BGE 106 V 29 |
7. Urteil vom 28. Januar 1980 i.S. Züllig gegen Schweizerischen Verband für die erweiterte Krankenversicherung und Versicherungsgericht des Kantons Bern |
Regeste |
Art. 3 Abs. 5 und Art. 12 ff. KUVG. Begriff der Lähmung des Zentralnervensystems gemäss dem Reglement (über die Durchführung der Lähmungsversicherung) des Schweizerischen Verbandes für erweiterte Krankenversicherung. |
Sachverhalt |
A.- Der 1930 geborene und am 16. Oktober 1976 verstorbene Max Züllig war Mitglied der Krankenkasse Helvetia, die beim Schweizerischen Verband für die erweiterte Krankenversicherung (SVK) rückversichert ist. Er litt seit 1973 infolge eines Glioms in der Brücke des Hirnstammes an einer motorischen Lähmung beider Augen für die schläfengerichtete Bewegung des Augapfels und dazu an einer zuerst rechtsseitigen, später linksseitigen Gesichtslähmung. Ab Februar 1974 wurde eine zunehmende Gangunsicherheit beobachtet, die auf einer zentralnervösen Koordinationsstörung beruhte. Die Kraft der untern Extremitäten war aber nicht beeinträchtigt.
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Im November 1974 konnte Max Züllig - trotz noch erhaltener Kraft in den Beinen - ohne Hilfe kaum mehr gehen und ab Jahresbeginn 1975 war er Vollständig steh- und gehunfähig. Die Koordinationsstörungen griffen vom Februar 1975 an auch auf die oberen Extremitäten über. Eine leichte Kraftlosigkeit in den Extremitäten (rechtes Bein und rechter Arm) trat erstmals im Mai 1976 auf.
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Mit Verfügung vom 29. Dezember 1976 wies der SVK das Begehren um Ausrichtung von Entschädigungen wegen lähmungsbedingter Invalidität mit der Begründung ab, dass sich das Leiden wohl vom Dezember 1975 an verschlimmert und Max Züllig im Sommer 1976 eine lähmungsbedingte Vollständige Invalidität aufgewiesen habe, dass aber damit die reglementarische Wartefrist von einem Jahr vor dem Tod des Versicherten nicht erfüllt gewesen sei.
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B.- Die gegen diese Verfügung eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Bern am 6. Juni 1978 ab. Es stützte sich in der Begründung im wesentlichen auf den Bericht (vom 17. März 1978) des Prof. M. von der Neurologischen Klinik des Inselspitals Bern, wonach unter Lähmung die Funktionsunfähigkeit eines Gliedes wegen Kraftlosigkeit zu verstehen sei. Bei Max Züllig habe jedoch nicht dieser Tatbestand vorgelegen, sondern eine Koordinationsstörung.
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird beantragt, den Erben des Max Züllig die reglementarischen Invaliditätsleistungen des SVK zuzusprechen.
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Das Eidg. Versicherungsgericht beauftragte Prof. W., Chefarzt der Neurologisch-Neurochirurgischen Klinik des Kantonsspitals St. Gallen, zur Sache in medizinischer Hinsicht umfassend Stellung zu nehmen und insbesondere die Frage zu beantworten, inwiefern und seit wann die gesundheitliche Schädigung bzw. die Invalidität des Max Züllig auf organisch bedingte motorische Lähmungen des Zentralnervensystems (Art. 5 des Reglements über die Durchführung der Lähmungsversicherung) bzw. unmittelbar auf die Lähmung des Zentralnervensystems (Art. 22 Abs. 1 Reglement) zurückzuführen sei.
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In der Stellungnahme zum Gutachten von Prof. W. erneuert der SVK den bereits in der Vernehmlassung eingebrachten Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die hochgradige Gangunsicherheit des Max Züllig seit November 1974 Sei nicht durch eine Kraftlosigkeit der Beine infolge einer zentralnervösen Schädigung verursacht worden und könne deshalb nicht als organisch bedingte motorische Lähmung des Zentralnervensystems betrachtet werden. Erst im Mai 1976 habe Max Züllig über Schwäche in den Beinen geklagt.
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Das Bundesamt für Sozialversicherung gelangt gestützt auf seinen ärztlichen Dienst zur Auffassung, dass der Beginn der Lähmung im Sinne des SVK-Reglements auf Jahresbeginn 1975 festzusetzen sei.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: |
"Die Leistungen der Lähmungsversicherung werden für alle organisch bedingten motorischen Lähmungen des Zentralnervensystems ausgerichtet. Der Verwaltungsausschuss kann die Leistungen der Lähmungspflegeversicherung auch in schweren Fällen von peripheren Lähmungen, die während längerer Zeit einer kostspieligen Behandlung bedürfen, ausrichten."
