BGE 117 V 153
 
17. Urteil vom 25. Februar 1991 i.S. Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen gegen B. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
 
Regeste
Art. 14a Abs. 2 und Art. 14b ELV, Art. 4 Abs. 1 BV.
 
Sachverhalt
A.- Der 1943 geborene J. B., fahrender Händler, bezieht seit 1. September 1982 auf der Grundlage eines 50%igen Invaliditätsgrades eine halbe Invalidenrente. Ferner steht er im Genusse von Ergänzungsleistungen, welche, basierend auf einem Bruttoerwerbseinkommen von Fr. 8'800.--, ab 1. Januar 1988 Fr. 1'107.-- im Monat betrugen. Im Rahmen einer Überprüfung des Ergänzungsleistungsanspruchs berücksichtigte die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen, dass die Steuerverwaltung in der Steuerperiode 1987/88 das deklarierte Einkommen von Fr. 8'000.-- ermessensweise auf Fr. 18'000.-- festgelegt hatte. Nach Aufrechnung der persönlichen Beiträge setzte sie daher den Ergänzungsleistungsanspruch unter Anrechnung eines zumutbaren Erwerbseinkommens von Fr. 19'800.-- mit Wirkung ab 1. April 1989 auf monatlich Fr. 548.-- herab (Verfügung vom 16. März 1990).
B.- Die Ehefrau des Versicherten beschwerte sich hiegegen beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und beantragte die Aufhebung der Herabsetzungsverfügung. Zur Begründung brachte sie sinngemäss vor, J. B. könne kein Einkommen in der von der Ausgleichskasse angenommenen Höhe erzielen, da er nicht mehr in der Lage sei, mit Möbeln zu handeln, sondern nur noch die Tätigkeit eines Scherenschleifers ausübe.
Vernehmlassungsweise räumte die Kasse ein, aufgrund des Rekurses und einer Stellungnahme der Fürsorgebehörde der politischen Gemeinde U. (nachstehend: Fürsorgebehörde) vom 27. Oktober 1989 erscheine es glaubhaft, dass J. B. nicht imstande sei, ein Bruttoerwerbseinkommen von Fr. 19'800.-- zu erzielen. Mangels hinreichend schlüssiger Anhaltspunkte in den Steuer- und Beitragsunterlagen bleibe nur die Möglichkeit, auf die Angaben der Fürsorgebehörden abzustellen, wonach der Versicherte als Scherenschleifer Fr. 6'000.-- jährlich verdienen könne. Damit aber gelange Art. 14a Abs. 2 ELV zur Anwendung, nach welcher gesetzlichen Vermutung dem Rekurrenten ein Erwerbseinkommen von Fr. 12'800.-- im Jahr anzurechnen sei. Diese Vermutung habe J. B. nicht widerlegt, zumal sich aus den in den IV-Akten befindlichen ärztlichen Stellungnahmen ergebe, dass er durch eine leichtere Tätigkeit in der Industrie bei einem 50%igen Arbeitseinsatz ein Jahreseinkommen von Fr. 12'800.-- verdienen könnte. In diesem Sinne sei die Sache zur Neuberechnung der Ergänzungsleistung an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.
Das kantonale Gericht erwog, aufgrund der Akten erscheine es glaubhaft, dass der Versicherte nicht in der Lage sei, das verfügungsmässig festgelegte hypothetische Erwerbseinkommen von Fr. 19'800.-- zu erzielen. Indes sei nicht genügend abgeklärt, welche Art von Arbeit ihm zumutbar sei und ob er damit einen Lohn von mindestens Fr. 12'800.-- gemäss Art. 14a ELV verdienen bzw. die gesetzliche Vermutung widerlegen könne. Das Gericht hiess deshalb die Beschwerde in dem Sinne gut, dass es die Sache zur Aktenergänzung und zur Neuberechnung der Ergänzungsleistung an die Verwaltung zurückwies (Entscheid vom 23. August 1990).
C.- Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der Ergänzungsleistungsanspruch sei, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides, ausgehend von einem anrechenbaren Jahreseinkommen von Fr. 12'800.-- auf monatlich Fr. 871.-- festzusetzen.
