BGE 147 IV 9 |
2. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_1468/2019 vom 1. September 2020 |
Regeste |
Art. 141 Abs. 2 StPO; Art. 260 Abs. 1 StGB; Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Videoaufnahmen bei Landfriedensbruch. |
Sachverhalt |
A. Mit Strafbefehl vom 16. Mai 2017 wirft die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland A. zusammengefasst vor, er habe am 25. April 2015 an der unbewilligten Kundgebung "B." in Bern teilgenommen. Zu dieser hätten sich ungefähr 300 Personen versammelt. Auf dem Bundesplatz seien diverse Reden gehalten worden und es sei zu Sachbeschädigungen an den Bauabschrankungen rund um die Bank C. gekommen. Bei der Filiale der Bank D. am Bahnhofplatz, beim Hotel E., beim Coiffeur F. am Bollwerk und am Kopf der Lorrainebrücke sei es zu weiteren Sachbeschädigungen durch Sprayereien gekommen. Der Demonstrationszug sei nach aussen als geeinte Menge aufgetreten und von einer die Friedensordnung bedrohenden Grundhaltung getragen worden, bei der mit vereinten Kräften Sachbeschädigungen verübt worden seien. Die vermummten Sprayer seien von den übrigen Kundgebungsteilnehmern wiederholt im Umzug versteckt worden, um sie so einer Kontrolle der Polizei zu entziehen. A. habe eine aktive Rolle gespielt und während des Umzugs Flugblätter verteilt.
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Die Staatsanwaltschaft erklärte A. des Landfriedensbruchs schuldig und belegte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 30.-. A. erhob Einsprache gegen den Strafbefehl. Die Staatsanwaltschaft hielt daran fest und überwies die Akten dem erstinstanzlichen Gericht.
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B. Das Regionalgericht Bern-Mittelland sprach A. am 3. September 2018 des Landfriedensbruchs schuldig. Von einer Bestrafung nahm es in Anwendung von Art. 52 StGB Umgang.
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Auf Berufung von A. hin bestätigte das Obergericht des Kantons Bern am 10. April 2019 das regionalgerichtliche Urteil.
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D. Das Obergericht und die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern verzichten auf Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: |
Als schwere Straftaten im Sinne des Gesetzes fallen vorab Verbrechen in Betracht (BGE 146 I 11 E. 4.2; BGE 137 I 218 E. 2.3.5.2; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 13 zu Art. 141 StPO).
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Je schwerer die zu beurteilende Straftat ist, umso eher überwiegt das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung das private Interesse der beschuldigten Person an der Unverwertbarkeit des fraglichen Beweises (BGE 131 I 272 E. 4.1.2 S. 279; BGE 130 I 126 E. 3.2; je mit Hinweisen).
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1.3.2 Das Erstellen von Aufnahmen im öffentlichen Raum, auf denen Personen erkennbar sind, stellt ein Bearbeiten von Personendaten im Sinne von Art. 3 lit. a und lit. e des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG; SR 235.1) dar (vgl. BGE 138 II 346 E. 6.5). Gemäss Art. 4 Abs. 2 DSG hat ihre Bearbeitung nach Treu und Glauben zu erfolgen und muss verhältnismässig sein. Art. 4 Abs. 4 DSG bestimmt, dass die Beschaffung von Personendaten und insbesondere der Zweck ihrer Bearbeitung für die betroffene Person erkennbar sein muss. Die Missachtung dieses Grundsatzes stellt eine Persönlichkeitsverletzung dar (Art. 12 Abs. 2 lit. a DSG).
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Eine Persönlichkeitsverletzung im Sinne von Art. 12 DSG ist laut Art. 13 Abs. 1 DSG widerrechtlich, wenn kein Rechtfertigungsgrund - namentlich ein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse - vorliegt. Bei der Frage, ob ein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 13 Abs. 1 DSG vorliegt, ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Datenbearbeiters und denjenigen der verletzten Person vorzunehmen. Bei der Frage der strafprozessualen Verwertbarkeit eines Beweismittels sind hingegen der Strafanspruch des Staates und der Anspruch der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren in erster Linie entscheidend; die Interessen des privaten Datenbearbeiters treten dabei zurück (BGE 146 IV 226 E. 3 mit Hinweisen).
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Erwägung 1.4 |
1.4.2 Der Gesetzgeber verzichtete darauf, schwere Straftaten im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO zu definieren. Das Bundesgericht klärte bisher nicht abschliessend, was generell unter diesem Begriff zu verstehen ist (vgl. Urteil 6B_287/2016 vom 13. Februar 2017 E. 2.4.4). Auch in der Lehre finden sich keine Vorschläge für eine Definition und die Ansichten gehen auseinander. Einige Autoren nehmen an, dass ausschliesslich mit Freiheitsstrafe bedrohte Tatbestände schwere Straftaten seien (WOLFGANG WOHLERS in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 21a zu Art. 141 StPO; SABINE GLESS, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 72 zu Art. 141 StPO; LEU/STÜCKELBERGER, forum poenale 2020 S. 138). Demnach kämen Vergehen von vornherein nicht in Betracht und lediglich Verbrechen, die nicht zusätzlich mit Geldstrafe bedroht werden, stellten schwere Straftaten dar. Auch die Ansicht, es kämen nur Extremfälle oder Straftaten mit hoher Mindeststrafe in Betracht, wird vertreten (vgl. MARK PIETH, Schweizerisches Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2016, S. 195), womit ein ungeklärter Begriff indessen bloss mit ebensolchen ersetzt würde. Laut anderen Lehrmeinungen seien schwere Straftaten sodann einzig solche, die in gewissen Deliktskatalogen der Strafprozessordnung genannt werden (MOREILLON/PAREIN-REYMOND, a.a.O., N. 13 zu Art. 141 CPP; DONATSCH/CAVEGN, Ausgewählte Fragen zum Beweisrecht nach der Schweizerischen Strafprozessordnung, ZStrR 126/2008 S. 166).
