BGE 141 IV 236 |
30. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen X. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_385/2014 vom 23. April 2015 |
Regeste |
Art. 431 StPO, Art. 51 StGB. |
Sachverhalt |
A. Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führte gegen X. ein Strafverfahren wegen verschiedener Delikte, unter anderem wegen Körperverletzungsdelikten. X. befand sich vom 24. Juni 2012 bis zum 17. April 2013, mithin während 298 Tagen, in Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Während der Haftdauer wurde kein vorzeitiger Massnahmenvollzug angeordnet. Die Haft diente der Verhinderung weiterer Straftaten.
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B. Das Bezirksgericht Winterthur erkannte mit Urteil vom 17. April 2013, dass X. die Straftatbestände der versuchten schweren Körperverletzung, der qualifizierten einfachen Körperverletzung, der Tätlichkeiten und der Sachbeschädigung erfüllt hatte. Es sprach ihn von diesen Anklagevorwürfen wegen Schuldunfähigkeit jedoch frei. Hingegen erklärte es ihn des mehrfachen Hausfriedensbruchs schuldig. Es bestrafte X. mit einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 30.-. Gleichzeitig ordnete es eine stationäre therapeutische Massnahme an. Das Bezirksgericht stellte fest, dass sich X. im vorliegenden Verfahren während 208 Tagen in Überhaft befunden hatte. Es sprach ihm hierfür (nach Abzug von 11 Tagen, die an Ersatzfreiheitsstrafen gemäss diversen Strafbefehlen angerechnet werden konnten) im Umfang von 197 Tagen eine Genugtuung von Fr. 12'000.- zu.
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Auf Berufung der Staatsanwaltschaft und Anschlussberufung von X. hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 10. Februar 2014 das bezirksgerichtliche Urteil, soweit dieses nicht in Rechtskraft erwachsen war.
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C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich erhebt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das obergerichtliche Urteil vom 10. Februar 2014 sei wegen Verletzung von Art. 431 Abs. 2 und 3 StPO aufzuheben und die Strafsache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
3.3 Art. 431 Abs. 2 StPO stellt die Grundregel auf, dass Überhaft nur zu entschädigen ist, wenn sie nicht an die wegen anderer Straftaten ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann. Das steht im Einklang mit der im Kern kongruenten Regel von Art. 51 StGB. Gestützt auf diese Bestimmung rechnet das Gericht die Untersuchungshaft, die der Täter während dieses oder eines anderen Verfahrens ausgestanden hat, auf die Strafe an (vgl. BGE 135 IV 126 E. 1.3.5). Als Untersuchungshaft gilt jede in einem Strafverfahren verhängte Haft, Untersuchungs-, Sicherheits- und Auslieferungshaft (Art. 110 Abs. 7 StGB). Nach dem Wortlaut von Art. 51 StGB ist für die Anrechnung der Haft weder Tat- noch Verfahrensidentität erforderlich (vgl. auch BGE 133 IV 150 E. 5.1 S. 154 ff.; Urteil 1B_179/2011 vom 17. Juni 2011 E. 4.2; je mit Hinweisen). Anzurechnen ist sowohl auf unbedingte als auch auf bedingte Strafen (vgl. BGE 135 IV 126 E. 1.3.6; Urteil 6B_75/2009 vom 2. Juni 2009 E. 4.3 und 4.4). Art. 51 StGB liegt der Grundsatz der umfassenden Haftanrechnung zugrunde (so schon Urteil 6S.421/2005 vom 23. März 2006 zu aArt. 69 StGB). Erst wenn eine Anrechnung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft an eine andere Sanktion nicht mehr erfolgen kann, stellt sich die Frage der finanziellen Entschädigung (vgl. Urteil 6B_558/2013 vom 13. Dezember 2013 E. 1.5 mit Hinweisen). Der Ausgleich von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft soll demnach in erster Linie als Realersatz erfolgen. Es ist dabei primär auf Freiheitsstrafen anzurechnen, sekundär auf allfällige Nebensanktionen wie Geldstrafen, Arbeitsstrafen oder Bussen (vgl. BGE 135 IV 126 E. 1.3.6; BGE 133 IV 150 E. 5.1 S. 155 mit Hinweisen). Der Ausgleich in Form einer Entschädigung ist subsidiär. Der Betroffene hat diesbezüglich kein Wahlrecht (SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 4, 5 und 8 zu Art. 431 StPO; derselbe, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts [nachfolgend: Handbuch], 2. Aufl. 2013, N. 1826 ff. S. 816; WEHRENBERG/FRANK, a.a.O., N. 22 zu Art. 431 StPO; POPP/SEITZ, Ausgleich von Untersuchungshaft, Anwaltsrevue 2010 S. 163 ff. und 167 f.).
