16. Auszug aus dem Urteil vom 21. April 1981 i.S. Schönenberg gegen Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich
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Regeste
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Art. 47 Abs. 1 AHVG.
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Aus den Erwägungen:
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Art. 79 AHVV bestimmt, dass dem Rückerstattungspflichtigen, der selbst bzw. dessen gesetzlicher Vertreter in gutem Glauben annehmen konnte, die Rente zu Recht bezogen zu haben, die Rückerstattung ganz oder teilweise zu erlassen ist, wenn sie für den Pflichtigen angesichts seiner Verhältnisse eine grosse Härte bedeuten würde (Abs. 1). Der Erlass wird von der Ausgleichskasse auf schriftliches Gesuch des Rückerstattungspflichtigen hin verfügt; das Gesuch ist zu begründen und innert 30 Tagen seit der Zustellung der Rückerstattungsverfügung der Ausgleichskasse einzureichen (Abs. 2). Sind die Voraussetzungen offensichtlich erfüllt, so kann die Ausgleichskasse den Erlass von sich aus verfügen (Abs. 3).
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b) Die Vorinstanz hat den für den Erlass der Rückforderung vorausgesetzten guten Glauben bejaht mit der Feststellung, dass der Adoptivvater seiner Meldepflicht vorschriftsgemäss nachgekommen sei und der Rentenempfängerin die Unrechtmässigkeit des Rentenbezugs nicht habe bewusst sein müssen. Soweit damit der gute Glaube im Sinne des fehlenden Unrechtbewusstseins bejaht wird, ist diese Feststellung für das Eidg. Versicherungsgericht gemäss Art. 105 Abs. 2 OG verbindlich (BGE 102 V 246). Im übrigen besteht kein Grund, von der vorinstanzlichen Beurteilung abzugehen. Zu prüfen bleibt daher lediglich, ob die Rückerstattung eine grosse Härte bedeuten würde.
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b) Die Frage nach der grossen Härte beurteilt sich nach den gesamten wirtschaftlichen Verhältnissen des Rückerstattungspflichtigen, wobei auch Einkommen und Vermögen des Ehegatten mit zu berücksichtigen sind (ZAK 1978 S. 218). Massgebend sind die wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie im Zeitpunkt gegeben sind, da der Rückerstattungspflichtige bezahlen sollte (nicht veröffentlichte Urteile Steffanits vom 13. August 1979, Hofmann vom 25. Juli 1979 und Romanens vom 3. Februar 1976; vgl. auch BGE 104 V 62, BGE 103 V 54, BGE 98 V 252). Der Sozialversicherungsrichter ist indessen nicht verpflichtet, von sich aus zu prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit sich die wirtschaftliche Lage des Schuldners seit Eröffnung der angefochtenen Verfügung verändert hat. Es ist ihm aber auch nicht verwehrt, dem Entscheid - insbesondere aus prozessökonomischen Gründen - unter Wahrung des rechtlichen Gehörs den neuen Sachverhalt zugrundezulegen (BGE 104 V 62, BGE 103 V 54, BGE 98 V 252).
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Mit Bezug auf das letztinstanzliche Verfahren ist zu beachten, dass das Eidg. Versicherungsgericht grundsätzlich an den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt gebunden ist (vgl. BGE 98 V 276). Es ist ihm insoweit verwehrt, allfällige neue Tatsachen zu berücksichtigen, die erst nach Abschluss der von der Vorinstanz erfassten Zeitperiode eingetreten sind. Aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt es sich jedoch, ausnahmsweise auch nachträglich eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, sofern diese offensichtlich klar bewiesen sind (BGE 104 V 62).
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b) Während in der Alters- und Hinterlassenenversicherung weiterhin die bisherige Ordnung gilt, wurde in der Invalidenversicherung mit der auf den 1. Januar 1977 in Kraft getretenen Verordnungsänderung insofern eine mildere Regelung getroffen, als nach Art. 85 Abs. 2 und 3 IVV die Änderung erst von dem der neuen Verfügung folgenden Monat an vorzunehmen ist, wenn eine Überprüfung der Anspruchsberechtigung ergibt, dass eine Leistung herabgesetzt oder aufgehoben werden muss und der Bezüger nicht die Leistung unrechtmässig erwirkt oder die ihm zumutbare Meldepflicht nach Art. 77 IVV verletzt hat (Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV). Das Eidg. Versicherungsgericht hat diese Regelung als gesetzmässig erachtet, ihre Anwendbarkeit jedoch auf Fälle beschränkt, in welchen der im Rahmen der Wiedererwägung festgestellte Fehler eine spezifisch invalidenversicherungsrechtliche Frage betrifft (BGE 105 V 170, 175). Es hat dabei nicht übersehen, dass die Verordnungsbestimmung insofern zu stossenden Ungleichheiten führt, als Leistungsbezüger der Alters- und Hinterlassenenversicherung unter gleichen Umständen rückerstattungspflichtig sind, unter denen die Rückerstattungspflicht für Empfänger von Leistungen der Invalidenversicherung ausgeschlossen wurde. Diese Ungleichheiten lassen den in Art. 47 Abs. 1 AHVG verankerten Grundsatz noch fragwürdiger erscheinen als vor Inkrafttreten der Verordnungsänderung in der Invalidenversicherung.
