BGE 106 V 101
 
24. Urteil vom 10. Juli 1980 i.S. Mittnacht gegen Bundesamt für Sozialversicherung und Eidgenössisches Departement des Innern
 
Regeste
Art. 2 Abs. 1 Vo VI.
 
Sachverhalt
A.- Die deutsche Staatsangehörige Ingrid Mittnacht bestand nach zweijähriger Ausbildung an der Lehranstalt für Krankengymnastik "Rudolf-Klapp-Schule" an der Philipps-Universität in Marburg an der Lahn am 24./25. September 1964 mit Erfolg die Prüfung als Krankengymnastin. Anschliessend absolvierte sie ein einjähriges Praktikum an der orthopädischen und chirurgischen sowie medizinischen Abteilung der Universitätsklinik der Philipps-Universität. Nach Abschluss des Praktikums erhielt sie am 31. Oktober 1965 die Urkunde über die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Krankengymnastin. Vom 15. November 1965 bis 30. April 1978 arbeitete Ingrid Mittnacht als Physiotherapeutin an der Frauenklinik des Kantonsspitals Basel und am 16. Februar 1978 erteilte ihr das Sanitätsdepartement Basel-Stadt die Bewilligung zur beruflich selbständigen Ausübung der Physiotherapie im Kanton Basel-Stadt.
Mit Verfügung vom 26. April 1979 wies das Bundesamt für Sozialversicherung ihr Gesuch um Zulassung zur selbständigen Berufsausübung für die Krankenkassen ab. Das Amt begründete seinen Entscheid damit, dass Ingrid Mittnacht infolge der im Vergleich zu schweizerischen Lehrgängen anders gearteten Ausbildungskonzeption und der abweichenden Prüfungsvoraussetzungen den Anforderungen des Art. 2 Abs. 1 Vo VI nicht genüge.
B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Eidgenössische Departement des Innern am 13. September 1979 mit gleichlautender Begründung ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Ingrid Mittnacht, es sei ihrem Zulassungsgesuch zu entsprechen. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst unter Hinweis auf den Antrag des Eidgenössischen Departements des Innern auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
- allgemeine Anatomie und Physiologie, mit besonderer Berücksichtigung des Bewegungsapparates;
- allgemeine Krankheitslehre, angepasst der Physiotherapeutentätigkeit;
- physikalische Therapie in Theorie und Praxis: Massage, Heilgymnastik und Elektrotherapie.
Art. 2 Abs. 2 Vo VI schreibt überdies eine mindestens zweijährige praktische Tätigkeit bei einem gemäss dieser Verordnung zugelassenen Physiotherapeuten oder in einer physikalisch-therapeutischen Spezialabteilung einer Heilanstalt vor.
2. Streitig ist im vorliegenden Fall einzig, ob die Beschwerdeführerin über die geforderte dreijährige Fachausbildung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Vo VI verfügt. Die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherung haben dies mit der Begründung verneint, die Ausbildung der Beschwerdeführerin zur Krankengymnastin in der Bundesrepublik Deutschland entspreche nicht vollumfänglich derjenigen in der Schweiz. Ein wesentlicher Unterschied bestehe darin, dass der deutsche Lehrgang bereits nach zwei Jahren mit der Prüfung abgeschlossen werde, während in der Schweiz die Ausbildung drei Jahre daure und erst dann das Examen stattfinde. Überdies seien die Voraussetzungen hinsichtlich der Zulassung zur Lehre als Krankengymnast bzw. Physiotherapeut in den beiden Staaten nicht die gleichen, indem die schweizerischen Physiotherapeutenschulen - im Gegensatz zur deutschen Ordnung - eine schulische Minimalbildung, ein Praktikum als Spitalgehilfin und eine Aufnahmeprüfung verlangten. Diese Betrachtungsweise hält jedoch vor Art. 2 Abs. 1 Vo VI nicht stand.
