BGE 118 IV 52
 
11. Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar 1992 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 187 Abs. 2 StGB; qualifizierte Vergewaltigung (Änderung der Rechtsprechung).
 
Sachverhalt
Am Abend des 3. März 1989 lernte X. im Restaurant "The Pub" in Zürich Frau Y. kennen. Er anerbot sich, sie nach Hause zu bringen. Sie willigte ein und begleitete ihn im letzten Zug nach Effretikon, wo er sein Auto stehen hatte. Statt sie nun - wie versprochen - nach Geroldswil zu chauffieren, fuhr er mit ihr auf einen einsamen Parkplatz in der Absicht, mit ihr den Geschlechtsverkehr zu vollziehen, obwohl sie ihm klar zu verstehen gegeben hatte, dass sie mit ihm nicht intim werden wolle. Er löschte das Licht und erklärte, nun werde das gemacht, was er sage, und befahl ihr, sich auf den Rücksitz zu begeben und sich auszuziehen. Dieser Aufforderung wagte sich die völlig überraschte und verängstigte Frau nicht zu widersetzen, zumal sie körperlich weit unterlegen war und keine Fluchtchancen sah. X. entledigte sich ebenfalls seiner Kleider und legte sich auf Frau Y. Als es ihm nicht gelang, den Penis in die Scheide einzuführen, forderte er sie auf, sich umzudrehen, worauf er einen Finger in ihren After steckte. Dann musste sie sein Glied in den Mund nehmen. Schliesslich befahl er ihr, sich auf ihn zu legen und ihn aktiv beim Einführen des Gliedes zu unterstützen, wobei er drohend bemerkte, er habe im Wagen einen Revolver. Die durch diese Drohung in grosse Angst geratene Y. tat wie geheissen, worauf es X. gelang, den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Danach fuhr er mit ihr nach Tagelswangen, wo sie ihm noch den Penis frottieren musste, während er an ihrem entblössten Geschlechtsteil rieb. Dann liess er sie in Wallisellen frei.
Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X. am 25. Juni 1990 der qualifizierten Notzucht im Sinne von Art. 187 Abs. 2 StGB und der Nötigung zu einer anderen unzüchtigen Handlung (sowie weiterer Straftaten) schuldig und bestrafte ihn mit dreieinhalb Jahren Zuchthaus und sieben Jahren Landesverweisung. Das Gericht ordnete eine ambulante Psychotherapie im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB während des Strafvollzuges an.
X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei in bezug auf den Schuldspruch wegen qualifizierter Notzucht sowie die Strafzumessung aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden
 
Erwägungen:
a) Sie führt aus, dass sich die Abgrenzung zwischen dem Grundtatbestand und dem qualifizierten Tatbestand gemäss Art. 187 Abs. 1 und 2 StGB nicht leicht vornehmen lasse, wenn die Widerstandsunfähigkeit des Opfers nicht nur im rein physischen Bereich liege (Bewusstlosigkeit, Fesselung, Drogenrausch usw.); dies gelte insbesondere, wenn unklar bleibe, welches im einzelnen die Faktoren gewesen seien, die zum Ausbleiben von Widerstand geführt hätten, und ob das Opfer nicht doch noch hätte solchen entgegensetzen können. Immerhin stehe fest, dass es der Beschwerdeführer nicht dabei habe bewenden lassen, die Geschädigte an einen einsamen Ort zu bringen, wo er die ihm an Körperkraft unterlegene Frau, die keinen Fluchtweg gesehen habe, mit Gewalt und Einschüchterung zum Geschlechtsakt habe zu zwingen versucht. Überdies habe er, um den Beischlaf zu erreichen, vorgegeben, im Besitz einer Schusswaffe zu sein, und damit indirekt mit der Möglichkeit der Tötung gedroht; "denn wozu hätte der Hinweis auf den Revolver im Zusammenhang mit der Weigerung des Opfers, aktiv mitzuwirken, sonst gedient". Es sei auch die Absicht des Beschwerdeführers gewesen, mit dieser Drohung den Koitus zu erwirken. Die Todesangst der Geschädigten habe zu deren vollständigen Widerstandsunfähigkeit führen müssen, womit der Tatbestand qualifizierter Notzucht gemäss Art. 187 Abs. 2 StGB erfüllt sei.
