BGE 146 IV 279 |
29. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_292/2020 vom 6. Juli 2020 |
Regeste |
Art. 5 Abs. 2, Art. 229 Abs. 3 lit. b, Art. 227 StPO; Anordnung von Sicherheitshaft bei vorbestehender Untersuchungshaft, Dauer. |
Sachverhalt |
Am 22. April 2020 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Bezirksgericht Zürich. Sie beantragte die Verurteilung von A. wegen versuchten Raubes, mehrfacher Sachbeschädigung und Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 7 Monaten Freiheitsstrafe und Fr. 200.- Busse sowie die Anordnung einer stationären Massnahme nach Art. 59 Abs. 1 StGB (Behandlung psychischer Störungen).
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Gleichentags beantragte die Staatsanwaltschaft dem Zwangsmassnahmengericht die Anordnung von Sicherheitshaft.
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Mit Verfügung vom 28. April 2020 versetzte das Zwangsmassnahmengericht A. in Sicherheitshaft. Es bewilligte diese vorerst bis zum 28. Oktober 2020, längstens aber bis zur Eröffnung des bezirksgerichtlichen Urteils.
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Die von A. dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich (III. Strafkammer) am 25. Mai 2020 ab. Es bejahte den dringenden Tatverdacht und Wiederholungsgefahr. Die Haft beurteilte es als verhältnismässig und deren Verlängerung um 6 Monate, d.h. bis zum 28. Oktober 2020, als zulässig.
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B. A. führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben, soweit er die Befristung der Sicherheitshaft bis zum 28. Oktober 2020 betrifft. Die Sicherheitshaft sei zu befristen bis vorerst 24. Juli 2020, längstens bis zur Eröffnung des bezirksgerichtlichen Urteils.
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(...)
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 2 |
2.2 Gemäss Art. 220 StPO beginnt die Untersuchungshaft mit ihrer Anordnung durch das Zwangsmassnahmengericht und endet unter anderem mit dem Eingang der Anklage beim erstinstanzlichen Gericht (Abs. 1). Als Sicherheitshaft gilt die Haft während der Zeit zwischen dem Eingang der Anklageschrift beim erstinstanzlichen Gericht und der Rechtskraft des Urteils, dem Antritt einer freiheitsentziehenden Sanktion, dem Vollzug der Landesverweisung oder der Entlassung (Abs. 2).
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Nach Art. 229 StPO entscheidet über die Anordnung der Sicherheitshaft bei vorbestehender Untersuchungshaft das Zwangsmassnahmengericht auf schriftliches Gesuch der Staatsanwaltschaft (Abs. 1). Das Verfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht richtet sich bei vorbestehender Untersuchungshaft sinngemäss nach Artikel 227 (Abs. 3 lit. b).
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Gemäss Art. 227 Abs. 7 StPO wird die Verlängerung der Untersuchungshaft jeweils für längstens 3 Monate, in Ausnahmefällen für längstens 6 Monate bewilligt.
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Nach der Rechtsprechung liegt ein Ausnahmefall im Sinne von Art. 227 Abs. 7 StPO etwa vor, wenn von vornherein ersichtlich ist, dass der Haftgrund auch nach mehr als 3 Monaten noch gegeben ist oder langwierige Erhebungen mittels Rechtshilfe erforderlich sind (Urteile 1B_465/2018 vom 2. November 2018 E. 4.4; 1B_145/2017 vom 4. Mai 2017 E. 4.4; je mit Hinweisen).
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Dem folgt die Vorinstanz lediglich im Ergebnis. Sie führt aus, angesichts der konkreten Verhältnisse, insbesondere der vom Beschwerdeführer ausgehenden deutlichen und ausgeprägten Gefahr für Dritte, werde der Haftgrund der Wiederholungsgefahr auch nach mehr als 3 Monaten noch unverändert vorliegen, womit sich ausnahmsweise auch die vom Zwangsmassnahmengericht auf 6 Monate befristete Sicherheitshaft rechtfertige.
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2.4 Im Zeitpunkt, in dem das Zwangsmassnahmengericht Sicherheitshaft anordnet, ist die Strafuntersuchung abgeschlossen und bereitet das erstinstanzliche Gericht - sofern auf die Anklage einzutreten ist - die Hauptverhandlung vor (Art. 330 StPO). Dass sich an den Haftgründen (Wiederholungs-, Flucht-, Kollusions- oder Ausführungsgefahr) in dieser Phase des Verfahrens nichts mehr ändert, ist die Regel. Träfen die vorinstanzlichen Erwägungen zu, wäre die Sicherheitshaft deshalb in der Regel für längstens 6 Monate anzuordnen. Dies widerspricht Art. 229 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 227 Abs. 7 StPO, wonach die Anordnung der Sicherheitshaft für längstens 6 Monate auf Ausnahmefälle beschränkt ist.
