BGE 138 IV 178 |
26. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Reinhardt gegen Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_205/2012 vom 18. Juni 2012 |
Art. 15 Abs. 2, Art. 61 lit. a, Art. 307 Abs. 2 und 3 und Art. 312 Abs. 1 StPO; Mitteilungspflicht der Polizei gegenüber der Staatsanwaltschaft im Strafuntersuchungsverfahren. |
Art. 149 Abs. 1, Abs. 2 lit. a, c und e und Abs. 6 sowie Art. 150 Abs. 1, 2, 3 und 4 StPO; Zusicherung von Anonymität im Strafuntersuchungsverfahren. |
Sachverhalt |
A. Am 30. August 2011 kam es (...) in Baden zu einem polizeilichen Zugriff durch die Sondereinheit "ARGUS" der Kantonspolizei Aargau, in dessen Verlauf nebst einem Tasereinsatz auch eine Schussabgabe durch einen Polizeibeamten erfolgte. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau wies gleichentags die gegen den Schützen zu eröffnende Strafuntersuchung der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach zu, woraufhin die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten, drei weitere am Einsatz beteiligte Polizeibeamten als Zeugen sowie X. als Auskunftsperson einvernahm. Das Polizeikommando verweigerte der Staatsanwaltschaft die Bekanntgabe der Identität der am Einsatz beteiligten Polizeibeamten.
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B. Die Staatsanwaltschaft sicherte der beschuldigten Person sowie den drei am Polizeieinsatz beteiligten Zeugen (...) Anonymität zu und unterbreitete dem Zwangsmassnahmengericht gleichentags einen Antrag auf Genehmigung der zugesicherten Anonymität. Das Zwangsmassnahmengericht trat (...) auf den Genehmigungsantrag nicht ein. Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass die Kantonspolizei die Identität der betroffenen Polizisten der Staatsanwaltschaft noch nicht bekannt gegeben habe, womit weder ein Strafverfahren geführt noch über die Zusicherung der Anonymität entschieden werden könne.
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C. Mit Verfügung vom 21. Dezember 2011 verpflichtete die Staatsanwaltschaft Stephan Reinhardt, Kommandant der Kantonspolizei Aargau, ihr binnen zehn Tagen nach Rechtskraft die vollständigen Personalien der am Einsatz vom 30. August 2011 beteiligten Polizeibeamten mitsamt konkreter Einsatzfunktion schriftlich bekannt zu geben. Eine von Stephan Reinhardt dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Aargau (...) ab, soweit es darauf eintrat.
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D. Gegen den obergerichtlichen Entscheid hat Stephan Reinhardt (...) Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht erhoben. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass er nicht verpflichtet sei, der Staatsanwaltschaft die Personalien der am Einsatz vom 30. August 2011 beteiligten Polizeibeamten schriftlich bekannt zu geben. Eventualiter sei festzustellen, dass die Weigerung, der Staatsanwaltschaft die Personalien bekannt zu geben, gerechtfertigt sei. Subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 2 |
2.2 Gemäss Art. 15 Abs. 2 sowie Art. 307 Abs. 2 StPO untersteht die Polizei bei der Ermittlung von Straftaten der Aufsicht und den Weisungen der Staatsanwaltschaft. Über ihre Feststellungen und die von ihr getroffenen Massnahmen hat die Polizei der Staatsanwaltschaft Bericht zu erstatten (Art. 307 Abs. 3 StPO). Sie kann davon nur absehen, wenn zu weiteren Verfahrensschritten der Staatsanwaltschaft offensichtlich kein Anlass besteht und keine Zwangsmassnahmen oder andere formalisierte Ermittlungshandlungen durchgeführt worden sind (Art. 307 Abs. 4 StPO). Die Staatsanwaltschaft kann die Polizei auch nach Eröffnung der Untersuchung mit ergänzenden Ermittlungen beauftragen. Sie erteilt ihr dazu grundsätzlich schriftliche Anweisungen, die sich auf konkret umschriebene Abklärungen beschränken (Art. 312 Abs. 1 StPO).
