BGE 143 IV 138 |
18. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern und A. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_164/2016 vom 14. März 2017 |
Regeste |
Art. 117 StGB; Art. 35 SVG; Art. 42 Abs. 3 VRV; Art. 36 Abs. 1 SVG; fahrlässige Tötung, Sorgfaltspflichtverletzung; Rechtsvorbeifahren an einer Motorfahrzeugkolonne; Einspuren. |
Nach Art. 36 Abs. 1 SVG hat sich an den rechten Strassenrand zu halten, wer rechts abbiegen will. Es ist nicht erforderlich, derart rechts zu fahren, dass ein Vorbeikommen an der rechten Seite unmöglich ist. Es genügt, wenn der Abstand derart ist, dass vernünftigerweise nicht mehr damit gerechnet werden muss (E. 2.2.3). |
Sachverhalt |
B. Das Bezirksgericht Z. erklärte X. am 16. Januar 2015 der fahrlässigen Tötung schuldig. Es bestrafte ihn dafür mit einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu Fr. 140.- sowie einer Verbindungsbusse von Fr. 3'300.-. Zusätzlich wurde X. wegen zwei Übertretungen mit einer Busse von Fr. 500.- bestraft.
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C. Auf Berufung von X. bestätigte das Kantonsgericht Luzern das erstinstanzliche Urteil am 27. Oktober 2015.
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D. X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, er sei vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freizusprechen. Das Kantonsgericht, die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern und A. beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen.
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Aus den Erwägungen: |
1. Die Vorinstanz erwägt im Wesentlichen, der Beschwerdeführer habe vor dem Abbiegen die Richtungszeiger betätigt. Danach habe er aber rechtsseitig derart viel Raum gelassen, dass der von hinten kommende Velofahrer rechts habe vorbei fahren können. Er habe somit Art. 36 Abs. 1 SVG und Art. 13 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV; SR 741.11] verletzt, wonach wer nach rechts abbiegen wolle, rechts einzuspuren habe. Der Beschwerdeführer könne sich demnach nicht auf den aus Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz berufen. Der Beschwerdeführer habe seine Pflicht verletzt, vor dem Abbiegen den nachfolgenden Verkehr zu beachten und sich so der fahrlässigen Tötung im Sinne von Art. 117 StGB schuldig gemacht.
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Der Beschwerdeführer rügt, der Unfall habe sich ereignet, obwohl er korrekt eingespurt gewesen sei. B. habe die Verkehrssituation falsch eingeschätzt und sei von hinten in den Lastwagen gefahren.
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Erwägung 2 |
Nach dem aus der Grundregel von Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz darf jeder Strassenbenützer, der sich selbst verkehrsgemäss verhält, sofern nicht besondere Umstände dagegen sprechen, darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ebenfalls ordnungsgemäss verhalten, ihn also nicht behindern oder gefährden (BGE 125 IV 83 E. 2b).
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Erwägung 2.2 |
2.2.1 Nach Art. 35 SVG ist links zu überholen (Abs. 1). Wer überholt, muss auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich auf jene, die er überholen will, besonders Rücksicht nehmen (Abs. 3). Fahrzeuge dürfen nicht überholt werden, wenn der Führer die Absicht anzeigt, nach links abzubiegen (Abs. 5). Nach Art. 42 Abs. 3 VRV dürfen Radfahrer rechts neben einer Motorfahrzeugkolonne vorbeifahren, wenn genügend freier Raum vorhanden ist; das slalomartige Vorfahren ist untersagt. Sie dürfen die Weiterfahrt der Kolonne nicht behindern und sich namentlich nicht vor haltende Wagen stellen. Die Vorschriften zum Überholen sind sinngemäss auch auf das Vorbeifahren im Sinne von Art. 42 Abs. 3 VRV anwendbar (STEFAN MAEDER, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 19 zu Art. 35 SVG). Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass nach Art. 42 Abs. 3 VRV Radfahrer selbst dann an Fahrzeugen rechts vorbeifahren dürfen, wenn diese das rechte Blinklicht eingeschaltet haben (BGE 127 IV 34 E. 3c/aa; Urteil 6S.293/1999 vom 23. November 1999 E. 4a). Dies ist zu präzisieren. Art. 35 SVG enthält keine Sondervorschrift für das Überholen von Rechtsabbiegern, weshalb dieses Manöver nach Art. 35 Abs. 3 SVG zu beurteilen ist (HANS GIGER, SVG, Kommentar, 8. Aufl. 2014, N. 29 zu Art. 35 SVG; siehe auch STEFAN MAEDER, a.a.O, N. 80 zu Art. 35 SVG). Ein Fahrzeugführer, der in einer sich bewegenden Fahrzeugkolonne mittels der entsprechenden Richtungsanzeige die Absicht signalisiert, nach rechts abbiegen zu wollen, wird von einem rechtsvorbeifahrenden Velofahrer behindert, wenn Letzterer nicht vorbeifahren kann, ohne den Weg des abbiegenden Fahrzeugs schneiden zu müssen. In diesem Fall erlaubt Art. 35 Abs. 3 SVG kein rechtsseitiges Vorbeifahren. Nicht geklärt werden muss vorliegend hingegen die Frage, ob Radfahrer an Fahrzeugen mit eingeschalteter rechter Richtungsanzeige in einer stehenden Fahrzeugkolonne bis zu einem Haltebalken vorbeifahren dürfen.