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Wesentlich für die Festsetzung der Dauer der Sicherheitshaft ist, wie lange das erstinstanzliche Gericht voraussichtlich für die Vorbereitung der Hauptverhandlung brauchen wird. Handelt es sich etwa um einen aufwändigen und komplexen Wirtschaftsstraffall mit umfangreichen Akten und ist absehbar, dass das erstinstanzliche Gericht die Hauptverhandlung nicht innert 3 Monaten ansetzen kann, spricht dies für die ausnahmsweise Zulässigkeit der Anordnung der Sicherheitshaft für längstens 6 Monate.
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Um einen derartigen Fall geht es hier nicht. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, beim Versuch des Diebstahls eines T-Shirts durch eine Mitbeschuldigte den Verkäufer abgelenkt zu haben und, nachdem die Mitbeschuldigte ertappt worden war, auf diesen eingeschlagen zu haben. Hinzu kommen im Vergleich dazu untergeordnete Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Der Fall bietet weder in tatsächlicher noch rechtlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten. Die heikelste Frage ist, ob gegen den Beschwerdeführer gegebenenfalls eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB anzuordnen sei. Dazu hat sich der psychiatrische Sachverständige in seinem Gutachten vom 11. Februar 2020 eingehend geäussert. Auch insoweit verursacht der Fall deshalb keinen besonderen Aufwand.
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Unter diesen Umständen müsste die Ansetzung der Hauptverhandlung innert 3 Monaten möglich sein. Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass das Bezirksgericht über die Angelegenheit als Kollegialgericht in der Besetzung mit drei Richtern urteilt und diese die Akten vor der Hauptverhandlung sichten müssen (§ 14 i.V.m. § 27 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 10. Mai 2010 über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess [GOG; LS 211.1]; Art. 330 Abs. 2 StPO). Dass die Ansetzung der Hauptverhandlung innert 3 Monaten wegen der Corona-Krise ausser Betracht falle, legt die Vorinstanz nicht dar. Dies ist auch nicht ersichtlich, da die Akten auch im Home-Office studiert werden können. Wenn die Vorinstanz die Anordnung der Sicherheitshaft für längstens 6 Monate als zulässig erachtet, signalisiert sie damit dem Bezirksgericht, es könne sich mit der Ansetzung der Hauptverhandlung ruhig Zeit lassen. Dies lässt sich mit Art. 5 Abs. 2 StPO nicht vereinbaren. Danach wird das Verfahren vordringlich geführt, wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet.
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Die Beschwerde ist im vorliegenden Punkt demnach begründet.
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Erwägung 3 |
Art. 227 StPO, der hier nach Art. 229 Abs. 3 lit. b StPO sinngemäss anwendbar ist, regelt das Verfahren bei einem Gesuch um Verlängerung der Untersuchungshaft und bestimmt was folgt: Läuft die vom Zwangsmassnahmengericht festgesetzte Dauer der Untersuchungshaft ab, so kann die Staatsanwaltschaft ein Haftverlängerungsgesuch stellen. Hat das Zwangsmassnahmengericht die Haftdauer nicht beschränkt, so ist das Gesuch vor Ablauf von 3 Monaten Haft zu stellen (Abs. 1). Die Staatsanwaltschaft reicht dem Zwangsmassnahmengericht das schriftliche und begründete Gesuch spätestens 4 Tage vor Ablauf der Haftdauer ein und legt ihm die wesentlichen Akten bei (Abs. 2). Das Zwangsmassnahmengericht gibt der beschuldigten Person und ihrer Verteidigung Gelegenheit, die ihm vorliegenden Akten einzusehen und innert 3 Tagen schriftlich zum Gesuch Stellung zu nehmen (Abs. 3). Es kann die provisorische Fortdauer der Untersuchungshaft bis zu seinem Entscheid anordnen (Abs. 4). Das Zwangsmassnahmengericht entscheidet spätestens innert 5 Tagen nach Eingang der Stellungnahme beziehungsweise Ablauf der in Absatz 3 genannten Frist (Abs. 5).