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2.4 Die von der Staatsanwaltschaft vom Beschwerdeführer verlangten Informationen, nämlich die Personalien der am Einsatz vom 30. August 2011 beteiligten Polizeibeamten mitsamt konkreter Einsatzfunktion, sind für die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Schussabgabe eines am Einsatz beteiligten Polizeibeamten zweifellos von Bedeutung. Wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Verfügung vom 21. Dezember 2011 in Aussicht gestellt hat, beabsichtigt sie, weitere Befragungen von Zeugen und Auskunftspersonen durchzuführen. Diese Ermittlungen würden zumindest erschwert, wenn ihr die verlangten Informationen nicht bekannt gegeben würden. Als Leiter des Polizeikorps ist der Beschwerdeführer somit grundsätzlich von Bundesrechts wegen verpflichtet, der Staatsanwaltschaft die verlangten, ihm bekannten Informationen herauszugeben. Daran ändert der Hinweis auf die ihm nach kantonalem Personalrecht obliegenden Fürsorgepflichten nichts.
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3.2 Der untersuchende Staatsanwalt hat der beschuldigten Person sowie drei am Polizeieinsatz beteiligten Zeugen in Anwendung von Art. 149 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. a sowie Art. 150 Abs. 1 StPO Anonymität zugesichert. Die Frage, ob daran festzuhalten ist, wird das Zwangsmassnahmengericht zu beantworten haben (Art. 150 Abs. 2 StPO); sie ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Vorliegend zu beantworten ist nur die Frage, ob der Beschwerdeführer verpflichtet werden kann, der Staatsanwaltschaft die vollständigen Personalien sowie die konkrete Einsatzfunktion der am Einsatz vom 30. August 2011 beteiligten Polizeibeamten schriftlich bekannt zu geben. Dass der Beschwerdeführer zur Herausgabe der verlangten Informationen grundsätzlich verpflichtet ist, wurde bereits ausgeführt (vgl. E. 2.1-2.4 hiervor). Zu prüfen bleibt, ob - wie er geltend macht - eine an einem Strafuntersuchungsverfahren beteiligte Person unter Umständen auch gegenüber der Staatsanwaltschaft Anonymität beanspruchen kann und er gegebenenfalls deshalb die Herausgabe der verlangten Informationen verweigern darf.
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3.2.1 Haben die Strafbehörden der zu schützenden Person Anonymität zugesichert, haben sie die geeigneten Massnahmen zu treffen, um Verwechslungen oder Vertauschungen zu verhindern (Art. 149 Abs. 6 StPO), und zu prüfen, ob die Person, die sie vor sich haben, mit jener identisch ist, die sich hinter der Anonymität verbirgt (BGE 133 I 33 E. 3.1 S. 41 f. sowie E. 4.1 S. 43 mit Hinweisen). Daraus folgt, dass sie die Verfahrensbeteiligten identifizieren können müssen. Zwar bringt der Beschwerdeführer vor, eine Strafbehörde könne sich vor der Einvernahme einer zu schützenden Person auch von einem Polizeibeamten bzw. vom Polizeikommandanten bestätigen lassen, dass die einvernommene Person mit jener identisch ist, die sich hinter der Anonymität verbirgt. Dieses Vorgehen sei im Hinblick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip zu bevorzugen, weil es einen schriftlichen Vermerk der Identität in den Akten unnötig mache. Ob die Verfahrensrechte der weiteren Verfahrensbeteiligten in genügender Weise gewahrt bleiben, wenn eine Gerichtsbehörde die Identität einer zu schützenden Person nicht persönlich und anhand der Aufzeichnungen überprüft, sondern sich deren Identität einzig von einem Polizeibeamten bzw. vom Polizeikommandanten bestätigen lässt, kann vorliegend dahingestellt bleiben (vgl. dazu STEFAN WEHRENBERG, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 39 zu Art. 149 StPO sowie BGE 133 I 33 E. 4.1 S. 43). Jedenfalls muss aber die Staatsanwaltschaft als bis zur Einstellung des Verfahrens oder zur Anklageerhebung verfahrensleitende und gegenüber der Polizei weisungsbefugte Behörde die Identität der beschuldigten Person sowie der weiteren Verfahrensbeteiligten persönlich überprüfen können.