Während die Fürsorgebehörde für J. B. auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) deren Gutheissung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
2. a) Gemäss Art. 2 Abs. 1 ELG haben in der Schweiz wohnhafte Schweizer Bürger, denen eine Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung oder der Invalidenversicherung zusteht, Anspruch auf Ergänzungsleistungen, soweit ihr anrechenbares Jahreseinkommen einen bestimmten Grenzbetrag nicht erreicht. Dabei entspricht die jährliche Ergänzungsleistung dem Unterschied zwischen der massgebenden Einkommensgrenze und dem anrechenbaren Jahreseinkommen (Art. 5 Abs. 1 ELG). Das anrechenbare Einkommen wird nach den Bestimmungen der Art. 3 ff. ELG berechnet. Als Einkommen anzurechnen sind danach u.a. Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist (Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG in der hier anwendbaren, ab 1987 gültigen Fassung). Mit dieser neuen Regelung, welche die Verhinderung von Missbräuchen bezweckt, soll eine einheitliche und gerechte Lösung ermöglicht werden, indem sich die schwierige Prüfung der Frage fortan erübrigt, ob beim Verzicht auf Einkommen und Vermögen der Gedanke an eine Ergänzungsleistung tatsächlich eine Rolle gespielt hat oder nicht (ZAK 1990 S. 356 Erw. 3a, 1989 S. 569 Erw. 2a, 1988 S. 258, 1987 S. 377 Erw. 2).
b) Mit der zweiten IVG-Revision hat der Bundesrat in Art. 3 Abs. 6 ELG die Kompetenz erhalten, nähere Vorschriften über die Anrechnung von Einkommen aus einer zumutbaren Erwerbstätigkeit bei Teilinvaliden zu erlassen. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat er in Art. 14a ELV (in Kraft seit 1. Januar 1988) bestimmt, dass bei diesen Personen grundsätzlich der Betrag als Erwerbseinkommen anzurechnen ist, den sie im massgebenden Zeitabschnitt tatsächlich verdient haben (Abs. 1). Für noch nicht sechzigjährige Versicherte gelten gemäss Abs. 2 jedoch folgende Mindesteinkommen: der um einen Drittel erhöhte Betrag der Einkommensgrenze für Alleinstehende bei einem Invaliditätsgrad von 40 bis 49 Prozent (lit. a), der Betrag dieser Einkommensgrenze bei einem Invaliditätsgrad zwischen 50 und 59 Prozent (lit. b) und zwei Drittel dieses Betrages bei einem Invaliditätsgrad von 60 bis 66 2/3 Prozent (lit. c). Ausgenommen hievon sind Nichterwerbstätige, deren Invalidität aufgrund von Art. 27 IVV festgelegt wurde, und Invalide, die in einer geschützten Werkstätte im Sinne von Art. 73 IVG arbeiten (Abs. 3).
c) Nach der Rechtsprechung kann im Hinblick auf die berechtigten Interessen der Vereinfachung und der rascheren Behandlung von Einzelfällen grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass es dem teilinvaliden Versicherten vermutungsweise möglich und zumutbar ist, im Rahmen seines von der Invalidenversicherungs-Kommission festgestellten verbliebenen Leistungsvermögens die in Art. 14a ELV festgelegten Grenzbeträge zu erzielen. Dies hat eine Umkehr der objektiven Beweislast zur Folge, indem bei unbewiesen gebliebener Unmöglichkeit, dieses Arbeitsvermögen zu verwerten, das dem Invaliditätsgrad des Versicherten entsprechende Erwerbseinkommen angerechnet wird (ZAK 1989 S. 572 Erw. 3c). Die gesetzliche Vermutung kann durch den Beweis des Gegenteils umgestossen werden, indem der Ansprecher auch Umstände geltend machen kann, welche bei der Bemessung der Invalidität ohne Bedeutung waren, ihm jedoch verunmöglichen, seine theoretische Restarbeitsfähigkeit wirtschaftlich zu nutzen. Denn es gibt erfahrungsgemäss Fälle, in denen die Invalidenversicherung zu Recht bloss eine halbe Rente zuspricht, obwohl der Versicherte aus invaliditätsfremden Gründen nicht in der Lage ist, die verbliebene Arbeitsfähigkeit tatsächlich zu verwerten. Müssten sich auch solche Personen die schematisch festgelegten hypothetischen Erwerbseinkommen anrechnen lassen, hätte dies zur Folge, dass Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG seines Sinnes entleert würde, da diese Bestimmung nur die Anrechnung von Einkünften vorschreibt, auf die der Ansprecher verzichtet hat. Massgebend für die Berechnung der Ergänzungsleistung ist daher auch unter der Herrschaft des neuen Art. 14a ELV dasjenige hypothetische Einkommen, das der Versicherte tatsächlich realisieren könnte (BGE 115 V 88; ZAK 1989 S. 571 Erw. 3b).