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Aufgrund der in Art. 227 StPO enthaltenen Fristbestimmungen entscheidet das Zwangsmassnahmengericht über die Verlängerung der Untersuchungshaft in der Regel erst nach Ablauf der ursprünglich festgesetzten Dauer der Untersuchungshaft. Mit der provisorischen Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft gemäss Art. 227 Abs. 4 StPO wird vermieden, dass es zwischen dem Ablauf der ursprünglich festgesetzten Dauer der Untersuchungshaft und dem Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts nach Art. 227 Abs. 5 StPO an einem gültigen Hafttitel fehlt.
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3.4 Gegenstand von Art. 227 StPO ist die Verlängerung der Untersuchungshaft nach Ablauf ihrer vom Zwangsmassnahmengericht festgesetzten Dauer. Dies ergibt sich klar aus dessen Absatz 1 Satz 1. Wenn Art. 227 Abs. 7 StPO die Verlängerung der Untersuchungshaft jeweils für längstens 3 bzw. 6 Monate als zulässig erklärt, spricht das deshalb dafür, diese Fristen zu berechnen ab dem Ablauf der vom Zwangsmassnahmengericht festgesetzten Haftdauer. Dies stützt Art. 227 Abs. 4 StPO, wonach das Zwangsmassnahmengericht die provisorische Fortdauer der Untersuchungshaft bis zu seinem Entscheid anordnen kann. Nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung geht es insoweit bereits um die Verlängerung der Untersuchungshaft über die ursprünglich festgesetzte Dauer hinaus und nicht um eine Haft sui generis während des zwangsmassnahmengerichtlichen Verfahrens. Dies legt es nahe, die Zeitspanne, um welche das Zwangsmassnahmengericht die Haft nach Art. 227 Abs. 4 StPO provisorisch verlängert hat, bei der Festlegung der Frist nach Art. 227 Abs. 7 StPO anzurechnen. Folgendes kommt hinzu: Die Haft stellt einen schweren Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) dar. Sie bedarf daher, auch was ihre Dauer betrifft, einer klaren gesetzlichen Grundlage (BGE 144 I 126 E. 5.1 S. 134 mit Hinweisen). Eine solche gesetzliche Grundlage dafür, die Frist gemäss Art. 227 Abs. 7 StPO ab dem Zeitpunkt des Entscheids des Zwangsmassnahmengerichts nach Art. 227 Abs. 5 StPO beginnen zu lassen (und damit die Haft für eine längere Dauer als zulässig anzusehen), besteht nicht. Die Frist von längstens 3 bzw. 6 Monaten nach Art. 227 Abs. 7 StPO ist deshalb zu berechnen ab dem Ablauf der Dauer der ursprünglich festgesetzten Untersuchungshaft.
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3.6 Im vorliegenden Fall ging die Anklage am 24. April 2020 beim Bezirksgericht ein. Bereits ab diesem Tag befand sich der Beschwerdeführer (provisorisch) in Sicherheitshaft. Der 24. April 2020 ist bei der Berechnung der Dauer von 3 Monaten mitzuzählen. Daraus ergibt sich gemäss Art. 110 Abs. 6 StGB, der auch bei der Berechnung der Fristen der Strafprozessordnung anwendbar ist, die Begrenzung der Sicherheitshaft nicht, wie vom Beschwerdeführer beantragt, auf den 24. Juli 2020, sondern auf den 23. Juli 2020 (BGE 127 II 174 E. 2b/cc S. 176 f.; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, S. 397 Rz. 1289; DANIEL LOGOS, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 7 zu Art. 227 StPO; MATTHIAS ZURBRÜGG, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 7, 12 und 16 zu Art. 110 Abs. 6 StGB).
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Da der Beschwerdeführer die Befristung der Sicherheitshaft auf 3 Monate verlangt und diese am 23. Juli 2020 ablaufen, geht das Bundesgericht damit in der Sache nicht über den Antrag des Beschwerdeführers hinaus, weshalb Art. 107 Abs. 1 BGG dieser Befristung nicht entgegensteht. Dass der Beschwerdeführer das Ende der Frist fälschlicherweise auf den 24. Juli 2020 berechnet, schadet ihm daher nicht.
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4. Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen und der angefochtene Beschluss aufzuheben, soweit die Vorinstanz die Sicherheitshaft bis zum 28. Oktober 2020 genehmigt hat. Die Sicherheitshaft wird bewilligt bis vorerst zum 23. Juli 2020, längstens aber bis zur Eröffnung des bezirksgerichtlichen Urteils (Art. 231 StPO).
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