b) Der Beschwerdeführer wendet ein, die Geschädigte hätte, als er den Geschlechtsverkehr verlangte, objektiv die Möglichkeit eines Fluchtversuches gehabt. Daran ändere nichts, dass sie keinen Fluchtweg gesehen habe. Sie sei noch widerstandsfähig gewesen, auch wenn sie sich körperlich unterlegen gefühlt habe. Trotzdem habe sie sich sofort gefügt; sie sei auf den Rücksitz des Wagens gekrochen und habe sich ausgezogen; dies habe sie unter Umständen getan, die nicht geeignet gewesen seien, "den Widerstand einer physisch und psychisch durchschnittlich leistungsfähigen Frau zu brechen". Erst später, als sie in den Geschlechtsverkehr bereits eingewilligt gehabt habe, sei seitens des Beschwerdeführers die Bemerkung gefallen, er habe im Handschuhfach eine Schusswaffe liegen.
b) Nach der Rechtsprechung ist der Grundtatbestand der Vergewaltigung gemäss Art. 187 Abs. 1 StGB dann erfüllt, wenn eine Frau, die an sich zum körperlichen Widerstand fähig ist, durch Gewalt oder schwere Drohung zur Duldung des Beischlafs gezwungen wird, sei es, dass ihr Widerstand gewaltsam gebrochen wird, sei es, dass sie unter dem Druck des ausgeübten Zwanges zum voraus auf Widerstand verzichtet oder ihn nach anfänglicher Abwehr aufgibt (BGE 115 IV 217 E. 2a; BGE 89 IV 89 E. 3a mit Hinweisen). Der qualifizierte Tatbestand gemäss Abs. 2 ist demgegenüber erfüllt, wenn der Täter die Frau vor dem ausserehelichen Beischlaf bewusstlos oder zum Widerstand unfähig gemacht, ihren Widerstand von vornherein ausgeschaltet hat, um sie nachher zu missbrauchen. Er muss es ihr also vor dem sexuellen Akt vollständig verunmöglichen, die intime Beziehung abzulehnen oder sich ihr zu widersetzen. Dagegen ist nicht erforderlich, dass das Opfer jeden Willen, sich körperlich zu wehren, verloren hat, oder dass es diesen Willen nicht mehr äussern kann. Vielmehr genügt es, dass der Täter durch sein Vorgehen den Widerstand der Frau gebrochen hat und dass sie während der ganzen Dauer des Angriffs ausserstande ist, sich dagegen zu wehren (BGE 115 IV 217 mit Hinweis). Die qualifizierte Vergewaltigung setzt demnach einen Zustand der Widerstandsunfähigkeit voraus, worunter "ausschliesslich der absolute Zwang, dem sich die Frau nicht nur vernünftigerweise beugen wird, sondern dem sie sich mangels physischer Abwehrmöglichkeit beugen muss", zu verstehen ist (FRANK SCHÜRMANN, Der Begriff der Gewalt im schweizerischen Strafgesetzbuch, Basel und Frankfurt 1986, S. 122).
c) Die gesetzliche Unterscheidung zwischen dem Grund- und dem qualifizierten Tatbestand wird von der Doktrin einhellig abgelehnt. Denn sie zwingt den Richter zu spitzfindigen und häufig praktisch undurchführbaren Abgrenzungen, die in keiner ersichtlichen Beziehung zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (vgl. BGE 89 IV 90, BGE 98 IV 103, BGE 101 IV 3, BGE 115 IV 217; GUIDO JENNY, Angriffe auf die sexuelle Freiheit: Art. 187 und 188 des schweizerischen Strafgesetzbuches, Basel 1977, S. 110). Die vom Gesetz gebotenen Abgrenzungen können zudem von den betroffenen Frauen kaum verstanden werden. Sie führen überdies zu peinlichen Abklärungen, ob die Frau zwischenhinein zum Widerstand fähig gewesen wäre, wie im Zusammenhang mit der Revision des Sexualstrafrechtes betont wurde (Amtl.Bull. 1990 N 2303, Votum Spoerry). Zu Recht wird darauf hingewiesen, es sei nicht einzusehen, warum beispielsweise die Ausschaltung des Widerstandes etwa durch Alkohol wesentlich schwerer wiegen soll als die Anwendung brutalen körperlichen Zwanges (STRATENWERTH, BT II, § 24 N 17, S. 16; SCHÜRMANN, a.a.O., S. 123; JENNY, a.a.O., S. 110/111).
