rechtsprechung bereits bei Vorliegen einer erhöhten abstrakten Gefährdung zur Anwendung. Das trifft auf Art. 90 Ziff. 2 SVG zu, nach welchem mit Gefängnis oder Busse bestraft wird, wer durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (BGE 106 IV 49 E. a mit Hinweisen); das gleiche gilt für Art. 16 Abs. 2 SVG, der den Entzug des Führer- oder Lernfahrausweises zulässt, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet, sowie für Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG, der den Führer- oder Lernfahrausweis zu entziehen vorschreibt, wenn der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat (BGE 105 Ib 257 E. b mit Hinweisen). Im Zusammenhang mit diesen anderen Bestimmungen des Strassenverkehrsrechts betrachtet, muss im Interesse einheitlicher Auslegung gleichartiger Bestimmungen Art. 2 lit. a OBG dahin verstanden werden, dass bereits bei Vorliegen einer erhöhten abstrakten Gefahr für Personen das Ordnungsbussenverfahren ausgeschlossen sei.
Zu diesem Ergebnis muss auch eine gesamthafte Würdigung der Einzelelemente der Auslegung führen, nachdem insbesondere die dem Bundesgesetz über die Ordnungsbussen zugrunde liegenden Zwecke und Wertungen deutlich in diese Richtung weisen und der Vergleich mit anderen Bestimmungen des Strassenverkehrsrechts diesen Schluss unverkennbar nahelegt. Der Hinweis des Obergerichts, in die Bussenliste seien im vornherein keine Tatbestände aufgenommen worden, welche eine erhöhte abstrakte Gefährdung zu bewirken geeignet seien, weshalb das Ordnungsbussenverfahren einzig bei konkreter Gefährdung von Personen keine Anwendung finde, erweist sich demzufolge als unrichtig. Ob eine konkrete, eine erhöhte abstrakte oder eine nur abstrakte Gefahr geschaffen werde, hängt nicht von der übertretenen Verkehrsregel, sondern von der Situation ab, in welcher die Übertretung geschieht (BBl 1969 I/2 S. 1096; vgl. SCHULTZ, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr, S. 166/67). Der Vorbehalt von Art. 2 lit. a OBG aber zeigt gerade, wenn er nicht im vornherein bedeutungslos sein soll, dass die in der Bussenliste aufgezählten Verkehrswiderhandlungen je nach der konkreten Situation zu abstrakter, erhöhter abstrakter oder konkreter Gefährdung von Personen führen können. Inwiefern in dessen Anwendungsbereich Motorfahrzeugführer hinsichtlich des Gefährdungsgrades grundsätzlich anders behandelt werden müssten als die übrigen Verkehrsteilnehmer, die eine in der Bussenliste genannte Verkehrswiderhandlung begehen, ist nicht einzusehen und selbst mittels Auslegung dem Gesetz nicht zu entnehmen; das Ordnungsbussenverfahren ist daher bei erhöhter abstrakter Gefährdung nicht nur für Motorfahrzeugführer (BBl 1969 I/2 S. 1094), sondern generell ausgeschlossen.