BGE 105 V 21
 
6. Auszug aus dem Urteil vom 2. Februar 1979 i.S. Krissler gegen Ausgleichskasse des Kantons Aargau und Obergericht des Kantons Aargau
 
Regeste
Anspruchsbegründende Geburtsgebrechen.
Ziff. 404 GgV ist gesetzeskonform.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
a) Nach Art. 13 Abs. 1 IVG haben minderjährige Versicherte Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen Massnahmen. Als Geburtsgebrechen gelten solche, die bei vollendeter Geburt bestehen und in der Liste gemäss Art. 2 GgV (Verordnung über die Geburtsgebrechen) enthalten sind oder gemäss Art. 3 Abs. 2 GgV vom Eidgenössischen Departement des Innern neu als solche bezeichnet werden (vgl. Art. 1 GgV). Laut Ziffer 404 GgV (in der Fassung gemäss Novelle vom 29. November 1976, in Kraft seit 1. Januar 1977) geben kongenitale Hirnstörungen einen Anspruch auf die zur Behandlung notwendigen medizinischen Massnahmen, sofern sie mit bereits gestellter Diagnose als solche vor Vollendung des neunten Altersjahrs behandelt worden sind. Demgegenüber musste nach der bis 31. Dezember 1976 gültigen Fassung von Ziffer 404 GgV dieses Gebrechen bis zum vollendeten 8. Lebensjahr manifest geworden sein.
b) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die Auffassung vertreten, die in Ziffer 404 GgV festgesetzte Altersgrenze widerspreche klarem Recht, da sie mit Art. 13 Abs. 1 IVG unvereinbar sei. Bei dieser Behauptung wird indes übersehen, dass in Art. 13 Abs. 2 Satz 1 IVG dem Bundesrat eine umfassende Kompetenz erteilt wurde, aus der Gesamtheit der Geburtsgebrechen im medizinischen Sinne jene Gebrechen auszuwählen, für welche die Massnahmen nach Art. 13 IVG zu gewähren sind (Geburtsgebrechen im Rechtssinne des IVG). Soweit die gesetzliche Delegationsnorm dem Bundesrat einen Spielraum des Ermessens lässt, hat sich der Richter, da er nicht sein Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrates treten lassen kann, auf die Prüfung zu beschränken, ob die Verordnungsvorschriften offensichtlich aus dem Rahmen der delegierten Kompetenz herausfallen (BGE 88 I 308, nicht veröffentlichtes Urteil i.S. Gelzer vom 4. August 1977). Der Bundesrat durfte daher sowohl die generelle Regel von Art. 1 GgV als auch die speziellen Voraussetzungen in einzelnen GgV-Ziffern aufstellen, wobei er auch Zwecke der Praktikabilität berücksichtigen konnte. Bei verschiedenen Geburtsgebrechen ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten bezüglich der Frage, ob diese Gebrechen bei vollendeter Geburt bestanden (Art. 1 GgV) oder erst später eingetreten sind. Aus Gründen der praktikabilität wurde in Ziffer 404 GgV die Abgrenzung in der medizinisch begründeten Annahme gefunden, dass das Gebrechen vor Vollendung des 9. Altersjahres diagnostiziert und behandelt worden wäre, wenn es angeboren gewesen wäre. Eine solche Abgrenzung ist durchaus berechtigt. Es kann keine Rede davon sein, dass die Umschreibung in Ziffer 404 GgV den Rahmen der delegierten Kompetenz offensichtlich sprenge.
c) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird sodann eingewendet, dass eine Diagnose nicht von den Eltern gesteuert werden könne. Wenn Eltern von den Ärzten abgewiesen würden, weil diese die kongenitale Hirnstörung nicht rechtzeitig erkannt hätten, dürfe daraus nicht eine rechtserhebliche Tatsache abgeleitet werden. Allenfalls sei eine Expertise anzuordnen zur Frage, ob die Hirnstörungen nicht schon vor der Vollendung des 9. Altersjahres hätten diagnostiziert werden können und demzufolge schon vor diesem Zeitpunkt vorhanden gewesen seien.
Da es nach Ziffer 404 GgV jedoch einzig darauf ankommt, ob die Diagnose vor Vollendung des 9. Altersjahres "bereits gestellt" war, ist die Frage, ob sie hätte gestellt werden können, irrelevant. Es bedarf daher auch keiner weiteren Abklärung mehr.