BGE 111 V 322
 
60. Auszug aus dem Urteil vom 10. Dezember 1985 i.S. Schweizerische Gewerbekrankenkasse gegen Philipp und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
 
Regeste
Art. 6bis und 11 KUVG: Kassenausschluss wegen Nichtbezahlung von Mitgliederbeiträgen.
Der blosse Hinweis auf einen Statutenartikel genügt nicht; die Sanktion des Ausschlusses ist unmissverständlich anzudrohen.
 
Aus den Erwägungen:
Der Ausschluss eines Mitgliedes aus der Kasse darf praxisgemäss erst nach schriftlicher Androhung dieser Sanktion verfügt werden, es sei denn, eine solche Vorkehr könne vernünftigerweise nicht vorausgesetzt werden (BGE 108 V 248 f. und 252 Erw. 3a mit Hinweisen; RSKV 1976 Nr. 242 S. 46 Erw. 2a). Letzteres trifft insbesondere dann zu, wenn die Kasse nach den Umständen zu einer vorgängigen Androhung nicht in der Lage war, weil sie das einen Ausschluss rechtfertigende Verhalten - etwa die betrügerische Beanspruchung von Leistungen - nicht kannte. Eine fehlende schriftliche Mahnung steht einem Ausschluss in jedem Falle ferner dann nicht entgegen, wenn die Berufung auf diesen Mangel gegen Treu und Glauben verstiesse (BGE 108 V 248 f.; EVGE 1968 S. 165; RKUV 1985 Nr. K 631 S. 159).
b) Die Kasse erwähnte die Möglichkeit eines Kassenausschlusses in einer früheren Verfügung (vom 14. Juni 1983) mit dem vorgedruckten Vermerk "Ferner möchten wir Sie auf Art. 18 unserer Statuten aufmerksam machen". Nach Art. 18 der Statuten kann ein Mitglied aus der Kasse ausgeschlossen werden, wenn es mit mindestens drei Monatsbeiträgen oder mit der Zahlung eines Selbstbehalts oder der Franchise drei Monate im Rückstand ist und den eingeschriebenen Zahlungsaufforderungen nicht innert Monatsfrist nachkommt. Die Kasse vertritt in ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Auffassung, dass sie mit dem genannten Vermerk in jener Verfügung vom 14. Juni 1983 ihrer Aufklärungspflicht Genüge getan habe. Das Bundesamt für Sozialversicherung erachtet diesen Hinweis unter den gegebenen Umständen ebenfalls als ausreichend, da der Beschwerdegegner durchaus in der Lage gewesen sei, die Bedeutung eines Hinweises auf statutarische Bestimmungen zu erfassen. Ferner gebe dieser in der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu, dass ihn der Vertrauensarzt der Kasse über mögliche Sanktionen unterrichtet habe. Aus diesen Gründen sowie in Anbetracht der umfangreichen Korrespondenz und der bisherigen Prozesse verstosse es gegen Treu und Glauben, wenn sich der Beschwerdegegner auf eine mangelhafte Androhung des Kassenausschlusses berufe. Dieser Betrachtungsweise kann jedoch nicht beigepflichtet werden.
c) Die Androhung des Ausschlusses hat den Sinn, dem Betroffenen vorzuhalten, welche Massnahme er im Widerhandlungsfalle zu erwarten hat. Damit soll das Mitglied vor einem unerwarteten schweren Eingriff geschützt werden. Die allgemeine Statutenkenntnis, welche einem Versicherten zugemutet wird, genügt im Lichte des Verhältnismässigkeitsprinzips insbesondere dann nicht zum Schutze vor einer derartigen Folge, wenn in den Bestimmungen zum Ausschluss nur gesagt wird, dass die Kasse unter bestimmten Voraussetzungen zu dieser Massnahme greifen könne. Damit weiss ein Mitglied noch nicht, ob die Kasse in seinem Fall konkret beabsichtigt, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen oder nicht. Es bedarf deshalb im Einzelfall noch einer besondern Belehrung, die aber unvollständig wäre und ihren Zweck nur unzureichend erfüllen könnte, wenn bloss ein Statutenartikel erwähnt werden müsste. Dem Mitglied ist vielmehr eindeutig und unmissverständlich vor Augen zu führen, welche Sanktion ihm konkret droht, damit ihm die rechtliche Tragweite einer allfälligen Widerhandlung klar ist. Der Hinweis in der Kassenverfügung vom 14. Juni 1983 erweist sich mithin als ungenügend.
Es kommt demnach nicht darauf an, dass der Beschwerdegegner in der Lage gewesen sein dürfte, die Bedeutung des fraglichen Hinweises zu erfassen, und dass ihm das Nachschlagen in den Statuten zumutbar gewesen wäre. Mit dem Erfordernis der ausdrücklichen Nennung der Sanktion in der schriftlichen Androhung soll gerade auch derjenige geschützt werden, der es aus Nachlässigkeit unterlassen hat, sich über die Möglichkeit eines Kassenausschlusses Rechenschaft zu geben. Sollte dem Beschwerdegegner eine solche Unterlassung anzulasten sein, so läge mithin darin kein Verhalten, das gestützt auf Treu und Glauben die schwerwiegende Sanktion des Kassenausschlusses ohne vorgängige schriftliche Androhung zu rechtfertigen vermöchte.
Der Vernehmlassung des Beschwerdegegners zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann sodann nicht entnommen werden, dass der Vertrauensarzt den Kassenausschluss mündlich angedroht hatte. Schliesslich ist die Behauptung der Kasse weder erwiesen noch auch nur zum Beweise gestellt worden, dass der Beschwerdegegner mehrmals telefonisch auf den drohenden Mitgliedschaftsverlust aufmerksam gemacht worden sei. Ergänzender Abklärungen hiezu bedarf es nicht, da nach der Rechtsprechung die Androhung der fraglichen Sanktion in schriftlicher Form zu erfolgen hat. Der Zweck dieser Formvorschrift liegt auch darin, das Entstehen unklarer Verhältnisse wie im vorliegenden Falle zu vermeiden. Die rege Korrespondenz und die prozessualen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien rechtfertigen ebenfalls keinen Kassenausschluss ohne vorgängige rechtsgenügliche Androhung dieser Massnahme.