a) Die Beschwerdeführerin absolvierte im Jahre 1962 ein dreimonatiges Praktikum in einem Akutkrankenhaus. Dieses Praktikum entspricht der Empfehlung in Ziff. 3 lit. h der Aufnahmebedingungen und Bestimmungen der von ihr anschliessend besuchten Lehranstalt "Rudolf-Klapp-Schule". Nach ihrer glaubwürdigen und unwidersprochen gebliebenen Aussage musste sie im weiteren an dieser Schule eine Aufnahmeprüfung bestehen. Art. 8 der deutschen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Krankengymnasten vom 7. Dezember 1960 (in der Fassung vom 25. Juni 1971) schreibt für die Zulassung sodann abgeschlossene Mittelschulbildung oder eine mindestens gleichwertige Schulbildung vor. Es lässt sich daher nicht sagen, die Beschwerdeführerin habe ihre Ausbildung unter massgeblich weniger strengen Voraussetzungen angetreten, als sie für die Zulassung an verschiedenen anerkannten schweizerischen Physiotherapeutenschulen üblich sind.
b) Festzustellen ist ferner, dass die Beschwerdeführerin über eine dreijährige Fachausbildung verfügt. Sie liess sich vom Oktober 1962 bis Ende September 1964 an der "Rudolf-Klapp-Schule" in Krankengymnastik ausbilden und beendete diesen Lehrgang erfolgreich mit dem Staatsexamen. Anschliessend absolvierte sie vorschriftsgemäss am Klinikum der Philipps-Universität in Marburg/Lahn ein Praktikumsjahr, verbunden mit ergänzendem Theorieunterricht. Der Ausbildungszweck und -charakter dieser praxisbezogenen Tätigkeit ergibt sich klar aus der erwähnten Ausbildungs- und Prüfungsordnung (KAPO). So schreibt § 20 KAPO vor, dass von der praktischen Tätigkeit mindestens vier Monate auf einer chirurgischen oder orthopädischen und mindestens vier Monate auf einer innermedizinischen Abteilung zu leisten sind (Ziff. 2). Während der praktischen Tätigkeit hat der Praktikant durch Teilnahme an mindestens 100 Unterrichtsstunden seine während des Lehrgangs erworbenen Kenntnisse zu vertiefen (Ziff. 3). Der Leiter der Anstalt ist verpflichtet, die Unterrichtsstunden während der regelmässigen Arbeitszeit erteilen zu lassen (Ziff. 4). Dass dieses Praktikumsjahr als Ausbildungszeit zu gelten hat, geht auch daraus hervor, dass die Urkunde der Beschwerdeführerin über die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Krankengymnastin vom 8. November 1965 eine dreijährige Ausbildungszeit vermerkt. Das nämliche ergibt sich aus der Bescheinigung der "Rudolf-Klapp-Schule" vom 16. Mai 1978. Die Aushändigung der erwähnten Urkunde (Zulassung zur Tätigkeit als Krankengymnastin und Erlaubnis zur Führung dieser Berufsbezeichnung) kann sodann erst nach Absolvierung dieses dritten Ausbildungsjahres erfolgen (§ 2 und § 10 des (deutschen) Gesetzes über die Ausübung der Berufe des Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten vom 21. Dezember 1958). Es muss demnach im Falle der Beschwerdeführerin von einer dreijährigen Fachausbildung gesprochen werden.
c) Indes bleibt zu prüfen, ob die oben als dreijährig qualifizierte deutsche Fachausbildung in Krankengymnastik dem dreijährigen Lehrgang an anerkannten schweizerischen Physiotherapeutenschulen gleichwertig ist. Im Zusammenhang mit dieser Frage wird zu untersuchen sein, ob dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin die Fachprüfung (gemäss deutscher Prüfungsordnung) bereits nach zwei Lehrjahren abgelegt hatte, entscheidende Bedeutung zukommt.
