2. Urteil vom 10. Februar 1977 i.S. Müller gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern
|
Regeste
|
Art. 12 Abs. 1 IVG.
|
Zusammenfassung der Rechtsprechung.
|
Sachverhalt
|
A.- Die im Jahre 1945 geborene Versicherte leidet seit ihrer Geburt bzw. seit ihrer frühen Kindheit unter verschiedenen Gebrechen, namentlich unter totaler Taubheit. Die Invalidenversicherung übernahm zu ihren Gunsten etliche Eingliederungsmassnahmen und gewährt ihr seit 1. Oktober 1965 eine halbe einfache Invalidenrente. Die Versicherte übt den Beruf einer Glätterin aus.
|
|
Von 1961 bis 1972 stand die Versicherte bei Prof. G., anschliessend bei der Augenärztin Dr. G.-F. in Behandlung wegen einer beidseitigen Retinitis pigmentosa. Nach einem Arztbericht des Prof. G. vom 10. Mai 1962 betrug die Sehschärfe gegen 0,5-0,6 und das Gesichtsfeld war erheblich eingeschränkt. Es bestand Nachtblindheit. Bei dieser Erkrankung sei - so wird im Bericht ausgeführt - mit einer allmählichen Verschlechterung bis zur praktischen Erblindung zu rechnen, die im allgemeinen etwa mit dem 50. Lebensjahr erreicht sei.
|
Die Retinitis scheint sich indessen bis heute nicht verschlimmert zu haben. Dagegen entwickelte sich eine beidseitige Katarakt (Cataracta complicata), welche die Sehkraft und die Arbeitsfähigkeit der Versicherten rasch erheblich sinken liess. Sie unterzog sich daher am 13. Mai 1975 einer Linsenextraktion am linken Auge. Nach der Operation wurde dieses Auge mit einer Kontaktlinse und mit einer Starbrille versorgt, so dass es im Mai 1976 wieder eine Sehschärfe von 0,5-0,6 erlangte. Eine analoge Operation am rechten Auge ist vorgesehen.
|
B.- Die Ausgleichskasse des Kantons Bern lehnte am 5. September 1975 die Übernahme der Operationskosten vom 13. Mai 1975 verfügungsweise ab, da es sich um einen Eingriff in ein gesamthaft gesehen labiles pathologisches Geschehen handle, der nicht unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet noch geeignet sei, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies eine Beschwerde gegen diese Verfügung mit Entscheid vom 9. Dezember 1975 ab.
|
C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der Vater der Versicherten, die Verfügung der Ausgleichskasse und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern seien aufzuheben und die Kosten der erfolgten sowie der vorgesehenen Operation seien der Invalidenversicherung zu überbinden. Die Voraussetzungen für den Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen im Sinne von Art. 12 IVG seien erfüllt; seine Tochter habe denn auch dank der Operation vom 13. Mai 1975 ihre Arbeit wieder aufnehmen können. Seine Ausführungen belegt er mit einem Zeugnis der Augenärztin Dr. G.-F. vom 7. Mai 1976.
|
Während die Ausgleichskasse auf eine Stellungnahme verzichtet, trägt das Bundesamt für Sozialversicherung auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.
|
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
|
|
|
|
a) Die operative Behandlung des grauen Stars ist nach ständiger Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts nicht auf die Heilung labilen pathologischen Geschehens gerichtet, sondern zielt darauf ab, das sonst sicher spontan zur Ruhe gelangende und alsdann stabile oder relativ stabile Leiden durch Entfernung der trüb und daher funktionsuntüchtig gewordenen Linse zu beseitigen (EVGE 1962 S. 208 Erw. 3; vgl. auch ZAK 1975 S. 157, 1971 S. 274 Erw. 1, 1970 S. 109 Erw. 3, 1966 S. 264 Erw. 3).
