BGE 137 IV 230 |
33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Schwyz gegen X. (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_232/2011 vom 12. Juli 2011 |
Regeste |
Art. 81 BGG, Art. 222, 226 Abs. 5 und Art. 388 StPO; Untersuchungshaft, Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen Freilassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts. |
Die Beschwerdeinstanz kann ohne vorherige Anhörung der beschuldigten Person die vorläufige Weiterführung der Haft anordnen, wenn dies zum Schutz des Untersuchungszwecks notwendig ist (E. 2.2.1). Die Nichtbehandlung des Gesuchs um vorläufige Weiterführung der Untersuchungshaft führt zur Vereitelung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft (E. 2.3). |
Sachverhalt |
A. X. wurde am 19. März 2011 wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung oder Totschlag festgenommen und am 22. März 2011 in Untersuchungshaft versetzt. Auf ein Haftentlassungsgesuch von X. hin befristete die Einzelrichterin des Zwangsmassnahmengerichts Schwyz mit Verfügung vom 18. April 2011 die Untersuchungshaft bis zum 22. April 2011, 17.00 Uhr. In derselben Verfügung auferlegte sie X. wegen Kollusionsgefahr ein Kontaktverbot mit der Zeugin Y.
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Gegen diesen Entscheid reichte die Staatsanwaltschaft Schwyz am 19. April 2011 Beschwerde beim Kantonsgericht Schwyz ein. Dieses trat auf die Beschwerde am 20. April 2011 nicht ein, unter anderem mit der Begründung, der Zwangsmassnahmenentscheid sei erst anfechtbar, wenn dessen Begründung vorliege. Die Staatsanwaltschaft Schwyz reichte am 21. April 2011 (persönlich überbracht) gegen den inzwischen begründeten Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 18. April 2011 eine weitere Beschwerde ein und ersuchte im Sinne einer vorsorglichen Massnahme um Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft bis zum Entscheid des Kantonsgerichts. Gleichentags verweigerte das Kantonsgericht Schwyz die beantragte vorsorgliche Massnahme. Mit Verfügung vom 26. April 2011 schrieb das Kantonsgericht Schwyz die Beschwerde ab, weil sie mit der Haftentlassung des Angeschuldigten am 22. April 2011 gegenstandslos geworden sei.
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B. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 13. Mai 2011 beantragt die Oberstaatsanwaltschaft Schwyz, die Verfügung des Kantonsgerichts vom 26. April 2011 sei aufzuheben und die Sache sei zu neuer Beurteilung unter Wahrung der Rechte der Parteien an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie rügt die Verletzung von Verfahrensrechten (Art. 29 BV) und Willkür (Art. 9 BV). (...)
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: |
Zur Beschwerde ist berechtigt, wer am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (Art. 81 Abs. 1 BGG). Die Staatsanwaltschaft gehört grundsätzlich zum Kreis der beschwerdebefugten Parteien (Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 3 BGG; BGE 134 IV 36 E. 1). Nach Art. 222 StPO kann die verhaftete Person Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Dasselbe Beschwerderecht steht nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung der Staatsanwaltschaft zu (BGE 137 IV 22 E. 1.3 S. 24, BGE 137 IV 87 E. 3). Das Bundesgericht hat dabei zusammenfassend erwogen, aufgrund der in Art. 111 BGG statuierten Einheit des Verfahrens müsse derjenige, der zur Beschwerde ans Bundesgericht berechtigt sei, sich am Verfahren vor allen kantonalen Instanzen als Partei beteiligen können. Dazu verlange das öffentliche Interesse an einer funktionierenden Strafjustiz, dass die Staatsanwaltschaft ein Beschwerderecht gegen einen die Haft aufhebenden Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts besitze.
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Wird ein Untersuchungsgefangener aus der Haft entlassen, obwohl ein Haftgrund besteht, kann das die Fortführung des Strafverfahrens erschweren oder gar vereiteln. Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihr Straftaten oder auf Straftaten hinweisende Verdachtsgründe bekannt werden (Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Art. 300 und 308 ff. StPO). Zudem obliegt ihr im Grundsatz die Verfahrensleitung bis zur Einstellung oder Anklageerhebung (Art. 61 lit. a StPO). Sie hat somit grundsätzlich ein Rechtsschutzinteresse, sich gegen die aus ihrer Sicht ungerechtfertigte Entlassung eines Angeschuldigten aus der Untersuchungshaft zur Wehr zu setzen (Urteil des Bundesgerichts 1B_136/2010 vom 22. Juli 2010 E. 1).
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(...)
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2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die bei der Beschwerdeinstanz am 21. April 2011 eingereichte Beschwerde sei nicht gegenstandslos geworden. Eine Beschwerde werde nur gegenstandslos, wenn das Beschwerdeobjekt zum Beispiel wegen Rückzug, Vergleich, Tod einer Partei oder Entscheid in der Hauptsache wegfalle. Ein solcher Grund sei hier nicht gegeben. Die Vorinstanz habe den Grund für die angebliche Gegenstandslosigkeit selbst herbeigeführt, indem sie das Beschwerdeverfahren nach Verweigerung der aufschiebenden Wirkung während über 24 Stunden ruhen liess, bis der Beschuldigte aus der Haft entlassen war. Dieses Vorgehen widerspreche dem Willkürverbot (Art. 9 BV) sowie § 40 Abs. 2 der kantonalen Justizverordnung vom 18. November 2009 (SRSZ 231.110) in Verbindung mit Art. 222 und 397 StPO.