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3.4 Nicht geregelt ist im Gesetz die Frage der Anrechnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft an freiheitsentziehende Massnahmen im Sinne von Art. 56 ff. StGB. Die Meinungen im Schrifttum sind diesbezüglich geteilt. Nach der einen Auffassung ist Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft an freiheitsentziehende Massnahmen anzurechnen (GRIESSER, a.a.O., N. 11 zu Art. 431 StPO; siehe auch SCHMID, Handbuch, a.a.O., N. 1828 S. 817). Die Vertreter dieser Lehrmeinung verweisen zur Begründung ihres Standpunkts im Wesentlichen auf den Willen des Gesetzgebers, wonach eine Anrechnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft, falls möglich, auch an freiheitsentziehende Massnahmen erfolgt (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1330 zu Art. 439). Nach einer anderen Ansicht ist die Anrechnung von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft an stationäre Massnahmen des StGB hingegen ausgeschlossen. Begründet wird dies mit der Zweckverschiedenheit der Sanktionen. Massnahmen bezweckten im Unterschied zu Strafen nicht den Freiheitsentzug, sondern die Behandlung des Täters bzw. den Schutz der Bevölkerung (WEHRENBERG/FRANK, a.a.O., N. 30b und c zu Art. 431 StPO). Eine dritte Lehrmeinung nimmt eine im Ergebnis vermittelnde Position ein. Weder befürwortet sie die Anrechnung von Haft an freiheitsentziehende Massnahmen uneingeschränkt, noch schliesst sie eine solche prinzipiell aus. Sie stellt vielmehr auf die Art bzw. den Zweck der Massnahme ab. Soweit der Behandlungs- bzw. Heilungszweck bei einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB im Vordergrund steht, soll eine Anrechnung nicht in Frage kommen. Steht hingegen der Sicherungszweck bzw. der Schutz der Öffentlichkeit im Zentrum, müsse angerechnet werden können (METTLER/SPICHTIN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 45 und 46 zu Art. 51 StGB; vgl. auch PHILIPPE RUEDIN, Die Anrechnung der Untersuchungshaft nach dem Schweizerischen Strafgesetzbuch, 1979, S. 122; in diesem Sinne wohl auch TRECHSEL/AFFOLTER-EIJSTEN, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 7 zu Art. 51 StGB mit Hinweisen; MARKUS HUGENTOBLER, Gemeingefährliche psychisch kranke Personen in Untersuchungs- und Sicherheitshaft, 2008, S. 137; GENEVIÈVE ZIRILLI, Problèmes relatifs à la détention préventive, 1975, S. 138 ff.).
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3.5 Stationäre therapeutische Massnahmen nach Art. 59 StGB sind im Unterschied zu Strafen zeitlich relativ unbestimmt. Ihre Dauer hängt vom Behandlungsbedürfnis des Betroffenen und der Erfolgsaussicht der Massnahme (vgl. Art. 56 Abs. 1 lit. b StGB), letztlich also von den Auswirkungen der Massnahme auf die Gefahr weiterer Straftaten ab (vgl. BGE 136 IV 156 E. 2.3). Der mit ihr verbundene Freiheitsentzug beträgt in der Regel maximal fünf Jahre und kann um jeweils höchstens fünf Jahre verlängert werden (Art. 59 Abs. 4 StGB). Das Ende der Massnahme wird damit im Unterschied zum Ende der Strafe nicht durch simplen Zeitablauf bestimmt. Sie dauert vielmehr grundsätzlich so lange an, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich eine Zweckerreichung als aussichtslos erweist (BGE 141 IV 49 E. 2.1 und 2.2 S. 51 f.). Der Vollzug der Massnahme geht einer allenfalls gleichzeitig ausgesprochenen Freiheitsstrafe voraus (Art. 57 Abs. 2 StGB). Der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug ist auf die Strafe anzurechnen (Art. 57 Abs. 3 StGB; vgl. BGE 136 IV 156 E. 3.1).