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Dem Beschwerdeführer ist darin zuzustimmen, dass die am Strafverfahren beteiligten Personen möglicherweise dereinst die Identität der am Einsatz vom 30. August 2011 beteiligten Polizeibeamten werden in Erfahrung bringen können, sofern das Zwangsmassnahmengericht die Genehmigung der von der Staatsanwaltschaft zugesicherten Anonymität rechtskräftig verweigern sollte. Die diesbezüglichen Bedenken des Beschwerdeführers hinsichtlich der Sicherheit der am Einsatz beteiligten Polizeibeamten können aber auf das vorliegende Verfahren keinen Einfluss haben, weil die Polizei und damit der Beschwerdeführer nach dem in E. 2.1-2.4 Ausgeführten ohnehin verpflichtet wäre, der Staatsanwaltschaft die verlangten Informationen herauszugeben, sofern das Zwangsmassnahmengericht die Genehmigung rechtskräftig verweigern würde. Solche Bedenken sind vielmehr der Staatsanwaltschaft mitzuteilen und von dieser dem Zwangsmassnahmengericht mit dem Genehmigungsantrag zu unterbreiten (Art. 150 Abs. 2 StPO).
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Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus geltend machen will, es bestehe die Gefahr, dass unter der Zusicherung der Anonymität erhobene Beweise den weiteren Verfahrensbeteiligten bekannt gegeben werden, erweist sich seine Rüge als unbegründet. Verweigert das Zwangsmassnahmengericht die Genehmigung, so dürfen die unter Zusicherung der Anonymität bereits erhobenen Beweise nicht verwertet werden (Art. 150 Abs. 3 StPO). Das Gleiche gilt, wenn ein Strafgericht zum Schluss kommt, die getroffenen Schutzmassnahmen seien mit den Verfahrensrechten der weiteren Beteiligten nicht vereinbar, zumal eine genehmigte oder erteilte Zusicherung der Anonymität sämtliche mit dem Fall betrauten Strafbehörden bindet (Art. 150 Abs. 4 StPO). Aufzeichnungen über unverwertbare Beweise sind aus den Akten zu entfernen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss zu halten und danach zu vernichten (Botschaft StPO, a.a.O., S. 1190 zu Art. 147 Abs. 3; vgl. auch Art. 141 Abs. 5 StPO).
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3.2.4 Sinn und Zweck der Zusicherung der Anonymität nach Art. 149 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. a sowie Art. 150 Abs. 1 StPO ist nach dem Gesagten die Geheimhaltung der Identität der betroffenen Person gegenüber Personen, die ihr Schaden zufügen könnten. Das Recht auf Anonymität besteht nicht gegenüber den Behörden wie etwa Staatsanwaltschaft und Gericht (NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 2009, N. 9 zu Art. 150 StPO; vgl. auch Art. 151 Abs. 1 lit. a StPO für die verdeckte Ermittlung), sondern nur gegenüber denjenigen Personen, welche eine Gefährdung darstellen könnten. Die Identifikation gegenüber den zuständigen Behörden (bei Kollegialgerichten zumindest gegenüber dem Vorsitzenden) ist auch im Falle von Schutzmassnahmen unverzichtbar (WEHRENBERG, a.a.O., N. 19 zu Art. 149 StPO mit Hinweis auf Art. 98b Militärstrafprozess vom 23. März 1979 [MStP; SR 322.1], wo ausdrücklich festgehalten wird, dass die Identität von Zeugen und Auskunftspersonen "gegenüber Personen, die ihnen Schaden zufügen könnten", geheim gehalten werden kann). Ohnehin undenkbar und mit Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 308 Abs. 1 und 2 StPO (vgl. E. 2.1 hiervor) unvereinbar wäre, dass die Staatsanwaltschaft nach Abschluss einer Untersuchung gegen eine Person Anklage erhebt oder einen Strafbefehl erlässt, ohne ihre Identität zu kennen. Aber auch über die Identität anderer zu schützender Verfahrensbeteiligter wie beispielsweise von Zeugen muss sich die Staatsanwaltschaft als verfahrensleitende Behörde ins Bild setzen können (vgl. Art. 143 Abs. 1 lit. a StPO). Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass die Strafbehörden ihrer Verantwortung für die Sicherheit der zu schützenden Personen bewusst sein müssen und die nötigen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz ihrer Identität einzuhalten haben (WEHRENBERG, a.a.O., N. 18 zu Art. 150 StPO).
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3.3 Damit steht fest, dass die am Einsatz vom 30. August 2011 beteiligten Polizisten im Strafuntersuchungsverfahren gegenüber der Staatsanwaltschaft keine Anonymität beanspruchen können und der Beschwerdeführer auch gestützt auf Art. 149 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. a sowie Art. 150 Abs. 1 StPO die schriftliche Bekanntgabe der verlangten Informationen nicht verweigern darf.
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