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In Art. 22 Abs. 1 lautet die Umschreibung:
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"Eine versicherte Invalidität liegt vor bei einer dauernden Schädigung der körperlichen Integrität, die durch eine Lähmung des Zentralnervensystems hervorgerufen worden ist."
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Bei Teilinvalidität wird eine dem Grade der Invalidität entsprechend verminderte Entschädigung ausbezahlt, wobei eine Invalidität von weniger als einem Viertel keinen Anspruch auf Entschädigung begründet (Art. 21 Abs. 2 und 3). Der Anspruch auf die Ausrichtung einer Invaliditätsleistung beginnt mit dem Monat, in welchem seit Beginn der Lähmungen ein Jahr verflossen ist (Art. 27 Abs. 5).
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2. Zur Frage, ob und seit wann bei Max Züllig eine Invalidität begründende Lähmung gemäss den erwähnten Bestimmungen gegeben war, führt Prof. W. aus, dass die im Reglement verwendeten Begriffe "motorische Lähmungen des Zentralnervensystems "bzw." Lähmungen des Zentralnervensystems" nicht eindeutig bestimmbar seien und in einem engeren oder weiteren Sinne aufgefasst werden könnten. In der engeren Begriffsbestimmung sei darunter eine Lähmung infolge einer Schädigung der motorischen Zentren und/oder Bahnen des Zentralnervensystems zu verstehen wie etwa die motorisch spastischen Lähmungen (mit Kraftlosigkeit der Gliedmassen) als Folge einer zentralnervösen Erkrankung. In einem weiteren Sinne lasse sich der Begriff "Lähmungen des Zentralnervensystems" als Lähmung der Funktionsfähigkeit des Zentralnervensystems, also als generelle Funktionsunfähigkeit des Zentralnervensystems interpretieren. Damit würden auch die zentralnervösen Koordinationsstörungen erfasst. Letztere kennzeichnen sich dadurch, dass sie allein noch keine Kraftlosigkeit der betroffenen Glieder hervorrufen. Sie haben vielmehr eine Störung des Bewegungsablaufs zur Folge. Beim Gehen beispielsweise lassen sich die Füsse nicht mehr ganggerichtet und geradspurig aufsetzen, was einen unsicheren Gang bewirkt (Gangataxie).
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Entsprechend den beiden Interpretationsmöglichkeiten gibt der Gutachter auf die ihm gestellte Frage Alternativantworten. Wenn der Ausdruck "Lähmung des Zentralnervensystems" mit der Umschreibung "Funktionsuntüchtigkeit des Zentralnervensystems" gleichgesetzt werde, so sei der Invalidität begründende Lähmungstatbestand - wenn man von der beidseitigen Augenmuskellähmung und der rechtsseitigen Gesichtslähmung im Juni/Juli 1973, die keine nennenswerte Erwerbsbeeinträchtigung verursacht haben, absieht - mit dem Auftreten der hochgradigen Gangunsicherheit im November 1974 als erfüllt zu betrachten. Wenn man dagegen den Begriff "Lähmung des Zentralnervensystems" als "motorische Lähmung infolge einer Schädigung der motorischen Zentren und/oder Bahnen des Zentralnervensystems" auffasse, so habe eine dauernde Schädigung der körperlichen Integrität wegen motorischer Lähmung - abgesehen von der erwähnten Augenmuskel- und Gesichtslähmung - erst im Mai 1976 im Bereiche der Extremitäten beobachtet werden können. Es sei Sache des Gerichts, zu entscheiden, welche der beiden Interpretationen auf den umstrittenen Begriff des Reglements anwendbar sein soll.
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3. Aus dem Gesagten ist zu schliessen, dass die den Begriffen "motorische Lähmungen des Zentralnervensystems" bzw. "Lähmungen des Zentralnervensystems" zugrundeliegenden medizinischen Sachverhalte nicht klar abgrenzbar sind und aus der Sicht des Mediziners eine Auslegung sowohl im engeren wie im weiteren Sinne vertretbar erscheint.
