35. Urteil vom 30. Juni 1972 i.S. Sch. gegen Schweizerische Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
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Regeste
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Art. 5 Abs. 3 KUVG und Art. 2 Vo III.
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Art. 104 und 132 OG.
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Über die Begriffe: Versicherungsleistung, Überschreitung und Missbrauch des Ermessens sowie Unangemessenheit.
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Sachverhalt
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A.- Hans Sch. ist bei der Schweizerischen Krankenkasse Helvetia seit dem 23. Februar 1965 u.a. für ein tägliches Spitalgeld von Fr. 30.- und für Spitalbehandlungskosten bis zu Fr. 1200.-- versichert. Im Dezember 1970 verlangte er die Erhöhung der Spitalgeldversicherung auf Fr. 48.- und der Spitalbehandlungskostenversicherung auf Fr. 5000.-- mit Wirkung ab 1. Januar 1971. Die Kasse entsprach diesem Begehren mit Verfügung vom 29. März 1971, doch brachte sie im Ausmass der Höherversicherung (Spitalgeld Fr. 18.-, Spitalbehandlung Fr. 3800.--) einen Vorbehalt für Osteochondrose der Wirbelsäule, Spondylose, Skoliose und Diabetes an.
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B.- Beschwerdeweise stellte Hans Sch. den Antrag, der Vorbehalt sei im vollen Umfang aufzuheben, da er sich gesund fühle und in keiner ärztlichen Behandlung stehe. Zudem sei es ungerecht, wenn die Kasse die Folgen der Teuerung in Form von Vorbehalten auf ihre Mitglieder abwälze.
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Im Lauf des Beschwerdeverfahrens erklärte sich die Kasse bereit, den Vorbehalt auf Osteochondrose, Spondylose sowie Skoliose und überdies auf nur einen Teil der verlangten Erhöhung, nämlich auf Fr. 12.- Spitalgeld und auf Fr. 2500.-- Spitalbehandlungskosten zu beschränken. In diesem Sinn stellte die Kasse dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Antrag.
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Die Vorinstanz hob den Vorbehalt teilweise auf, indem sie ihn auf Osteochondrose der Lendenwirbelsäule L3/5 sowie auf Spondylosis deformans lumbalis und in masslicher Hinsicht auf Fr. 12.- Spitalgeld und Fr. 2500.-- Spitalbehandlungskosten reduzierte (Entscheid vom 25. August 1971).
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C.- In seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde hält Hans Sch. am ursprünglichen Antrag fest, dass jeglicher Vorbehalt aufgehoben werden müsse. Es sei zu unterscheiden zwischen Höherversicherungsbegehren infolge Teuerung und solchen aus andern Gründen. Im vorliegenden Fall werde die Höherversicherung wegen der Teuerung verlangt. Ohne die massive Erhöhung der Spitalkosten hätte der Beschwerdeführer keine Veranlassung gehabt, sich höher versichern zu lassen. Er wäre alsdann mit demselben Gesundheitszustand, in welchem er sich heute befinde, ohne jeden Vorbehalt versichert. Die Vorbehalte seien lediglich wegen der Folgen der Teuerung angebracht worden. Im übrigen fühle er sich völlig gesund; auch stehe er nicht in ärztlicher Behandlung.
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Die Kasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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Nach Art. 104 lit. a OG kann der Beschwerdeführer nur die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens rügen. Gemäss Art. 104 lit. b in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 OG kann er auch geltend machen, das vorinstanzliche kantonale Gericht habe den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt.
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Insoweit es sich bei der angefochtenen Verfügung um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, kann nach Art. 132 OG ausserdem die Unangemessenheit der Verfügung gerügt werden und ist das Eidg. Versicherungsgericht an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhaltes nicht gebunden.