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Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz stellte der Beschwerdeführer den rechten Blinker etwa 20 Meter beziehungsweise 30 bis 40 Meter vor der Kreuzung. Ab diesem Zeitpunkt war es nicht mehr möglich, den abbiegenden Lastwagen zu passieren, ohne dessen Weg schneiden zu müssen. Der Radfahrer hätte daher nicht am Fahrzeug des Beschwerdeführers vorbeifahren dürfen.
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2.2.2 Nach dem Vertrauensgrundsatz darf nur auf ordnungsgemässes Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vertrauen, wer sich selbst verkehrsgemäss verhält. Wer rechts abbiegen will, hat sich nach Art. 36 Abs. 1 SVG an den rechten Strassenrand zu halten. Nach der Rechtsprechung muss sich der nach rechts abbiegende Fahrzeuglenker grundsätzlich durch geeignete Vorkehren nach rückwärts vergewissern, ob er das Manöver gefahrlos durchführen kann. Wo er sich vorschriftsgemäss an den rechten Strassenrand hält und nach rechts abbiegen kann, ohne zuvor brüsk zu bremsen oder nach der Gegenseite ausholen zu müssen, besteht aber keine Veranlassung, ihn vor dem Abbiegen auch zur Beobachtung des nachfolgenden Verkehrs zu verpflichten. Auf den Vertrauensgrundsatz kann sich hingegen nicht berufen, wer eine für andere Verkehrsteilnehmer unklare oder gefährliche Verkehrslage schafft. So ist, wer einen so weiten Abstand vom rechten Strassenrand einhalten muss, dass er rechts überholt werden kann, zu besonderer Vorsicht verpflichtet und muss alle Vorkehren treffen, um den sich aus diesem Umstand ergebenden Gefahren begegnen zu können. Er darf erst dann nach rechts abbiegen, wenn er die Gewissheit erlangt hat, dass er dabei nicht mit einem anderen Verkehrsteilnehmer kollidieren werde (BGE 127 IV 34 E. 2b; Urteile 1C_32/2011 vom 4. Juli 2011 E. 2.1; 6B_443/2013 vom 18. Dezember 2013 3.3; je mit Hinweisen).
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Die Vorinstanz stützt ihre Überlegungen offenbar auf die Annahme, dass der Abstand zwischen dem Lastwagen und dem Randstein 39 cm betragen habe. Sie bezeichnet dieses Mass selbst als Minimalabstand. Dafür, dass der Abstand grösser gewesen sein soll, bestehen aber keine konkreten Hinweise. Es ist deshalb anzunehmen, dass der Abstand beim Einspuren nicht grösser als 39 cm war.
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Die in Art. 36 Abs. 1 SVG geregelte Pflicht, rechts einzuspuren, dient insbesondere dazu, ein Rechtsvorbeifahren von Zweiradfahrern und damit deren Gefährdung zu verhindern (PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, 2. Aufl. 2015, N. 9 zu Art. 36 SVG). Art. 36 Abs. 1 SVG verlangt indes nicht, dass der rechtsabbiegende Fahrzeugführer derart rechts fährt, dass ein Vorbeikommen an der rechten Seite unmöglich ist. Es genügt, wenn der Abstand derart ist, dass vernünftigerweise nicht mehr damit gerechnet werden muss. Dies ist bei einem Abstand von 39 cm zwischen dem Lastwagen und dem Trottoir der Fall. Die Vorinstanz stellt fest, dass bei diesem Abstand ein Radfahrer bei der Rekonstruktion nur mit Mühe am Lastwagen vorbeifahren konnte. Dass die bei Nachbildung verwendeten Pylonen höher gewesen sein sollen, als der damalige Randstein, ist unerheblich, zumal dies an der zur Verfügung stehenden Fläche nichts ändert. Entgegen den Erwägungen der Vorinstanz hat der Beschwerdeführer seine Pflicht, rechts einzuspuren, nicht verletzt.
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2.3 Der Beschwerdeführer durfte gestützt auf Art. 26 Abs. 1 SVG darauf vertrauen, beim Abbiegen nicht rechts überholt zu werden. Ihm ist demnach keine Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen, womit er sich der fahrlässigen Tötung nicht schuldig gemacht hat. Nicht relevant ist vorliegend das Urteil 6B_433/2013 vom 18. Dezember 2013, zumal in dem damals zu beurteilenden Fall dem Lastwagenlenker nicht vorgeworfen worden war, den nachfolgenden Verkehr nicht beachtet zu haben, sondern vielmehr, dass er bei einem Lichtsignal bei der Grünphase losfuhr, ohne sich zu vergewissern, dass sich kein anderer Verkehrsteilnehmer vor seinem Lastwagen platziert hatte (Urteil 6B_433/2013 vom 18. Dezember 2013 E. 3.4). Die Sache ist zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es erübrigt sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen. (...)
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