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In den bei den Akten liegenden ärztlichen Berichten werden denn auch - entsprechend den beiden Interpretationsmöglichkeiten - unterschiedliche Auffassungen geäussert. So sprechen sich Prof. M. und Dr. L., Vertrauensarzt des SVK, für den enger gefassten Begriff aus, während Dr. R., Oberarzt an der Neurologisch-Neurochirurgischen Poliklinik des Inselspitals Bern, und offenbar auch der Hausarzt des Versicherten sowie der ärztliche Dienst des Bundesamtes für Sozialversicherung den umstrittenen Begriff in dem vom Gutachter dargelegten weiteren Sinn auslegen.
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Es mag zutreffen, dass der SVK mit einer Delegation der Schweizerischen Gesellschaft für Neurologie den Gegenstand der Lähmungsversicherung in dem Sinne festgelegt hat, dass nur Paresen (Kraftverlust) versichert sein sollen, nicht aber alle andern neurologischen Störungen, insbesondere nicht die sogenannten extrapyramidalen Veränderungen. Indes kommt dieser Sachverhalt im Reglement des SVK nicht mit hinreichender Bestimmtheit zum Ausdruck.
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Nach dieser Überlegung muss die für die Leistungen der Versicherung ausschlaggebende Voraussetzung der organisch bedingten motorischen Lähmung des Zentralnervensystems so ausgelegt werden, wie sie ein Versicherter in guten Treuen verstehen durfte. Wohl müsste ein Versicherter, der über keine besondern medizinischen Kenntnisse Verfügt, vorliegend eine eindeutige Begriffsbestimmung durch den medizinischen Fachmann nach Treu und Glauben gegen sich gelten lassen. Er könnte sich nicht auf seine Auffassung als Nichtmediziner berufen. Da sich aber der umstrittene Begriff als nicht klar definierbar erwiesen hat und vertretbarerweise auch zugunsten des Patienten ausgelegt werden kann, rechtfertigt es sich, der für ihn günstigeren Lösung den Vorrang einzuräumen. Ein Patient empfindet und beschreibt die vollständige Bewegungsunfähigkeit eines Gliedes denn auch als Lähmung, ob sie nun auf Kraftlosigkeit oder auf schwerer Koordinationsstörung beruht. Es wäre für einen Versicherten, der von einer Störung des Zentralnervensystems befallen wird, mangels einer genaueren Umschreibung nicht begreiflich, dass die Versicherung je nach dem Umstand nicht haftet, ob er beispielsweise seine Extremitäten deshalb nicht gebrauchen kann, weil es ihm an der Kraft gebricht, oder aber weil er sie nicht mehr zu koordinieren vermag. Es liesse sich daher mit dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht Vereinbaren, die aus einer zentralnervösen Schädigung der motorischen Koordination resultierenden Bewegungsstörungen nicht auch am Versicherungsschutz teilhaben zu lassen. Der Begriff der "organisch bedingten motorischen Lähmungen" ist somit in dem vom Gutachter umschriebenen weiteren Sinne zu verstehen.
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Die Höhe der Entschädigung richtet sich unter anderm nach dem Invaliditätsgrad (Art. 18, 21 Abs. 2 und 24 des Reglements). Aus dem Gutachten von Prof. W. ergibt sich, dass sich der Versicherte seit dem November 1974 nur noch fortbewegen konnte, wenn er gestützt wurde; dabei griff die Koordinationsstörung vom Februar 1975 an auch auf die oberen Extremitäten über. Nach Art. 23 des Reglements gilt Ganzinvalidität als festgestellt "bei gänzlicher Gebrauchsunfähigkeit beider Arme oder Hände, beider Beine, eines Armes oder einer Hand und zugleich eines Beines oder wenn künftig jede Erwerbstätigkeit ausgeschlossen ist". Da der Versicherte seit dem November 1974 praktisch nur noch mit Hilfe Dritter gehen konnte - ab Februar 1975 kamen erschwerend die Koordinationsstörungen hinsichtlich der oberen Extremitäten hinzu -, muss angenommen werden, dass er bei Beginn des Leistungsanspruchs als ganz invalid angesehen werden muss. Es stand ihm deshalb von diesem Zeitpunkt an ein Anspruch auf eine volle Invaliditätsleistung zu.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 6. Juni 1978 und die Verfügung des Schweizerischen Verbandes für die erweiterte Krankenversicherung vom 29. Dezember 1976 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Schweizerische Verband für die erweiterte Krankenversicherung den Erben des Max Züllig die auf den Zeitraum vom November 1975 bis zu dessen Tod entfallenden reglementarischen Entschädigungen für Ganzinvalidität auszurichten hat.
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