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Unter Versicherungsleistungen im Sinn des Art. 132 OG sind Leistungen zu verstehen, über deren Rechtmässigkeit bei Eintritt des Versicherungsfalles befunden wird. Das Begehren um Höherversicherung betrifft lediglich künftige, potentielle Versicherungsleistungen, weil der Versicherungsfall noch gar nicht eingetreten ist. Die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat somit keine Versicherungsleistungen im Sinne von Art. 132 OG zum Gegenstand.
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Nach der Argumentation des Bundesamtes wäre die Verwaltungsgerichtsbeschwerde deshalb abzuweisen, weil der kantonale Entscheid nicht unangemessen sei. Dem kann nicht beigepflichtet werden. Bei der Unangemessenheit (Art. 132 lit. a OG) geht es um die Frage, ob der zu überprüfende Entscheid, den die Behörde nach dem ihr zustehenden Ermessen im Einklang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien in einem konkreten Fall getroffen hat, nicht zweckmässigerweise anders hätte ausfallen sollen. Ermessensmissbrauch (Art. 104 lit. a OG) ist gegeben, wenn die Behörde im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens bleibt, sich aber von unsachlichen, dem Zweck der massgebenden Vorschriften fremden Erwägungen leiten lässt oder allgemeine Rechtsprinzipien, wie das Verbot von Willkür und von rechtsungleicher Behandlung, das Gebot von Treu und Glauben sowie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt (BGE 97 I 583). Dagegen liegt Ermessensüberschreitung (Art. 104 lit. a OG) vor, wenn die Behörde Ermessen walten lässt, wo ihr das Gesetz keines einräumt, oder wo sie statt zweier zulässiger Lösungen eine dritte wählt (GRISEL, Droit administratif suisse, S. 171). In diesem Zusammenhang ist auch die Ermessensunterschreitung bedeutsam, die darin besteht, dass die entscheidende Behörde sich als gebunden betrachtet, obschon sie nach Gesetz berechtigt wäre, nach Ermessen zu handeln, oder dass sie auf die Ermessensausübung ganz oder teilweise zum vornherein verzichtet (vgl. IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung I, 1971, Nr. 221 X a und b; GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, S. 145 und 147 f.). Mit "Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens" im Sinn des Art. 104 lit. a OG wird die der Bundesrechtsverletzung gleichgestellte "rechtsfehlerhafte Ermessensausübung" bezeichnet (GYGI S. 138).
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Die zur Beurteilung stehende Frage ist keine solche des Ermessens oder der Angemessenheit, sondern eine Rechtsfrage danach, ob die Krankenkasse von Bundesrechts wegen verpflichtet ist, ein Mitglied im Ausmass der eingetretenen Teuerung vorbehaltlos höher zu versichern.
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Der Beschwerdeführer verlangt bessere Versicherungsdeckung, um die Versicherungsleistungen der Teuerung anzupassen, und er meint, dass im Rahmen der die bisherigen Leistungen übersteigenden Deckung keine neuen Versicherungsvorbehalte angebracht werden dürften, weil es im Grunde genommen ja gar nicht um eine reale Höherversicherung gehe. Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden, wie noch darzutun sein wird.
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b) Art. 2 Abs. 2 Vo III über die Krankenversicherung bestimmt, dass bei Höherversicherung während der Dauer der Mitgliedschaft für die den bisherigen Leistungsumfang übersteigenden Leistungen spätestens nach fünf Jahren dahinfallende Vorbehalte angebracht werden dürfen, sofern diese gemäss Art. 5 Abs. 3 KUVG auch bei der Aufnahme in die Kasse zulässig wären (RSKV 1971Nr. 87).