Im Entwurf des Bundesrates betreffend die Änderung des Sexualstrafrechtes wurde deshalb der heute bestehende qualifizierte Tatbestand der Vergewaltigung aufgegeben unter Hinweis auf die praktischen Schwierigkeiten des geltenden Rechtes (Botschaft und Entwurf vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1009, 1071). Die Berichterstatterin im Nationalrat hielt dazu fest (Amtl.Bull. 1990 N 2254, Votum Spoerry):
"Mit Bezug auf die Vergewaltigung im allgemeinen vertritt die Kommission einhellig den Standpunkt, dass die heutige gerichtliche Tatbestandsauslegung, die sich auf das geltende Recht abstützt, für die betroffenen Frauen unhaltbar ist. Der heute geltende Artikel zur Vergewaltigung unterscheidet zwischen einer "normalen Vergewaltigung", die mit Gewalt oder durch schwere Drohung erzwungen wird, und einer "qualifizierten Vergewaltigung", die dann vorliegt, wenn das Opfer bewusstlos oder zum Widerstand unfähig gemacht worden ist. Das neue Gesetz verzichtet auf diese Unterscheidung. Wir wollen damit klar und deutlich zum Ausdruck bringen, dass eine Vergewaltigung immer ein schweres Verbrechen darstellt, nicht nur, wenn der körperliche Widerstand des Opfers völlig gebrochen wurde, sondern ebenso, wenn dem Opfer der Widerstand aus der Situation heraus nicht zumutbar ist."
Der Entwurf sah statt dessen den Qualifikationsgrund der grausamen Begehung mit der Begründung vor, das Merkmal der Gewalt erfahre in der Grausamkeit (definiert als Roheit, Gefühllosigkeit, Quälerei) eine Steigerung in körperlicher oder psychischer Hinsicht (BBl 1985 II 1074 f.). Das Parlament hat dem unter Vorbehalt des inzwischen zustande gekommenen Referendums zugestimmt (Art. 190 Abs. 3 des BG vom 21. Juni 1991, BBl 1991 II 1492; BBl 1991 IV 530).
d) Schon wegen der Schwierigkeiten einer sachgerechten Unterscheidung zwischen Art. 187 Abs. 1 und 2 StGB sowie der vorgesehenen und in diesem Punkt unbestrittenen Änderung des Strafgesetzbuches ist Art. 187 Abs. 2 StGB restriktiv auszulegen (im Ergebnis ebenso SCHÜRMANN, a.a.O., S. 124; JENNY, a.a.O., S. 111; STRATENWERTH, BT I, § 24 N 14, S. 15) und insbesondere bei grausamer Begehung in körperlicher oder psychischer Hinsicht anzunehmen (in diesem Sinn BGE 107 IV 181; a.M. BGE 115 IV 117). Die restriktive Auslegung ergibt sich aber insbesondere auch aus der bei der strafrechtlichen Auslegung gebotenen "Interpretation gemäss der angedrohten Strafe" (vgl. BGE 116 IV 315 E. d mit Hinweisen). Die Mindeststrafe verdreifacht sich beim qualifizierten Tatbestand von einem auf drei Jahre Zuchthaus. Die Voraussetzungen der Qualifikation sind deshalb nur dann zu bejahen, wenn gegenüber dem Grundtatbestand gemäss Art. 187 Abs. 1 StGB eine erhebliche Erhöhung des Unrechtsgehaltes vorliegt; dabei ist aber zu beachten, dass bereits der Grundtatbestand einen schwerwiegenden Angriff auf die Person einer Frau darstellt und ihre Integrität aufs schwerste verletzt. Für eine restriktive Auslegung von Abs. 2 spricht denn auch, dass wegen des bei beiden Begehensweisen gleichen Höchststrafrahmens von zwanzig Jahren schwerwiegende Fälle, die das Qualifikationsmerkmal jedoch nicht erfüllen, durchaus mit einer dem Unrechtsgehalt der Tat angemessenen langen Zuchthausstrafe geahndet werden können.
3. Die Vorinstanz bejaht den qualifizierten Tatbestand gemäss Art. 187 Abs. 2 StGB damit, dass der Beschwerdeführer sein Opfer an einen einsamen Ort verbracht und insbesondere vorgegeben habe, er sei im Besitz einer Pistole. Dieses Vorgehen hebt sich von der jeder Vergewaltigung ohnehin schon innewohnenden brutalen, die physische wie psychische Integrität einer Frau sowie ihre sexuelle Selbstbestimmung tief verletzenden Handlungsweise nicht in dem für die Qualifikation entscheidenden Masse ab. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist deshalb gutzuheissen.