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2.2 Strafprozessuale Rechtsmittel haben nach Art. 387 StPO keine aufschiebende Wirkung. Vorbehalten bleiben abweichende Bestimmungen der StPO oder Anordnungen der Verfahrensleitung der Rechtsmittelinstanz. Diese trifft in Anwendung von Art. 388 StPO die notwendigen und unaufschiebbaren verfahrensleitenden und vorsorglichen Massnahmen. Hierzu gehört nach ausdrücklicher Vorschrift von Art. 388 lit. b StPO die Anordnung von Haft. Diese Bestimmungen sind grundsätzlich geeignet, die Untersuchungshaft während des Beschwerdeverfahrens betreffend die Haftentlassung aufrechtzuerhalten. Die lückenlose Weiterführung der Untersuchungshaft steht in einem gewissen Gegensatz zur Pflicht, die beschuldigte Person unverzüglich freizulassen, wenn das Zwangsmassnahmengericht die Untersuchungshaft nicht anordnet (Art. 226 Abs. 5 StPO). Würde die beschuldigte Person jedoch unmittelbar im Anschluss an den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts trotz des Bestehens von Haftgründen auf freien Fuss gesetzt, so würde damit die Fortführung des Strafverfahrens unter Umständen erheblich beeinträchtigt. Aus der StPO ergeben sich verschiedene mögliche Vorgehensweisen, um dieser Gefahr zu begegnen.
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2.2.2 Eine Regelung, wie sie Art. 231 Abs. 2 StPO für die Sicherheitshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil vorsieht, besteht für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nach dem Freilassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts nicht. Eine analoge Anwendung von Gesetzesbestimmungen, die sich zuungunsten des Beschuldigten auswirken würde, wäre mit dem Legalitätsprinzip nicht vereinbar (vgl. GÜNTER STRATENWERTH, Die Straftat, 3. Aufl. 2005, § 4 N. 33). Hinzu kommt, dass das Antragsrecht der Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 StPO nach der Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts explizit auf das erstinstanzliche Verfahren beschränkt ist (BBl 2006 1235). Auch aus diesem Grund kann eine analoge Anwendung im Untersuchungsverfahren nicht in Frage kommen.
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Dem ist zuzustimmen. Die Staatsanwaltschaft hatte die Verfügung der Einzelrichterin des Zwangsmassnahmengerichts vom 18. April 2011, mit der die umstrittene Freilassung des Angeschuldigten auf den 22. April 2011, 17.00 Uhr, festgesetzt worden war, am 19. April 2011, mithin drei Tage vor dem vorgesehenen Freilassungstermin mit Beschwerde angefochten. Es bestand somit genügend Zeit zur Prüfung der Beschwerde. Der Kantonsgerichtspräsident trat jedoch auf die Beschwerde nicht ein, weil die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts noch nicht begründet war. Rechtsmittelfristen beginnen grundsätzlich erst mit der vollständigen Ausfertigung eines Entscheids zu laufen. Dies bedeutet indessen nicht, dass eine bereits gegen das Dispositiv eines Entscheids erhobene Beschwerde unzulässig ist. Das Vorgehen des Kantonsgerichtspräsidenten hatte zur Folge, dass die Staatsanwaltschaft mit der Beschwerde und dem Gesuch um Anordnung vorsorglicher Massnahmen bis zum Vorliegen der Begründung zuwarten musste und sich dadurch erst gut 24 Stunden vor dem Freilassungstermin in der Lage sah, die zweite Beschwerde zu erheben. Den Kantonsgerichtspräsidenten hätte nichts daran gehindert, bereits nach dem Vorliegen der ersten Beschwerde das mit dieser eingereichte Gesuch um Anordnung vorsorglicher Massnahmen nach Beschaffung der Akten unverzüglich zu behandeln. Nach Vorliegen der Begründung hätte er die am 19. April 2011 eingereichte Beschwerde noch vor dem Freilassungstermin beurteilen und einen Entscheid fällen können, statt der Staatsanwaltschaft mit dem Nichteintreten auf die erste Beschwerde eine zweite Beschwerde aufzunötigen, deren Gegenstandslosigkeit bzw. Nichtbehandlung wegen der bevorstehenden Freilassung absehbar war. Mit dieser Art des Vorgehens hat der Kantonsgerichtspräsident verhindert, dass vor der umstrittenen Freilassung des Beschuldigten ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid erging, obwohl dazu, wenn auch wenig, letztlich doch genügend Zeit zur Verfügung stand. Die Beschwerde ist somit im Sinne der Erwägungen gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist.
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