Bei der Prüfung der Frage, ob dem teilinvaliden Versicherten die Ausübung einer Tätigkeit in grundsätzlicher wie masslicher Hinsicht möglich und zumutbar ist, sind, entsprechend der Zielsetzung der Ergänzungsleistungen, sämtliche Verumständungen zu berücksichtigen, welche die Realisierung eines Einkommens verhindern oder erschweren, wie Alter, mangelnde Ausbildung oder Sprachkenntnisse, aber auch persönliche Umstände, die es dem Leistungsansprecher verunmöglichen, seine verbliebene Erwerbsfähigkeit in zumutbarer Weise auszunützen (vgl. ZAK 1984 S. 98 Erw. 2b).
3. a) Die Vorinstanz hat die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie prüfe, welche Art von Arbeit dem Beschwerdegegner zugemutet werden und ob er damit ein Einkommen von vermutungsweise Fr. 12'800.-- (Art. 14a Abs. 2 lit. b ELV in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 ELG) erzielen könne oder ob er gegenteils in der Lage sei, diese gesetzliche Vermutung zu widerlegen. Nach Auffassung der beschwerdeführenden Kasse vereitelt eine solche Rückweisung den mit Art. 14a ELV verfolgten Zweck der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung. Dieser lasse sich nur verwirklichen, wenn "auch die Beweisführungslast dem Versicherten" auferlegt werde, zumal das Beweisthema regelmässig dessen Person selber betreffe. Von dieser Betrachtungsweise gehe auch das Eidg. Versicherungsgericht in den Urteilen L. vom 28. April 1989 (BGE 115 V 88) und W. vom 21. August 1989 (ZAK 1989 S. 568) aus, habe doch danach der Versicherte Umstände geltend zu machen, welche die gesetzliche Vermutung allenfalls umzustossen vermöchten. Es sei daher nicht Sache der Ausgleichskassen, "nach zusätzlichen, d.h. bisher noch nicht bekannten Umständen zu suchen, welche die gesetzliche Vermutung des Art. 14a Abs. 2 ELV widerlegen könnten". Vorliegend sei die Frage der Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens von Fr. 12'800.-- erst im vorinstanzlichen Verfahren aufgetaucht. Da der Versicherte zu diesem Problem in einem Verfahrensstadium habe Stellung nehmen können, in dem die Kasse noch die volle Herrschaft über den Prozessgegenstand besessen habe und deshalb lite pendente auch neu hätte verfügen können, sei diesem "materiell" keine Instanz verlorengegangen. Im übrigen sei sie bis zur Einleitung des Rechtsmittelverfahrens gar nicht in der Lage gewesen, sich mit der Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens zu befassen, "da sie nicht gewusst habe, dass der Beschwerdegegner mit den Fr. 19'800.-- nicht einverstanden war". Indem der Beschwerdegegner seiner "Beweisführungslast" zur Widerlegung der gesetzlichen Vermutung des Art. 14a Abs. 2 lit. b ELV ungehindert nachkommen konnte, liege auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor.
