67. Urteil vom 15. Dezember 1972 i.S. Maurer gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern
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Regeste
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Invaliditätsschätzung bei einer Frau, die bis zur Heirat trotz Gesundheitsschädigung voll erwerbsfähig war, seither aber wegen des (unveränderten) Gesundheitsschadens nur noch den ehelichen Haushalt zu besorgen vermag (Art. 5 Abs. 1 und 28 IVG).
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Sachverhalt
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A.- Hildegard Maurer leidet im wesentlichen an den Folgen einer im Kindesalter durchgemachten Poliomyelitis. Sie war von 1964-1969 in vollem Umfang als Büroangestellte tätig. Ende August 1969 verehelichte sie sich und seit dem 3. Februar 1970 ist sie Mutter eines Knaben. Im Juni 1970 ersuchte die Versicherte um eine Invalidenrente. Den Haushalt und ihr Kind könne sie nur mit der Hilfe ihres Ehemannes besorgen und den Beruf einer Büroangestellten nicht mehr ausüben.
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Pro Infirmis stellte fest, dass Hildegard Maurer, die mit ihrer Familie eine Vierzimmerwohnung bewohnt, weder schwere Reinigungsarbeiten verrichten noch schwere Lasten tragen könne. Bei verschiedenen Tätigkeiten müsse darum der Ehemann ihr behilflich sein. Sie habe Mühe beim Treppensteigen und vermöge im Freien höchstens eine halbe Stunde zu gehen. Während des Winters würden fast alle Einkäufe vom Ehemann besorgt. Ärztlicherseits wurde festgestellt, dass noch vermehrte Schwäche im rechten Unterschenkel und Fuss bestehe; im übrigen sei der Vorzustand wieder hergestellt. Die Beantwortung der von der Invalidenversicherungs-Kommission gestellten Frage, ob die Versicherte wegen der Beinschwäche mindestens zur Hälfte bei der Besorgung des Haushalts eingeschränkt sei, bezeichnete der Orthopäde als äusserst schwierig. Das Ausmass der Behinderung bzw. der Zumutbarkeit lasse sich kaum vom Sprechzimmer aus beantworten, da es sich um einen Grenzfall handle, bei dem es auch auf die psychische Einstellung der Patientin ankomme. Die Gesamtinvalidität auf 75% zu veranschlagen, wie die Versicherte meine, gehe bestimmt zu weit, wenn auch die Umstellung von der Büroarbeit zur Haushalttätigkeit sicher Probleme verursache, welche durch die ihr von der Invalidenversicherung abgegebenen Hilfsmittel nicht vollständig kompensiert würden.
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Die Invalidenversicherungs-Kommission nahm an, dass Hildegard Maurer ohne Behinderung keiner ausserhäuslichen Tätigkeit nachgehen würde, da sie ein Kleinkind zu besorgen habe. In ihrem Tätigkeitsbereich als Hausfrau und Mutter sei sie aber nicht mindestens zur Hälfte behindert, weshalb ihr keine Rente zustehe. In diesem Sinn verfügte die Ausgleichskasse des Kantons Bern am 27. Juli 1971.
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B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat die Beschwerde der Versicherten mit Entscheid vom 24. November 1971 abgewiesen. Es behandelte Hildegard Maurer als Hausfrau, die in ihrem Tätigkeitsbereich nicht mindestens zur Hälfte gesundheitlich behindert sei. Ein Rentenanspruch bestehe demnach nicht.
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C.- Hildegard Maurer reicht Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein mit dem Begehren um Ausrichtung einer halben Invalidenrente. Im wesentlichen macht sie geltend, sie habe einmal versucht, mit Heimarbeit etwas zum Lohn ihres Mannes hinzuzuverdienen. Aber dann müsse wegen ihrer Gehbehinderung der Haushalt darunter leiden. Ihren Beruf habe sie aufgeben müssen, weil sie geheiratet habe, Mutter geworden sei und für den Haushalt mehr Zeit benötige als eine gesunde Frau. Schwerere Arbeiten müssten von ihrem Ehemann verrichtet werden, der auch einen Teil der Einkäufe besorge. Ihre Wohnung befinde sich 20 Minuten vom nächsten Geschäft und von der Busendstation entfernt.
