BGE 146 IV 332
 
36. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_130/2020 vom 17. September 2020
 
Regeste
Art. 429 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 StPO; Entschädigungsanspruch bei Verfahrenseinstellung.
Eine Entschädigung kann in einem späteren Verfahrensschritt nicht mehr geltend gemacht werden (E. 1.4).
 
Sachverhalt
A. Am 3. Juli 2017 kam es auf einer Quartierstrasse in U. zu einer Nachbarschaftsstreitigkeit zwischen B. und den Eheleuten C. A. wollte das Geschehen mit ihrem Mobiltelefon aufnehmen, was wiederum zu Differenzen zwischen ihr und B. führte. Der Vorfall vom 3. Juli 2017 hatte die Eröffnung von Strafverfahren gegen sämtliche Beteiligten, so auch gegen A. und B., zur Folge. Die Staatsanwaltschaft stellte mit Verfügung vom 15. August 2019 die vier auf Beschwerde von A. hin gemeinsam geführten Verfahren wegen Beschimpfung etc. gegen alle Beteiligten ein. Sie nahm die Verfahrenskosten auf die Staatskasse, richtete der anwaltlich vertretenen A. jedoch keine Entschädigung aus.
B. Gegen die Einstellungsverfügung erhob A. Beschwerde beim Obergericht des Kantons Thurgau und beantragte, die Dispositivziffern betreffend die Einstellung des Verfahrens gegen B. sowie die Verweigerung einer Entschädigung seien aufzuheben und die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, B. wegen falscher Anschuldigung, eventuell Irreführung der Rechtspflege, Verleumdung, eventuell übler Nachrede, anzuklagen. Ferner sei B., eventuell der Staat, zu verpflichten, ihr eine Entschädigung von Fr. 6'764.75 für die Kosten ihrer Verteidigung zu bezahlen. Nachdem B. in der Beschwerdeantwort die Abweisung der Beschwerde beantragt hatte, schränkte A. ihre Beschwerde auf die Anfechtung der Verweigerung einer Entschädigung für die Kosten der Verteidigung ein. Das Obergericht des Kantons Thurgau wies die Beschwerde mit Entscheid vom 12. Dezember 2019 ab, soweit sie nicht durch Rückzug gegenstandslos geworden war, auferlegte A. eine Verfahrensgebühr von Fr. 1'000.- und verpflichtete sie zur Leistung einer Prozessentschädigung an B. von Fr. 480.-.
C. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, der Entscheid des Obergerichts vom 12. Dezember 2019 sei aufzuheben und stattdessen sei der Staat zu verpflichten, sie für die Kosten ihrer Verteidigung mit Fr. 6'764.75 zu entschädigen und an ihrer Stelle B. eine Entschädigung von Fr. 480.- zu bezahlen. Eventualiter sei die Sache zur Neufestsetzung der Kosten- und Entschädigungsfolgen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau und das Obergericht wurden zur Vernehmlassung eingeladen. Das Obergericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Generalstaatsanwaltschaft liess sich nicht vernehmen. A. machte von ihrem Replikrecht Gebrauch.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
1.1 Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Verweigerung einer Entschädigung für ihre Wahlverteidigung hauptsächlich mit der Begründung, die Vorinstanz hätte die Festsetzung dieser Entschädigung von Amtes wegen vornehmen müssen. Zum einen habe der Vorinstanz die vom Verteidiger an die Staatsanwaltschaft gefaxte Kostennote vorgelegen und zum anderen hätte sie nicht auf einen impliziten Verzicht auf Entschädigung schliessen dürfen, nur weil die Beschwerdeführerin die Kostennote nach Fristablauf eingereicht habe, zumal solches im Falle der Säumnis auch nicht angedroht worden sei. Entgegen der Vorinstanz, die ihre rigorose Haltung auf zwei Lehrmeinungen und einen nicht einschlägigen Entscheid des Bundesgerichts stütze, sei der Verteidigungsaufwand nach pflichtgemässem Ermessen anhand der Strafakten, der gesetzlichen Tarife und der üblichen Stundenansätze für Rechtsanwälte festzusetzen, selbst wenn eine Kostennote mit Leistungsverzeichnis fehle. Wo, wie bei Art. 429 Abs. 2 StPO, ein Rechtsanspruch von Amtes wegen bestehe, könne keine Mitwirkungspflicht mit Rechtsverlust bestehen, sondern bloss eine Mitwirkungsobliegenheit, deren Verletzung nur faktische Nachteile nach sich ziehen könne, wie hier die Festsetzung der Entschädigung nach pflichtgemässem Ermessen. Indem die Vorinstanz den Entschädigungsanspruch der Freizusprechenden an das pünktliche Abliefern einer Kostennote knüpfe, verletze sie Art. 429 Abs. 2 StPO und das Verbot des überspitzten Formalismus gemäss Art. 29 Abs. 1 BV.