Sowohl die Vorinstanz wie das Bundesamt für Sozialversicherung vertreten zutreffend die Auffassung, dass sich das Stoffgebiet der Lehrpläne anerkannter schweizerischer Physiotherapeutenschulen mit demjenigen deutscher Lehranstalten für Krankengymnastik inhaltlich weitgehend deckt und dass die Beschwerdeführerin insofern über eine Ausbildung verfügt, die sich von der schweizerischen nicht wesentlich unterscheidet. Es wird im weiteren nicht behauptet, dass sich der deutsche Lehrgang hinsichtlich des Umfangs der vermittelten Kenntnisse und der Qualität der Ausbildung nicht mit den Verhältnissen an schweizerischen Physiotherapeutenschulen messen könne. Zu einer solchen Annahme besteht nach Massgabe der Akten auch kein Grund. So ergab eine Ermittlung des Gesundheitsamtes Basel-Stadt, dass die Absolventen der Physiotherapeutenschule des Kantonsspitals Basel-Stadt im Laufe der dreijährigen Fachausbildung 2351 Unterrichtsstunden erhalten. Es darf angenommen werden, dass es sich an andern anerkannten schweizerischen Schulen ähnlich verhält. Nach dem deutschen Lehrplan für Krankengymnastik werden in den ersten zwei Lehrjahren 3680 (ohne klinische Praktika 2438) Unterrichtsstunden vermittelt. Eine massgebliche Diskrepanz zwischen den Lehrgängen in den beiden Staaten ist daher auch in diesem Punkt nicht zu erblicken. Allerdings sagt ein solcher Vergleich nicht ohne weiteres etwas über die Ausbildungsqualität aus. Indes ist laut Korrespondenz des Gesundheitsamtes und des Sanitätsdepartements Basel-Stadt mit dem Bundesamt für Sozialversicherung ein namhafter Teil der in der Schweiz tätigen Ausbildnerinnen und Leiterinnen grösserer Physiotherapieschulen Deutsche, welche die gleiche Grundausbildung wie die Beschwerdeführerin genossen hatten. Auch die Beschwerdeführerin hatte zeitweilig Nachwuchskräfte ausgebildet. Es liesse sich daher schwerlich die Auffassung vertreten, dass der deutsche Lehrgang hinsichtlich Umfang der vermittelten Kenntnisse und Qualität der Ausbildung den Verhältnissen an schweizerischen Physiotherapieschulen nicht mindestens gleichkommt.
Die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherung haben denn die Zulassung zur selbständigen Berufsausübung für die Krankenkassen auch nicht mit ungenügender ausbildungsmässiger und beruflicher Qualifikation der Beschwerdeführerin begründet, sondern mit der andersgearteten Ausbildungskonzeption in der Bundesrepublik. Sowohl in der Schweiz wie in der Bundesrepublik wird der theoretische Wissensstoff zur Hauptsache in den ersten zwei Lehrjahren vermittelt. Der Schwerpunkt im dritten Lehrjahr liegt in beiden Staaten nahezu ausschliesslich in der ausbildungsmässigen praktischen Tätigkeit. Der die Erfahrungen aus der Praxis ergänzende theoretische Unterricht nimmt nur bescheidenen Raum ein. Insofern stimmen die beiden Lehrsysteme im wesentlichen überein. Da die Prüfungen über die theoretischen Kenntnisse und die praktischen Fähigkeiten (§ 12 Ziff. 1 KAPO) der angehenden Krankengymnastin gemäss deutschem Recht bereits nach zwei Lehrjahren stattfinden, besteht der Unterschied zur Hauptsache darin, dass die im dritten Lehrjahr erworbene praktische Befähigung keinem Examen unterworfen ist. Diese Tatsache allein genügt nicht, dem einjährigen Praktikum die Qualifikation als vollgültiges Ausbildungsjahr abzusprechen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Beschwerdeführerin in diesem dritten Lehrjahr der Art und dem Umfang nach eine Ausbildung erhalten hat, die derjenigen der Absolventinnen anerkannter schweizerischer Physiotherapeutenschulen im nämlichen Lehrjahr mindestens gleichwertig ist, und die Qualität der Ausbildung wegen der besondern deutschen Prüfungsordnung nicht massgeblich vermindert erscheint. Als wesentlicher Umstand kommt hinzu, dass das Fachdiplom in der Bundesrepublik erst nach Absolvierung des dritten Lehrjahres erteilt wird. Das Zulassungsgesuch wegen des nicht in die Prüfungen miteinbezogenen dritten Ausbildungsjahres (welches hauptsächlich in die klinische Praxis einführt) scheitern zu lassen, rechtfertigt sich schon deshalb nicht, weil die praktische Befähigung der Beschwerdeführerin nach mehr als zehnjähriger Tätigkeit an einer schweizerischen Universitätsklinik hinreichend ausgewiesen ist.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Eidgenössischen Departements des Innern vom 13. September 1979 sowie die Verfügung des Bundesamtes für Sozialversicherung vom 26. April 1979 aufgehoben und es wird die Sache an das Bundesamt für Sozialversicherung zur Weiterbehandlung im Sinne der Erwägungen zurückgewiesen.