|
b) Bei den Katarakten, die durch eines oder mehrere Grundleiden verursacht wurden, welche als solche labilem pathologischem Geschehen angehören (Cataractae complicatae, vgl. AMSLER und Mitherausgeber, Lehrbuch der Augenheilkunde, 3. Aufl., S. 662 f.), hat sich die Rechtsprechung wie folgt entwickelt:
|
Im Urteil Sandmeier vom 1. Februar 1974 anerkannte das Eidg. Versicherungsgericht die Linsenextraktion als eine medizinische Eingliederungsmassnahme, da zwischen der Nierentransplantation und der Katarakt kein enger, ursächlicher Zusammenhang bestehe; der graue Star sei vielmehr indirekt als schädliche Nebenfolge der intensiven Cortisontherapie entstanden, mit der die Abstossung des Nierentransplantats zu verhindern getrachtet worden sei. Daraus ist zu schliessen, dass die Operation nicht zu Lasten der Invalidenversicherung gegangen wäre, wenn das Nierenleiden den grauen Star direkt verursacht hätte.
|
Im Urteil Zogg vom 29. November 1974 (ZAK 1975 S. 157 ff.) erklärte das Eidg. Versicherungsgericht, dass auch beim grauen Star innerhalb des spezifischen Anwendungsbereichs des Art. 12 IVG der Gesundheitsschaden als solcher und nicht dessen Ursache ausschlaggebend sei. Voraussehbare Auswirkungen einer Zuckerkrankheit könnten indessen im Einzelfall entscheidend sein bei der Beantwortung der Frage nach der Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des Eingliederungserfolges.
|
Bei Claudia Leuenberger, geboren 1967, welche u.a. an einem durch die Still-Chauffard'sche Krankheit verursachten grauen Star litt, bestätigte das Eidg. Versicherungsgericht seine im Urteil Zogg begründete Rechtsprechung, wonach die Ursache der Katarakt nicht erheblich ist für den Entscheid, ob die mit der Linsentrübung verbundenen Behandlungen Eingliederungsmassnahmen im Sinne von Art. 8 und 12 Abs. 1 IVG seien oder nicht. Daraus folge, dass die vom Bundesamt für Sozialversicherung in Rz. 1298 der IV-Mitteilungen Nr. 169 vom 10. September 1974 aufgestellten Weisungen bezüglich des sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs mit der Behandlung der Grundkrankheit - im gleichen Sinn: Rz. 42 des Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen - zur Beurteilung der Frage, ob die Invalidenversicherung eine Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme zu übernehmen habe, nicht anwendbar seien (nicht publiziertes Urteil Leuenberger vom 28. Juli 1975).
|
Die Urteile Zogg und Leuenberger drücken somit klar aus, dass die Staroperation eine Eingliederungsmassnahme sein kann, wobei die Ursache des Leidens keinen unmittelbaren Einfluss ausübt. Sie verdienen den Vorzug vor dem Urteil Sandmeier, das älter ist und dessen widersprechende Regel nur aus einem "e contrario"-Schluss abgeleitet werden kann.
|
c) Wie bereits in Erwägung 2 angeführt, wird die Retinitis pigmentosa, die eine bekannte Ursache des grauen Stars ist (siehe bei AMSLER und Mitherausgeber, a.a.O., S. 662 und 717/724), der Beschwerdeführerin mit aller Wahrscheinlichkeit ungefähr zwei Jahrzehnte Ruhe lassen, bis sie dadurch in ihrer Erwerbsfähigkeit behindert werden könnte. Die Linsenentfernung vereinigt somit im vorliegenden Fall alle entscheidenden Elemente einer medizinischen Eingliederungsmassnahme gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG. Obgleich sich dieselbe Frage sowohl bei der bereits ausgeführten Operation am linken Auge wie auch bei der noch folgenden am rechten Auge stellt, hat die Ausgleichskasse nur über den ersten Eingriff verfügt. Da die Beschwerdeführerin nach Massgabe der Erwägungen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung für die Starbehandlung hat, ist das Urteil der Vorinstanz vom 9. Dezember 1975 sowie die Kassenverfügung vom 5. September 1975 aufzuheben. Über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Leistungen der Invalidenversicherung für die Behandlung am rechten Auge hat die Ausgleichskasse noch zu verfügen.
|
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
|
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 9. Dezember 1975 und die angefochtene Kassenverfügung vom 5. September 1975 aufgehoben. Die Invalidenversicherung hat die zur Behandlung des grauen Stars am linken Auge der Beschwerdeführerin notwendigen medizinischen Massnahmen zu übernehmen. Die Sache wird an die Ausgleichskasse des Kantons Bern zurückgewiesen, damit diese über die Einzelheiten der Übernahme befinde und über die Leistungen der Invalidenversicherung für die Behandlung des grauen Stars am rechten Auge verfüge.
|