b) Der Ausgleichskasse ist darin beizupflichten, dass sie im Rahmen von Art. 14a Abs. 2 und Art. 14b ELV nicht von vornherein nach Umständen forschen muss, welche der Erzielung des hypothetischen Einkommens entgegenstehen (BGE 115 V 93 Erw. 2). Geht aus den Akten nicht hervor, dass der Ansprecher ausserstande ist, die fraglichen Einkommen zu erzielen, darf die Verwaltung bei der Berechnung der Ergänzungsleistung von den in den erwähnten Verordnungsbestimmungen festgehaltenen Vermutungswerten ausgehen, ohne dass sie von Amtes wegen zunächst Abklärungen in dieser Richtung treffen müsste. Dies entbindet die Verwaltung anderseits nicht von der Pflicht, dem Versicherten auch in diesem Punkt das rechtliche Gehör zu gewähren. Die Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör richtet sich nach der konkreten Situation und Interessenlage im Einzelfall (unveröffentlichtes Urteil S. vom 23. Februar 1989). Einerseits dient das rechtliche Gehör der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht dar (BGE 116 V 184 Erw. 1a, BGE 116 Ia 99 Erw. 3b, BGE 113 Ia 288 Erw. 2b mit Hinweisen). Beabsichtigt die Ausgleichskasse, von den deklarierten oder von den der bisherigen Ergänzungsleistung zugrundeliegenden Erwerbseinkommen abzuweichen und durch die (höheren) hypothetischen Einkommenszahlen der Art. 14a und b ELV zu ersetzen, hat sie den Leistungsansprecher vor Erlass der Verfügung darauf hinzuweisen und ihn aufzufordern, hiegegen substantiierte Einwendungen zu machen und soweit als möglich zu belegen, für den Fall, dass er die in Aussicht gestellte Vermutungsfolge der Art. 14a oder b ELV nicht gelten lassen will. Bringt er solche Gründe vor, hat die Kasse in Nachachtung des das Verwaltungsverfahren beherrschenden Untersuchungsgrundsatzes (vgl. hiezu BGE 116 V 26 Erw. 3c, 115 V 142 Erw. 8a mit Hinweisen) von Amtes wegen abzuklären, ob diese geeignet sind, die Vermutung umzustossen (siehe auch Rz. 2084.10 des ab 1. Juli 1990 gültigen Nachtrages 5 zur Wegleitung des BSV über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV). Macht der Versicherte gegen die angekündigte Anrechnung keine Einwendungen oder führen die aufgrund der Einwendungen des Versicherten vorzunehmenden Abklärungen zu keinem schlüssigen Ergebnis, legt die Verwaltung - entsprechend der durch die gesetzliche Vermutung bewirkten Umkehr der objektiven Beweislast (Erw. 2c) - der Ergänzungsleistungsberechnung die hypothetischen Einkommen gemäss Art. 14a Abs. 2 und 14b ELV zugrunde.
b) Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Der Beschwerdegegner ist Analphabet und hat keine schulische oder berufliche Ausbildung genossen. Auch ist er nie einer geregelten Arbeit im üblichen Sinne nachgegangen, sondern war zeit seines Lebens ein Fahrender. Im Rahmen der Ergänzungsleistung als einer individualisierten Bedarfsleistung sind gegebenenfalls solche besondere Verhältnisse und aussergewöhnliche Lebensumstände zu respektieren. In diesem Sinne wendet sich die Fürsorgebehörde in der Vernehmlassung zu Recht dagegen, "einem derart hilflosen Ergänzungsleistungsbezüger ein hypothetisches Einkommen anzulasten, welches er beim besten Willen bei weitem nicht zu erreichen" vermöge; "ein Augenschein an Ort und Stelle würde dies bestätigen". Es besteht deshalb kein Anlass, dem Beschwerdegegner mehr Einkommen anzurechnen, als er im Jahre 1988, dem nach Art. 23 Abs. 1 ELV massgebenden Zeitraum, effektiv verdiente. Auch wenn er nurmehr als Scherenschleifer tätig zu sein scheint, wie seine Ehefrau im vorinstanzlichen Verfahren einwendete, kann doch davon ausgegangen werden, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse dadurch insgesamt keine bedeutende Änderung erfahren haben. Es rechtfertigt sich daher, den Jahresverdienst auf Fr. 8'000.-- festzusetzen. Diesen Betrag (zuzüglich Aufrechnung der persönlichen Sozialversicherungsbeiträge) wird die Ausgleichskasse der Berechnung der Ergänzungsleistung zugrunde zu legen haben, ohne dass es weiterer Abklärungen bedürfte.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.