BGE 102 V 242
 
59. Auszug aus dem Urteil vom 26. November 1976 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Rüegg und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
 
Regeste
Art. 81 IVG, 96 AHVG und 24 VwVG schliessen die Anwendung einer kantonalen Regelung der Wiederherstellung einer Frist aus.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
Es ist zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht die versäumte Frist wiederhergestellt hat und auf die offensichtlich verspätete Beschwerde eingetreten ist. Dass das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Stellungnahme in formellrechtlicher Beziehung verzichtet, entbindet das Gericht nicht von dieser Prüfungspflicht (vgl. GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, 2. Aufl. 1974, S. 76, Ziff. 4).
Hingegen kann gemäss Art. 24 VwVG in Verbindung mit Art. 96 AHVG und Art. 81 IVG eine Frist wiederhergestellt werden, wenn der Gesuchsteller oder sein Vertreter unverschuldet abgehalten worden ist, innert der Frist zu handeln, und wenn er binnen 10 Tagen nach Wegfall des Hindernisses ein begründetes Begehren um Wiederherstellung einreicht und die versäumte Rechtshandlung nachholt.
Unzutreffend ist in diesem Zusammenhang die Auffassung der Vorinstanz, dass - wie Art. 85 Abs. 2 AHVG - auch diese Ordnung über die Wiederherstellung einer Frist, soweit sie das kantonale Rekursverfahren betrifft, "nur als Wegleitung an die Kantone im Sinne einer Minimalanforderung zu verstehen ist, die den Kantonen Raum für eine weitergehende Regelung zum Rechtsschutz des Bürgers in diesem Bereich offenlässt". Entgegen Art. 85 Abs. 2 AHVG, der lediglich die allgemeinen Anforderungen umschreibt, denen das grundsätzlich kantonale Beschwerdeverfahren zu genügen hat, erklärt Art. 96 AHVG die Art. 20-24 VwVG als direkt anwendbar. Damit werden die Berechnung, Einhaltung und Erstreckung der Fristen sowie die Säumnisfolgen und die Wiederherstellung einer Frist ausdrücklich durch Bundesrecht geregelt, welches auf diesen Gebieten eine Anwendung weitergehenden oder einschränkenden kantonalen Rechts ausschliesst.
b) Nach der Rechtsprechung hat derjenige, der sich während eines hängigen Verfahrens für längere Zeit von dem den Behörden bekanntgegebenen Adressort entfernt, ohne für die Nachsendung der an die bisherige Adresse gelangenden Korrespondenz zu sorgen und ohne der Behörde zu melden, wo er nunmehr zu erreichen ist, bzw. ohne einen Vertreter zu beauftragen, nötigenfalls während seiner Abwesenheit für ihn zu handeln, eine am bisherigen Ort versuchte Zustellung als erfolgt gelten zu lassen (BGE 97 III 10 und BGE 86 II 4; nicht veröffentlichte Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts i.S. Waeber vom 22. September 1976 und Egloff vom 3. April 1973).
3. Im vorliegenden Fall erklärte Karl Rüegg in der vorinstanzlichen Beschwerde u.a. folgendes: "Nach meinen Ferien finde ich unter meinen Postzustellungen Ihre Hiobsbotschaft." Daraus kann nicht ohne weiteres geschlossen werden, der Grund für die verspätet erhobene Beschwerde liege in der Ferienabwesenheit. Es ist durchaus möglich, dass Karl Rüegg noch vor Fristablauf aus den Ferien zurückgekehrt ist und das Rechtsmittel noch rechtzeitig hätte ergreifen können. Selbst wenn indessen zu seinen Gunsten angenommen wird, er habe infolge Abwesenheit vom Wohnort das Rechtsmittel nicht rechtzeitig erheben können, liegt darin kein Wiederherstellungsgrund. Karl Rüegg hatte weder der Ausgleichskasse mitgeteilt, wo ihm der Verwaltungsakt während seiner Ferienabwesenheit zugestellt werden könne, noch einen Vertreter beauftragt, nötigenfalls für ihn zu handeln. Aus dieser Versäumnis lassen sich nach dem in Erwägung 2b Gesagten keine Rechte zu seinen Gunsten ableiten. Wenn das kantonale Versicherungsgericht trotzdem die 30tägige Frist wiederherstellte, die Beschwerde als rechtzeitig eingereicht behandelte und auf sie eintrat, so verstiess es gegen Bundesrecht. Da das kantonale Gericht auf die Beschwerde nicht hätte eintreten dürfen, muss sein Entscheid aufgehoben werden.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 13. Mai 1976 aufgehoben.