BGE 135 IV 1 |
1. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen A. und B. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_2/2008 vom 13. Oktober 2008 |
Regeste |
Art. 23 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; Fassung gemäss Bundesgesetz vom 8. Oktober 1948, AS 1949 I 221, S. 227); Art. 31 Abs. 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. |
Sachverhalt |
A.a A. (Beschwerdegegner 1) und seine Ehefrau B. (Beschwerdegegnerin 2), äthiopische Staatsangehörige, reisten am 18. Juli 1995 ohne Pass und Visum in die Schweiz ein und stellten in Carouge/GE ein Asylgesuch. Mit Entscheiden vom 28. Juni 1996 sprach das Bundesamt für Flüchtlinge den beiden Asylbewerbern die Flüchtlingseigenschaft ab, lehnte ihre Asylgesuche ab und wies sie aus der Schweiz weg. Die gegen diesen Entscheid von A. und B. geführten Beschwerden wies die Schweizerische Asylrekurskommission mit Urteil vom 21. März 1997 ab. Am 16. März 2001 und am 31. August 2005 trat die Schweizerische Asylrekurskommission auf die von A. und B. anhängig gemachten Revisionsgesuche nicht ein.
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A.b Auf Strafanzeige des Amtes für Migration erklärte das Obergericht des Kantons Luzern A. und B. mit Urteil vom 6. Januar 2004 in zweiter Instanz des rechtswidrigen Verweilens in der Schweiz gemäss Art. 23 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; Fassung gemäss Bundesgesetz vom 8. Oktober 1948, AS 1949 I 221, S. 227) seit dem 1. Oktober 1997 bis zum 30. April 1999 und seit dem 1. Februar (A.) bzw. 1. Januar 2001 (B.) schuldig und verurteilte sie zu 6 Wochen Gefängnis.
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A.c Auf erneute Strafanzeige des Amtes für Migration sprach der Amtsstatthalter von Luzern-Land A. und B. am 30. September 2005 des rechtswidrigen Verweilens in der Schweiz, begangen vom 7. Januar 2004 bis zum 30. September 2005 schuldig und bestrafte sie mit 20 Tagen Gefängnis. Infolge Nichtannahme des Entscheids wurde die Strafsache an das Amtsgericht Luzern-Land überwiesen, welches mit Urteil vom 13. Juni 2006 den Entscheid des Amtsstatthalters im Schuldpunkt bestätigte, den Beurteilten für die ausgesprochene Strafe von 20 Tagen Gefängnis indes den bedingten Strafvollzug bei einer Probezeit von zwei Jahren gewährte.
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Noch während des laufenden Strafverfahrens stellten A. und B. am 8. August 2006 ein zweites Asylgesuch. Das Bundesamt für Migration (BFM) erkannte mit Verfügung vom 23. Februar 2007 den Beschwerdegegnern die Flüchtlingseigenschaft zu, wies ihre Gesuche indes, da es die flüchtlingsrelevanten Elemente als subjektive Nachfluchtgründe im Sinne von Art. 54 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31) qualifizierte, ab und wies sie und ihre Kinder aus der Schweiz weg. Den Vollzug der verfügten Wegweisung schob es wegen Unzulässigkeit zu Gunsten einer vorerst auf zwölf Monate befristeten vorläufigen Aufnahme auf.
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Auf Appellation der Staatsanwaltschaft und Anschlussappellation der Beurteilten hin sprach das Obergericht des Kantons Luzern mit Urteil vom 20. Juni 2007 A. und B. vom Vorwurf des rechtswidrigen Verweilens in der Schweiz im Sinne von Art. 23 Abs. 1 ANAG, angeblich begangen vom 7. Januar 2004 bis zum 30. September 2005 frei.
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B. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern führt Beschwerde an das Bundesgericht mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache sei zur Verurteilung von A. und B. wegen rechtswidrigen Verweilens in der Schweiz nach Art. 23 Abs. 1 ANAG, begangen im Zeitraum vom 7. Januar 2004 bis zum 30. September 2005, an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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C. Mit Verfügung vom 20. Juni 2008 gewährte das Bundesgericht A. und B. die unentgeltliche Rechtspflege und bestellte Rechtsanwalt H. als deren Anwalt für das bundesgerichtliche Verfahren.