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3.7 Die im StGB geregelten stationären Massnahmen verfolgen je nach Art, Stossrichtung und Einwirkungsmitteln verschiedenartige kriminalpolitische Belange. Ihr Zweck ergibt sich in erster Linie aus dem Gesetz. Bei stationären therapeutischen Massnahmen im Sinne von Art. 59 StGB ist die Behandlung und damit die Besserung des Täters von zentraler Bedeutung (so bereits BGE 127 IV 154 E. 2d). Das Besserungsziel allein rechtfertigt die Anordnung einer Massnahme jedoch nicht. Die Behandlung und damit die Besserung eines Täters stehen letztlich vielmehr immer im Dienste der Gefahrenabwehr. Sie stellen lediglich ein Mittel dar, mit welchem das Ziel, die Verhinderung oder Verminderung künftiger Straftaten, erreicht werden soll (BGE 124 IV 246 E. 3b). In diesem Sinne bedeutet jede Behandlung und Besserung eines Täters im Rahmen einer stationären Einweisung gleichzeitig auch Sicherung für die Zeit der Unterbringung. Das ergibt sich unmittelbar auch aus dem Wortlaut von Art. 59 Abs. 1 lit. b StGB. Danach ist eine stationäre therapeutische Massnahme nur anzuordnen, wenn und soweit zu erwarten ist, dass sich dadurch der Gefahr weiterer Straftaten begegnen lässt. Die Massnahme muss mit andern Worten im Hinblick auf die Deliktsprävention Erfolg versprechen (BGE 137 IV 201 E. 1.3). Oberstes Ziel deliktpräventiver Therapien ist die Reduktion des Rückfallrisikos bzw. die künftige Straflosigkeit des Täters (BGE 124 IV 246 E. 3b). Eine Besserung des Täters interessiert das Strafrecht grundsätzlich nur insoweit, als sich diese im Erlöschen der Gefährlichkeit des Täters auswirkt, sich also auf den Schutz der Öffentlichkeit vor weiterer Delinquenz bezieht (vgl. MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 1 und 3 Vor Art. 56 StGB; SCHWARZENEGGER/HUG/JOSITSCH, a.a.O., S. 7, 21 f., 35 f. und 162 f.).
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3.9 Dass und weshalb es sich im zu beurteilenden Fall anders verhalten und eine Anrechenbarkeit ausgeschlossen sein sollte, ist nicht ersichtlich. Wie sich aus den kantonalen Akten und dem erstinstanzlichen Entscheid ergibt, diente die gegen den Beschwerdegegner angeordnete Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft namentlich der Verhinderung von weiteren erheblichen Körperverletzungsdelikten und damit dem Schutz der Öffentlichkeit. Die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft war rechtmässig und keineswegs allzu lang. Den verantwortlichen Behörden kann kein irgendwie geartetes widerrechtliches Verhalten vorgeworfen werden. Im Gegenteil. Die Haft wurde erfolgreich dazu genutzt, um den Beschwerdegegner medikamentös einzustellen. Dass der Beschwerdegegner gefährlich ist, zeigt sich in der Anordnung der stationären therapeutischen Massnahme. Das psychiatrische Gutachten vom 25. März 2013 attestiert diesem eine schwere psychische Erkrankung (Schizophrenie) und eine deutliche Rückfallgefahr für weitere Gewalthandlungen ähnlich der Tatvorwürfe. Es empfiehlt die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme und rät von einer ambulanten Behandlung ab (vgl. Verfahren 6B_366/2014 E. 2). Daraus ergibt sich, dass der Beschwerdegegner die Öffentlichkeit erheblich gefährdet. Die angeordnete stationäre therapeutische Massnahme dient damit neben der Behandlung des Beschwerdegegners offenkundig auch dessen Sicherung. Insoweit verfolgten und verfolgen die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft und die Massnahme den gleichen Zweck. Die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft bildet unter diesem Aspekt gewissermassen den Vorläufer der stationären therapeutischen Massnahme und diese die Fortsetzung der Haft. Die vom Beschwerdegegner ausgestandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft im Umfang von 197 Tagen ist somit entgegen der Auffassung der Vorinstanz und in Gutheissung der Beschwerde an die angeordnete stationäre therapeutische Massnahme anzurechnen. Dies hat zur Folge, dass ein Entschädigungsanspruch grundsätzlich entfällt.
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