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Die Ausgleichskasse verzichtet ausdrücklich auf eine Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Bundesamt für Sozialversicherung meint, Hildegard Maurer müsse als Hausfrau behandelt werden, da ihre Leistungsfähigkeit erst mit der Eheschliessung deutlich beeinträchtigt worden sei. Es sei aber nicht zum vornherein von der Hand zu weisen, dass sie ohne Invalidität noch einer bescheidenen Erwerbstätigkeit nachginge, die im Rahmen des Betätigungsvergleichs angemessen zu berücksichtigen wäre. Aber selbst dann würde kein Invaliditätsgrad von 50% erreicht, und ein möglicher Härtefall könne ausgeschlossen werden. Das Bundesamt beantragt deshalb die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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b) Eine Hausfrau ist als Erwerbstätige zu behandeln, wenn sie vor der Invalidierung neben der Besorgung ihres Haushaltes mindestens den überwiegenden Teil dessen erwarb, was sie bei ganztägiger Erwerbstätigkeit gleicher oder ähnlicher Art hätte verdienen können (EVGE 1964 S. 262 und ZAK 1969 S. 520). Nach der neuesten Rechtsprechung muss ferner die Erwerbstätigkeit, die eine hauptsächlich im eigenen Haushalt und mit der Kindererziehung beschäftigte Versicherte für Drittpersonen ausübt, bei der Invaliditätsschätzung nach der spezifischen Methode des Art. 27 IVV angemessen berücksichtigt werden, sofern die erwerbliche Betätigung zum Aufgabenbereich der betreffenden Hausfrau gehört. Dies trifft dann zu, wenn das Erwerbseinkommen, welches die Versicherte ohne Invalidität wahrscheinlich erzielen würde, einen wesentlichen Teil des gesamten Familieneinkommens bildet (BGE 98 V 259).
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c) Die soeben unter lit. b zitierte Praxis galt bisher indessen nicht für eine Versicherte, die als Ledige trotz ihres prekären Gesundheitszustandes in vollem Umfang erwerbsfähig war und daher keine Invalidenrente beanspruchen konnte, mit ihrer Verehelichung aber die Berufstätigkeit aufgeben muss, weil sie wegen ihrer (unveränderten) Gesundheitsschädigung ausserstande ist, neben der Besorgung des Haushalts auch noch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es lässt sich jedoch nicht rechtfertigen, eine solche Versicherte im Hinblick auf die Schätzung ihrer Invalidität zum vornherein als Nichterwerbstätige zu behandeln mit der Begründung, sie habe sich mit ihrer Verehelichung aus eigenem Willensentschluss in die Kategorie der Nichterwerbstätigen eingeordnet. Das Eidg. Versicherungsgericht hat denn auch im Falle einer Versicherten, die vor ihrer Verehelichung eine ganze Invalidenrente bezog, erkannt, dass das vor der Heirat angewandte Kriterium für die Bestimmung der Bemessungsmethode nicht mehr unbedingt auch für die Invaliditätsschätzung nach der Heirat entscheidend sei. Massgebend sei vielmehr jene Tätigkeit, welche die Versicherte seit der Verehelichung ausüben würde, wenn sie nicht invalid wäre. Ebenso müsse bei einer invaliden Ehefrau, die - unter Umständen gestützt auf ihren freien Willensentschluss - von ihrem Mann getrennt lebt, untersucht werden, ob sie, wäre sie gesund, angesichts ihrer konkreten persönlichen Verhältnisse wahrscheinlich einer Erwerbstätigkeit nachginge oder sich auf die Führung ihres Haushaltes beschränken würde (BGE 97 V 243, BGE 98 V 262).
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In analoger Weise ist bei einer trotz Gesundheitsschädigung bisher erwerbstätig gewesenen Versicherten, die heiratet und nunmehr bloss noch den Haushalt zu bewältigen oder nur in geringem Umfang eine Erwerbstätigkeit auszuüben vermag, zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmass sie angesichts ihrer persönlichen Verhältnisse einem Beruf nachginge, wenn sie gesund wäre. Vom Ergebnis dieser Prüfung hängt die Wahl der Bemessungsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG oder Art. 5 Abs. 1 IVG bzw. 27 IVV) ab. Wo die Methode des Betätigungsvergleichs zur Anwendung kommt, fragt sich - im Sinn des Urteils BGE 98 V 259 - weiter, ob die hauptsächlich im eigenen Haushalt beschäftigte Versicherte eine erwerbliche Nebenbeschäftigung ausüben würde, die bei der Invaliditätsschätzung angemessen berücksichtigt zu werden verdient.
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Die Verwaltung wird die erforderlichen Abklärungen noch vornehmen und alsdann über den Rentenanspruch neu verfügen.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 24. November 1971 sowie die Kassenverfügung vom 27. Juli 1971, diese soweit sie den Rentenanspruch zum Gegenstand hat, aufgehoben, und es wird die Sache an die Ausgleichskasse zurückgewiesen, damit diese nach Abklärung im Sinn der Erwägungen neu verfüge.
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