 
Erwägung 1.2
1.2.1 In tatsächlicher Hinsicht stellt die Vorinstanz fest, die mittels Einschreiben vom 28. Juni 2019 dem Rechtsbeistand der Beschwerdeführerin zugesandte Aufforderung, allfällige Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche binnen 14 Tagen anzumelden, zu beziffern und zu belegen, sei diesem am 1. Juli 2019 zugestellt worden. Auf sein Gesuch hin sei die Frist bis zum 11. August 2019 erstreckt worden, jedoch sei innert Frist keine Honorarnote eingegangen. Daraufhin sei am 15. August 2019 die Einstellung durch die Staatsanwaltschaft verfügt worden. Die Honorarnote des Verteidigers sei erst am 16. August 2019 um 15.04 Uhr per Fax eingegangen und damit fünf Tage nach Ablauf der Nachfrist und auch nach Erlass des Einstellungsentscheids, weshalb die Staatsanwaltschaft die Honorarnote nicht mehr habe berücksichtigen können.
1.2.2 In rechtlicher Hinsicht erwägt die Vorinstanz, die Staatsanwaltschaft habe von einem impliziten Verzicht auf eine Entschädigung ausgehen dürfen, da die Beschwerdeführerin (bewusst) die erstreckte Frist unbenutzt habe verstreichen lassen. Auf die nach Ablauf der erstreckten Frist und nach Einstellung des Strafverfahrens eingegangene Kostennote habe die Staatsanwaltschaft nicht mehr eingehen müssen, zumal die Entschädigung in einem späteren Verfahrensabschnitt ohnehin nicht mehr habe geltend gemacht werden können. Hinzu komme, dass die Beschwerdeführerin im eingestellten Strafverfahren Beschuldigte und Privatklägerin in Personalunion gewesen sei und im Beschwerdeverfahren zunächst noch beantragt habe, die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung anzuweisen. Aus dieser Konstellation folge, dass die Aufwendungen im Zusammenhang mit der Verteidigung der Beschwerdeführerin als Beschuldigte vom Aufwand für die Vertretung als Privatklägerin hätte abgegrenzt werden müssen, weshalb die Beschwerdeführerin umso mehr gehalten gewesen wäre, ihre Entschädigungsforderung spätestens binnen der verlängerten Frist anzumelden, zu beziffern und zu belegen.
1.3 Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte. Darunter fallen zum einen die Kosten der Wahlverteidigung, sofern der Beizug eines Anwalts angesichts der tatsächlichen oder rechtlichen Komplexität des Falls geboten war. Zum anderen können bei besonderen Verhältnissen auch die eigenen Auslagen der Partei entschädigt werden. Gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 1 StPO muss die Strafbehörde den Entschädigungsanspruch von Amtes wegen prüfen. Dies bedeutet indessen nicht, dass die Strafbehörde im Sinne des Untersuchungsgrundsatzes von Art. 6 StPO alle für die Beurteilung des Entschädigungsanspruchs bedeutsamen Tatsachen von Amtes wegen abzuklären hat. Sie hat aber die Parteien zur Frage mindestens anzuhören und gegebenenfalls gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 2 StPO aufzufordern, ihre Ansprüche zu beziffern und zu belegen (BGE 144 IV 207 E. 1.3.1 S. 209; BGE 142 IV 237 E. 1.3.1 S. 240; Urteile 6B_4/2019 vom 19. Dezember 2019 E. 5.2.5; 6B_669/2018 vom 1. April 2019 E. 2.3; 6B_552/2018 vom 27. Dezember 2018 E. 1.3; 1B_370/2018 vom 10. Dezember 2018 E. 3.1; 6B_375/2016 vom 28. Juni 2016 E. 3.1). Die beschuldigte Person trifft insofern eine Mitwirkungspflicht (Urteile 6B_928/2018 vom 26. März 2019 E. 2.2.2; 6B_561/2014 vom 11. September 2014 E. 3.1 mit Hinweis). Fordert die Behörde die beschuldigte Person auf, ihre Ansprüche zu beziffern und reagiert diese nicht, kann gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung von einem (impliziten) Verzicht auf eine Entschädigung ausgegangen werden (Urteile 1B_370/2018 vom 10. Dezember 2018 E. 3.1; 6B_632/2017 vom 22. Februar 2018 E. 2.3; 6B_842/2014 vom 3. November 2014 E. 2.1; 6B_561/2014 vom 11. September 2014 E. 3.1; 6B_472/2012 vom 13. November 2012 E. 2.4).