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Dem Beschwerdeführer ist zuzugeben, dass die Teuerung eine sukzessive Höherversicherung erfordert, wenn der Versicherte sich gegen ein bestimmtes Risiko dauernd in verhältnismässig gleichem Umfang, d.h. ohne teuerungsbedingte reale Abnahme der Kassenleistungen versichern will. Eine derartige Höherversicherung bietet so lange keine Schwierigkeiten, als es darum geht, die Teuerung dadurch auszugleichen, dass die Versicherungsleistungen und - in entsprechender Korrelation - die Versicherungsprämien generell der Teuerung angepasst werden, was in der Krankenversicherung von Bundesrechts wegen grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Werden jedoch bei einer - vom Mitglied verlangten - individuellen Höherversicherung im Umfang derselben neue Vorbehalte angebracht, so ist es insoweit dem Versicherten tatsächlich verwehrt, die Versicherungsdeckung real der Kostensteigerung anzupassen. Wenn der Beschwerdeführer geltend macht, dass in einem solchen Fall gar keine eigentliche, einen Vorbehalt rechtfertigende Höherversicherung vorliege, so übersieht er, dass die in Frage stehenden Krankenkassenleistungen keine Sachleistungen sind. Handelte es sich um Sachleistungen, so müssten sie von den Kassen ungeachtet der teuerungsbedingten Mehrkosten erbracht werden. Im vorliegenden Fall geht es jedoch um reine Geldleistungen (Spitaltaggeld und Spitalkosten). Dem Wesen solcher Geldleistungen entsprechend ist es nach geltendem Recht im Hinblick auf die Möglichkeit, einen Vorbehalt anzubringen, prinzipiell unerheblich, ob die Höherversicherung lediglich wegen der eingetretenen Teuerung verlangt wird oder um das befürchtete Ereignis real höher zu versichern. Für beide Fälle gilt der Grundsatz, dass ein bereits eingetretenes bzw. unmittelbar drohendes Risiko nicht bzw. nicht höher als bis anhin versichert werden kann.
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Damit soll nicht gesagt sein, dass das Anliegen des Beschwerdeführers angesichts der zunehmenden Kostensteigerung im Krankenwesen keine Beachtung verdiene. Dabei handelt es sich aber um ein sozialpolitisches Postulat, das sich nur an den Gesetzgeber richten kann. Weder das KUVG noch die Statuten der Beschwerdegegnerin enthalten eine ausdrückliche Norm, die eine Beschränkung der Vorbehalte im Rahmen der Teuerung vorschreiben würde. Ebensowenig kann auf dem Wege der Auslegung des KUVG und der Statuten eine solche Norm gefunden werden. Es kann auch keine echte, vom Richter auszufüllende Gesetzeslücke im KUVG angenommen werden.
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Ein bundesrechtlicher Anspruch auf vorbehaltlose Höherversicherung im Rahmen der bisherigen Versicherung und der Teuerung besteht somit zur Zeit nicht.
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Das kantonale Versicherungsgericht hat mit einleuchtender Begründung, auf die verwiesen sei, dargelegt, dass der Beschwerdeführer an Osteochondrose der Lendenwirbelsäule (L3/5) und an Spondylosis deformans lumbalis leidet. Dies wird im Grunde genommen vom Versicherten auch gar nicht bestritten, macht er doch nur geltend - was bei solchen Gesundheitsschäden immer wieder vorkommt -, er fühle sich völlig gesund, sei militärdienstpflichtig und stehe nicht in ärztlicher Behandlung. Jedenfalls hat der kantonale Richter den Sachverhalt nicht offensichtlich mangelhaft ermittelt, weshalb seine Sachverhaltsfeststellung das Eidg. Versicherungsgericht bindet (Art. 105 Abs. 2 OG).
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Da das Bundesrecht den Krankenkassen erlaubt, auch bei der Höherversicherung für die Dauer von fünf Jahren Vorbehalte anzubringen und die Statuten der Beschwerdegegnerin die Höherversicherung mit fünf Jahre dauernden Vorbehalten zulassen, dürfen die oben erwähnte Osteochondrose und die Spondylose für die umschriebene Zeitspanne bei der Höherversicherung vorbehalten werden.
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Entgegenkommenderweise hat die Kasse die Vorbehalte nur auf einen Teil der Erhöhung des Spitalgeldes und der Spitalbehandlungskosten beschränkt. Mit zutreffender Begründung... hat das kantonale Versicherungsgericht dieses Vorgehen geschützt.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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