BGE 124 IV 145
 
26. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Mai 1998 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen B. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 269 BStP und Art. 277ter BStP; Anklageprinzip, Tragweite des Rückweisungsentscheids.
Art. 68 Ziff. 1 StGB und Art. 129 StGB; Gefährdung des Lebens; gleichartige Idealkonkurrenz.
Wer durch eine Handlung das Leben von zwei Personen gefährdet, verletzt zwei selbständige Rechtsgüter (gleichartige Idealkonkurrenz) (E. 2).
 
Sachverhalt
Das Kantonsgericht St. Gallen fand am 17. Februar 1998 B. schuldig der Gefährdung des Lebens, der Freiheitsberaubung, des Betrugs, der mehrfachen Hehlerei, der Sachbeschädigung, der schweren Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer. Es bestrafte ihn mit 8 Jahren Zuchthaus und verwies ihn für 15 Jahre aus dem Gebiet der Schweiz.
Die Staatsanwaltschaft erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung (wegen mehrfacher Gefährdung des Lebens) an die kantonale Behörde zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Nichtigkeitsbeschwerde gut
 
aus folgenden Erwägungen:
Die Vorinstanz qualifiziert diesen Sachverhalt als Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) und führt dazu im angefochtenen Punkt aus, es seien zwar zwei Personen gefährdet worden, aber mit einer einzigen Handlung, die nicht in Teilakte zerfalle, so dass eine mehrfache Tatbegehung ausscheide.
Die Beschwerdeführerin wendet ein, damit verkenne die Vorinstanz die Regeln der gleichartigen Idealkonkurrenz. Der Beschwerdegegner habe durch ein und dieselbe Handlung das Leben und damit das höchste Rechtsgut von zwei Personen gefährdet. Das müsse zu einer Strafschärfung im Sinne von Art. 68 Ziff. 1 StGB führen.
3. a) Nach überwiegender Auffassung ist Idealkonkurrenz nicht nur dann gegeben, wenn die eine in Frage stehende Handlung mehrere verschiedene Tatbestände, sondern auch, wenn sie denselben Tatbestand mehrfach erfüllt, beispielsweise bei einem Sprengstoffanschlag, durch den mehrere Personen verletzt werden. Die erste Variante wird ungleichartige und die zweite gleichartige Idealkonkurrenz genannt (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 2. Auflage, Bern 1996, § 19 N. 6). Diese Auffassung vertreten: GRAVEN, L'infraction pénale punissable, Bern 1993, S. 324 (ein Fahrzeugführer verursacht den Tod von zwei Menschen); REHBERG, Strafrecht I, 6. Auflage, Zürich 1996, S. 267 (bei der Sprengung eines Flugzeugs werden verschiedene Personen getötet); SCHWANDER (Das schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Auflage, Zürich 1964, Nr. 320) nimmt gleichartige Idealkonkurrenz an, wenn eine Handlung den gleichen Strafsatz mehrmals verletzt: die Mutter tötet ihre Zwillinge, der Täter tötet in entschuldbarer Gemütsbewegung mehrere Personen oder verletzt mehrere Personen schwer oder greift mit der gleichen Äusserung die Ehre mehrerer an; TRECHSEL/NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 4. Auflage, Zürich 1994, S. 258; SCHULTZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, Band 1, 4. Auflage, Bern 1982, S. 132. Für das deutsche Recht nehmen SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE (Strafgesetzbuch, 25. Auflage, München 1997, § 52 N. 26) gleichartige Idealkonkurrenz etwa an, wenn mehrere Menschen durch eine Explosion getötet werden, der Täter zwei Kinder gleichzeitig zur Duldung sexueller Handlungen auffordert oder mehrere Personen in einem Raum eingesperrt werden; Vogler, Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Auflage, Berlin 1985, § 52 N. 35.
Eine andere Auffassung vertreten HAFTER (Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Bern 1946, S. 372), der Idealkonkurrenz ablehnt, wenn jemand durch Sprengstoff viele Menschen tötet oder durch ein Wort mehrere Personen beleidigt, weil bei solchen gelegentlich als gleichartige Idealkonkurrenz bezeichneten Vorgängen nicht mehrere Gesetze zusammenträfen; mit ähnlicher Begründung Logoz/Sandoz, Commentaire du Code pénale suisse, Neuchâtel/Paris 1976, Art. 68 N. 1a.
b) Der überwiegenden Auffassung ist zuzustimmen. Unter dem Gesichtspunkt von Art. 68 StGB kann es nur darauf ankommen, dass die Handlung mehrere Rechtsgutverletzungen bewirkt, aber nicht darauf, ob der Täter etwa mehrfach in eine Menschenmenge feuert oder aus einer Maschinenpistole eine Salve auf sie abgibt (STRATENWERTH, a.a.O.). Entscheidend ist, dass mehrere Rechtsgüter verletzt werden, nicht ob diese Rechtsgüter im gleichen oder in verschiedenen Artikeln geregelt sind (SCHWANDER, a.a.O., N. 322). Allerdings kann gleichartige Idealkonkurrenz nur dann vorliegen, wenn im Rahmen desselben Tatbestands mehrere, trotz ihrer Gleichartigkeit selbständige Tatobjekte durch eine Handlung beeinträchtigt werden (SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, a.a.O., § 52 N. 24). Die Rechtsgutverletzungen müssen im Verhältnis zueinander selbständig sein. Sticht der Täter nämlich bei der vorsätzlichen Tötung mehrfach auf das Opfer ein, so ist sein Verhalten eine Handlung und eine Verletzung des Strafgesetzes, so dass jede Konkurrenz entfällt. Das gleiche gilt, wo die Individualität der betroffenen Rechtsgüter wie bei Vermögensdelikten strafrechtlich ohne Bedeutung ist: Es ist ein Diebstahl, wenn der Safe eines Hotels ausgeplündert wird, der die Wertsachen verschiedener Gäste enthält (STRATENWERTH, a.a.O.).
c) Im zu beurteilenden Fall gefährdete der Beschwerdegegner durch eine Handlung das Leben von zwei Personen und verletzte damit zwei im Verhältnis zueinander selbständige Rechtsgüter. Damit liegen zwei Rechtsgutverletzungen vor und ist nach dem Gesagten gleichartige Idealkonkurrenz anzunehmen, die zu einer Strafschärfung im Sinne von Art. 68 Ziff. 1 StGB führt. Ein Strafschärfungsgrund muss bei der Festsetzung des Strafmasses mindestens straferhöhend wirken (BGE 116 IV 300 E. 2b/aa).
Die Beschwerde wird daher gutgeheissen, das Urteil im angefochtenen Umfang aufgehoben und insoweit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.