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D. Das Obergericht des Kantons Luzern beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde. A. und B. beantragen in ihrer Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 4 |
4.2 Personen, denen die Schweiz Asyl gewährt hat oder die als Flüchtlinge vorläufig aufgenommen wurden, gelten nach Art. 59 AsylG gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtlinge im Sinne des Asylgesetzes sowie des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (SR 0.142.30; im Folgenden: Flüchtlingskonvention, FK). Gemäss Art. 60 Abs. 1 AsylG haben Personen, denen Asyl gewährt wurde, Anspruch auf Aufenthaltsbewilligung. Rechtmässig halten sich in der Schweiz auch Personen auf, denen zwar kein Asyl gewährt wurde, weil sie erst durch ihre Ausreise aus dem Heimat- oder Herkunftsstaat oder wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise die Flüchtlingseigenschaft erfüllen (subjektiver Nachfluchtgründe; Art. 54 AsylG), und bei denen der Vollzug der Wegweisung nicht möglich oder zumutbar ist. Ihre Anwesenheit wird durch vorläufige Aufnahme geregelt (Art. 44 Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 14a Abs. 1 und 3 ANAG; vgl. nunmehr Art. 83 Abs. 3 AuG [SR 142.20]). Rechtmässig ist schliesslich auch die Anwesenheit von Personen, die in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt haben. Diese dürfen sich grundsätzlich bis zum Abschluss des Verfahrens in der Schweiz aufhalten (Art. 42 Abs. 1 AsylG).
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Soweit einer Person, deren erstes Asylgesuch abgewiesen wurde und die hernach rechtswidrig im Lande verbleibt, in einem neuen Asylverfahren die Flüchtlingseigenschaft unter Anerkennung von subjektiven Nachfluchtgründen zuerkannt wird, stellt sich die Frage, wie strafrechtlich der Zeitraum vor der Anerkennung als Flüchtling zu beurteilen ist.
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Diese Auffassung trifft insofern nicht zu, als die Flüchtlingseigenschaft als solche, unabhängig davon, ob die Person als Flüchtling anerkannt ist, noch kein Recht auf Einreise und Aufenthalt verschafft (BGE 132 IV 29 E. 2). Jedoch sind gemäss Art. 31 Abs. 1 FK die illegale Einreise und der unrechtmässige Aufenthalt eines Flüchtlings gerechtfertigt, wenn dieser triftige Gründe für seine Einreise darlegen kann, unmittelbar aus dem Verfolgerstaat in die Schweiz gelangt und sich unverzüglich den Behörden stellt (vgl. auch Art. 23 Abs. 3 ANAG; BGE 132 IV 29 E. 3.3; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 6S.737/1998 vom 17. März 1999). Die Bestimmung der Flüchtlingskonvention bezweckt den Schutz des Flüchtlings, dem es unmöglich ist, die Voraussetzungen für eine legale Einreise in ein schutzbietendes Land zu erfüllen, vor Abschiebung in den Verfolgerstaat. Sie verlangt nicht, dass die Flüchtlingseigenschaft der betroffenen Person bereits in einem formellen Verfahren rechtskräftig festgestellt worden ist. Sie bezieht sich ferner nicht nur auf die rechtswidrige Einreise, sondern erstreckt sich auch auf Fälle, in denen die Einreise rechtmässig erfolgt ist, der Aufenthalt indes später etwa infolge Erlöschens der befristeten Anwesenheitserlaubnis rechtswidrig wird (vgl. ATLE GRAHL-MADSEN, The Status of Refugees in International Law, Bd. II, Leyden 1972, S. 215 f.).
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Die Vorinstanz nimmt darüberhinaus im Zweifel zugunsten der Beschwerdegegner an, die flüchtlingsrelevanten Elemente hätten schon zu Beginn der angeklagten Deliktszeit vom 7. Januar 2004 bis zum 30. September 2005 bestanden. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die Vorinstanz die Beschwerdegegner nicht über die in ihrem zweiten Asylgesuch vom 8. August 2006 neu vorgebrachten Tatsachen und Ereignisse im Sinne subjektiver Nachfluchtgründe befragt und insbesondere nicht abgeklärt hat, von welchem Zeitpunkt an die Beschwerdegegner die vom BFM schliesslich anerkannten Gründe geltend machten. Insofern trifft zu, dass eine Beweisgrundlage für die Entscheidung, von welchem Zeitpunkt das exilpolitische Engagement der Beschwerdegegner eingesetzt hat, fehlt. Dass die Vorinstanz, indem sie auf weitere Abklärungen in dieser Richtung verzichtet hat, kantonales Prozessrecht willkürlich verletzt hätte, rügt die Beschwerdeführerin indes nicht. Sie beschränkt sich vielmehr darauf, geltend zu machen, der Entscheid des BFM entfalte keine zeitliche Rückwirkung auf den gesamten Deliktszeitraum. Insofern genügt die Beschwerde den Begründungsanforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG nicht. Bei dieser Sachlage erscheint entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin der Schluss der Vorinstanz, es könne nicht mit der für einen Schuldspruch erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden, dass einzelne flüchtlingsrelevante Elemente nicht schon zu Beginn der angeklagten Deliktszeit Bestand gehabt haben, auf der Grundlage der vorhandenen Beweise jedenfalls nicht als schlechterdings unhaltbar. Dass dem formellen Beitritt der Beschwerdegegner zu der exilpolitischen Gruppierung, in welcher der Beschwerdegegner 1 wichtige Funktionen bekleidet, zeitlich eine Phase des Engagements vorausgegangen ist, in der er sich noch nicht im selben Masse exponiert hatte, kann nicht mit Sicherheit verneint werden. Eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" liegt daher nicht vor.
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