1.4 Wie bereits ausgeführt, forderte die Staatsanwaltschaft die Beschwerdeführerin bzw. ihren Rechtsvertreter mit Parteimitteilung vom 28. Juni 2019 auf, allfällige Entschädigungsansprüche zu beziffern und zu belegen und setzte ihr hierfür eine Frist von 14 Tagen an. Bereits deshalb unterscheidet sich der vorliegende Fall wesentlich vom Sachverhalt, der dem von der Beschwerdeführerin erwähnten bundesgerichtlichen Entscheid 1B_475/2011 vom 11. Januar 2012 zugrunde lag. Wie aus dem genannten Entscheid hervorgeht, kam die Behörde dort der Pflicht, allfällige Entschädigungsansprüche von Amtes wegen abzuklären und die Partei gegebenenfalls zur Bezifferung ihres Anspruchs aufzufordern, nicht nach. Im Gegensatz dazu beantragte die Beschwerdeführerin vorliegend zunächst die Erstreckung der angesetzten Frist, liess sich innert der erstreckten Frist aber nicht vernehmen. Der Einstellungsentscheid erging am 15. August 2019. Die Beschwerdeführerin reichte erst am Folgetag per Fax eine Kostennote ein. Diese konnte somit beim Entscheid vom 15. August 2019 bereits aus tatsächlichen Gründen nicht mehr berücksichtigt werden. Da die Beschwerdeführerin innert der angesetzten Frist nicht reagierte, durfte die Staatsanwaltschaft ohne Weiteres von einem Verzicht auf die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs ausgehen. Es bestand, entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin, auch keine Pflicht der Behörde, die Entschädigung nach Ermessen festzusetzen. Die Festsetzung nach Ermessen würde sich denn vorliegend auch schwierig gestalten, da die Staatsanwaltschaft die effektiven Aufwendungen der Verteidigung nicht kannte (vgl. dazu Urteil 6B_928/2018 vom 26. März 2019 E. 2.2.2) und es aufgrund der Doppelrolle der Beschwerdeführerin als Beschuldigte und Privatklägerin zwingend erforderlich war, die Kosten klar voneinander abzugrenzen. Die Staatsanwaltschaft war somit auf die Mitwirkung der Beschwerdeführerin angewiesen. Weiter überzeugt auch der Einwand der Beschwerdeführerin nicht, die Beschwerdeinstanz hätte den Anspruch nachträglich prüfen können, da ihr in dieser Frage volle Kognition zugekommen sei und eine Beweisergänzung gestützt auf Art. 389 StPO möglich gewesen wäre. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann eine Entschädigung in einem späteren Verfahrensschritt nicht mehr geltend gemacht werden (Urteile 6B_632/2017 vom 22. Februar 2018 E. 2.3; 6B_842/2014 vom 3. November 2014 E. 2.1; vgl. WEHRENBERG/FRANK, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 31b zu Art. 429 StPO; SCHMID/JOSITSCH, in: Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, N. 1819 Fn. 154). Daran ändert nichts, dass Beweisergänzungen im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich möglich sind.
Dass vorliegend von einem (impliziten) Verzicht ausgegangen wird, verletzt auch nicht das Verbot des überspitzten Formalismus. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht im Widerspruch zu Art. 29 Abs. 1 BV (vgl. BGE 145 I 201 E. 4.2.1 S. 204; BGE 142 I 10 E. 2.4.2 S. 11; BGE 130 V 177 E. 5.4.1 S. 183 f.). Gemäss Art. 93 StPO ist eine Partei säumig, wenn sie eine Verfahrenshandlung nicht fristgerecht vornimmt oder zu einem Termin nicht erscheint. Der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin musste die genannte Bestimmung ebenso bekannt sein wie der Umstand, dass das Verpassen einer Frist mit einem Rechtsverlust verbunden sein kann. Entgegen ihrer Auffassung war es nicht erforderlich, die Beschwerdeführerin auf die Säumnisfolgen hinzuweisen oder ihr eine Nachfrist anzusetzen. Solches ist in Art. 93 StPO nicht vorgesehen. Vielmehr kann eine Partei, die eine Frist unverschuldet versäumt, ein Wiederherstellungsgesuch nach Art. 94 StPO stellen. Die betreffende Bestimmung wurde vorliegend allerdings nicht angerufen oder als verletzt gerügt.