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a) Praxisänderungen lassen sich im allgemeinen nur rechtfertigen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (BGE 107 V 1, BGE 105 Ib 60, BGE 100 Ib 71; vgl. auch Dubs, Praxisänderungen, S. 138 ff.). Im vorliegenden Zusammenhang haben sich die Verhältnisse insofern geändert, als auf den 1. Januar 1977 die revidierten Art. 85 und 88bis IVV in Kraft getreten sind, mit welchen für die Invalidenversicherung eine von Art. 47 Abs. 1 AHVG abweichende Regelung getroffen wurde. Hiefür dürften sowohl die Erkenntnis, dass die bisherige Regelung zu stossenden, mit dem angestrebten Gesetzeszweck kaum zu vereinbarenden Ergebnissen führt, als auch gewandelte Rechtsanschauungen mit Bezug auf die Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes im Sozialversicherungsrecht ausschlaggebend gewesen sein. Der Vertrauensschutz wird durch die geltende Regelung denn auch in einer Weise eingeschränkt, die nicht unbestritten geblieben ist (vgl. DUCOMMUN, Légalité et bonne foi dans la jurisprudence du Tribunal fédéral des assurances, in Mélanges Henri Zwahlen, S. 256; EGLI, Treu und Glauben im Sozialversicherungsrecht, in ZBJV 1977 S. 404; MÜLLER LUZIUS, Die Rückerstattung rechtswidriger Leistungen als Grundsatz des öffentlichen Rechts, Diss. Basel, S. 104). Es liegen damit Umstände vor, die eine Praxisänderung mit Bezug auf den Begriff der grossen Härte zu rechtfertigen vermögen.
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b) Das Gesamtgericht, welchem diese Frage ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen unterbreitet worden ist, hat im einzelnen geprüft, welche Beurteilungskriterien für die Neuumschreibung der grossen Härte in Betracht fallen. Es ist zur Auffassung gelangt, dass die für den Anspruch auf Ergänzungsleistungen geltenden Einkommensgrenzen (vgl. ZAK 1973 S. 198) und das für die Beitragsherabsetzung nach Art. 11 Abs. 1 AHVG massgebende betreibungsrechtliche Existenzminimum (vgl. ZAK 1979 S. 46) schon deshalb keine geeignete Grundlage für eine Neuregelung bilden, weil sie keine gesamtschweizerisch einheitliche Praxis gewährleisten und für den Versicherten nicht günstiger sind. Als ungeeignet erweist sich auch das Kriterium des Existenzbedarfs im Sinne von Art. 34quater BV, da hiefür eine klare Definition fehlt (vgl. BBl 1971 II 1616). Schliesslich kann auch dem Vorschlag von MÜLLER (a.a.O., S. 104) nicht gefolgt werden, wonach die Rückerstattung in jedem Fall zu erlassen ist, wenn der Versicherte die zu Unrecht ausgerichteten Leistungen im Zeitpunkt der Rückforderung bereits gutgläubig und ersatzlos verbraucht hat, und wonach darüber hinaus auch denjenigen Versicherten die Rückerstattung zu erlassen ist, denen diese angesichts ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zumutbar ist. Eine Beschränkung der Rückerstattungspflicht auf die ungerechtfertigte Bereicherung würde nicht nur zu stossenden Ergebnissen führen, indem der sparsame Versicherte benachteiligt wäre, sondern wäre auch mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden, da häufig kaum feststellbar wäre, inwieweit noch eine Bereicherung vorhanden ist (so auch MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Band I S. 316, Fussnote 712).
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Da kein geeignetes anderes Kriterium ersichtlich ist, welches zu befriedigenden Ergebnissen führt, hat die Neuumschreibung der grossen Härte im Rahmen des bisherigen Systems zu erfolgen. Schon aus Gründen der Praktikabilität drängt sich dabei eine Lösung in Form eines einheitlichen prozentualen Zuschlages zu den Einkommensgrenzen des Art. 42 Abs. 1 AHVG auf, was gemäss einer Stellungnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung keine wesentlichen durchführungstechnischen Schwierigkeiten zur Folge hat. Das Gericht hat den Zuschlag auf 50% festgesetzt in der Meinung, dass damit die Erlassvoraussetzung der grossen Härte in einer Weise gemildert wird, die sich mit dem Gesetzeswortlaut vereinbaren lässt. Eine grosse Härte im Sinne der Gesetzesbestimmung liegt demnach vor, wenn das anrechenbare Einkommen die nach Art. 42 Abs. 1 AHVG anwendbare und um 50% erhöhte Einkommensgrenze nicht erreicht. Für die Ermittlung des anrechenbaren Einkommens gelten wie bisher die Regeln der Art. 56 ff. AHVV. Im übrigen ist die Berücksichtigung weiterer Umstände im Einzelfall nicht ausgeschlossen (vgl. Rz. 1199 der Wegleitung über die Renten, Ausgabe vom 1. Januar 1980). In Betracht fällt auch die Pflicht zur Tilgung anderweitiger Schulden.
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