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Ein auf der abstrakten Höchststrafe basierender Ansatz überzeugt insbesondere deshalb nicht, weil der Gesetzgeber in Art. 141 Abs. 2 StPO explizit den Begriff schwere Straftaten (infractions graves, gravi reati) und nicht wie in zahlreichen weiteren Bestimmungen der Strafprozessordnung die in Art. 10 StGB anhand der angedrohten Höchststrafe bestimmten Begriffe Verbrechen oder Vergehen (crimes et délits, crimini e delitti) verwendet. Auch einen Deliktskatalog sieht er in Art. 141 StPO im Gegensatz etwa zu Art. 168 Abs. 4 lit. a StPO, Art. 172 Abs. 2 lit. b StPO, Art. 269 Abs. 2 StPO oder Art. 286 Abs. 2 StPO gerade nicht vor.
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Überzeugender ist die Lehrmeinung, wonach nicht generell gewisse Tatbestände und deren abstrakte Strafandrohungen, sondern die gesamten Umstände des konkreten Falls zu berücksichtigen sind (vgl. JÉRĂ”ME BÉNÉDICT, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, Jeanneret/Kuhn/Perrier Depeursinge [Hrsg.], 2. Aufl. 2019, N. 25 zu Art. 141 CPP). Zwar kann ein Abstellen auf abstrakt angedrohte Strafen oder abschliessende Deliktskataloge die Prüfung der Verwertbarkeit von Beweismitteln erleichtern. Eine solche vom Gesetzgeber wie dargelegt nicht beabsichtigte und starre Entscheidfindung würde jedoch überdies dazu führen, dass im Einzelfall leichte Verbrechen anders behandelt würden als schwerwiegende Vergehen, obwohl die konkrete Strafe für Letztere um ein Vielfaches höher ausfallen kann. Dies stünde im Widerspruch mit dem vom Gesetzgeber gewollten Grundsatz der Individualisierung und dem weiten Ermessensspielraum des Sachgerichts bei der Strafzumessung (vgl. BGE 141 IV 61 E. 6.3.2 S. 69; BGE 135 IV 191 E. 3.1), anlässlich welcher die Schwere der Tat zu bewerten ist. Das Sachgericht muss den konkreten Umständen Rechnung tragen können. Entscheidend ist deshalb nicht das abstrakt angedrohte Strafmass, sondern die Schwere der konkreten Tat. Dabei kann auf Kriterien wie das geschützte Rechtsgut, das Ausmass dessen Gefährdung resp. Verletzung, die Vorgehensweise und kriminelle Energie des Täters oder das Tatmotiv abgestellt werden (vgl. BGE 142 IV 289 E. 2.3; BGE 141 IV 459 E. 4.1 S. 462; je mit Hinweisen).
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1.4.4 Weiter ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz für die Bewertung der Schwere der Tat die Umstände der Demonstration als solche und nicht bloss das isolierte Verhalten des Beschwerdeführers resp. dessen blosse Teilnahme und individuellen Tatbeitrag am Landfriedensbruch als massgebend erachtet. Denn den Tatbestand von Art. 260 StGB erfüllt auch derjenige, welcher an der Zusammenrottung lediglich teilnimmt, ohne selbst Gewalttätigkeiten zu begehen und für die Erfüllung dieser objektiven Strafbarkeitsbedingung reicht es aus, dass ein einzelner Teilnehmer solche Handlungen verübt, sofern sie als von der die öffentliche Ordnung bedrohenden Grundstimmung der Zusammenrottung getragen wird (vgl. BGE 124 IV 269 E. 2b S. 271 mit Hinweisen). Der Umstand, dass dem Beschwerdeführer kein aktiver Beitrag an Gewalttätigkeiten vorgeworfen wird und die Vorinstanzen in Anwendung von Art. 52 StGB von einer Bestrafung Umgang nahmen, ist bei der Beurteilung seines Verschuldens im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen. Für die Frage, ob mit dem Landfriedensbruch eine schwere Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO vorliegt und für die Interessenabwägung ist das Ausmass seines individuellen Tatbeitrags hingegen nicht entscheidend. Die konkrete Beteiligung des Beschwerdeführers lässt sich denn auch erst abschliessend beurteilen, nachdem über die Verwertbarkeit der Videoaufnahmen entschieden wurde.
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Im Ergebnis verletzt die Vorinstanz kein Bundesrecht, indem sie den vorliegenden Landfriedensbruch als schwere Straftat qualifiziert und das öffentliche Interesse an der Aufklärung dieser Tat höher als dasjenige des Beschwerdeführers an der rechtskonformen Erhebung resp. Unverwertbarkeit der privaten Videoaufnahmen gewichtet. Über die vorinstanzlichen Erwägungen hinaus (vgl. nicht publ. E. 1.2) ist darauf hinzuweisen, dass nicht etwa der Geheim- oder Privatbereich des Beschwerdeführers, sondern lediglich seine - laut vorinstanzlicher Feststellung bewusste - Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration auf öffentlichem Grund gefilmt wurde. Die Vorinstanz durfte deshalb die aus den Videoaufnahmen der Hotel E. AG gewonnenen Erkenntnisse auch zu Lasten des Beschwerdeführers verwenden und dessen Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen.
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