2. Auszug aus dem Urteil vom 22. Februar 1993 i.S. V. gegen Ausgleichskasse des Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich
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Regeste
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Art. 81 Abs. 3 AHVV.
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Der im Sozialversicherungsrecht übliche Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit genügt hier nicht.
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Aus den Erwägungen:
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a) Gegen eine Schadenersatzverfügung kann der Arbeitgeber innert 30 Tagen seit ihrer Zustellung bei der Ausgleichskasse Einspruch erheben (Art. 81 Abs. 2 AHVV). Besteht die Ausgleichskasse auf der Schadenersatzforderung, so hat sie bei Verwirkungsfolge innert 30 Tagen seit Kenntnis des Einspruches bei der Rekursbehörde des Kantons, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat, schriftlich Klage zu erheben (Art. 81 Abs. 3 AHVV). Das Eidg. Versicherungsgericht hat den Verwirkungscharakter dieser Frist bestätigt (BGE 108 V 198 E. 6).
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Berechnet sich eine Frist nach Tagen und bedarf sie der Mitteilung an die Parteien, so beginnt sie an dem auf ihre Mitteilung folgenden Tage zu laufen (Art. 20 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 96 AHVG).
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b) Die Vorinstanz hat zur Begründung ihres Standpunktes dargelegt, dass der Einspruch des Beschwerdeführers unbestrittenerweise am 3. Juni 1987 bei der Ausgleichskasse eingegangen sei. Die daraufhin erhobene Schadenersatzklage habe sie mit dem Eingangsstempel vom 6. Juli 1987 versehen. Die Rekurskommission hat sodann festgestellt, dass der fragliche Briefumschlag mit Postaufgabestempel zwar fehle, doch ergebe sich aus der bei den Akten liegenden Fotokopie aus dem Postquittungsbuch der Ausgleichskasse, dass am 2. und am 3. Juli 1987 je eine eingeschriebene Postaufgabe erfolgt sei. Da die nächste Postaufgabe erst wieder vom 8. Juli 1987 datiere, könne davon ausgegangen werden, dass die Klageschrift spätestens am Freitag, 3. Juli 1987, der Post übergeben worden sei. Dadurch sei die 30tägige Frist zur Klageerhebung gewahrt.
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Dazu wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit wesentlich, eingewendet, dass der auf der Klage angebrachte Stempel vom Montag, 6. Juli 1987, nicht geeignet sei, die Fristwahrung zu beweisen. Der Stempel trage kein Visum der entgegennehmenden Person, weshalb unüberprüfbar bleibe, ob dessen Datum identisch sei mit dem wirklichen Eingangsdatum. Zudem falle auf, dass der Beklagte während mehr als 7 Monaten über den Eingang der Klage nicht orientiert worden sei. Der Beschwerdeführer macht des weitern geltend, die Ausgleichskasse könne nicht einmal mit Sicherheit behaupten, wann die Klage zur Post gebracht worden sei. Nichts lasse erkennen, ob eine der beiden in Fotokopie aufgelegten Postquittungen vom 2. und 3. Juli 1987 die fragliche Schadenersatzklage betreffe. Der Beweis der rechtzeitigen Klageeinreichung sei daher nicht erbracht, was sich zu Lasten der Ausgleichskasse auswirke, welche die Folgen dieser Beweislosigkeit zu tragen habe.
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c) Im vorliegenden Fall ist urkundenmässig belegt, dass die Ausgleichskasse am 2. und am 3. Juli 1987 je eine für die Rekurskommission bestimmte Einschreibesendung der Post übergab. Die Rekurskommission hat ihrerseits festgestellt, dass die eingereichte Schadenersatzklage den Stempel vom 6. Juli 1987 trage, welchen sie als ihren Eingangsstempel identifizierte. Daraus hat die Vorinstanz geschlossen, dass die Ausgleichskasse ihre Klage spätestens am 3. Juli 1987 zur Post gebracht habe.
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aa) Die Verwaltung als verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - der Richter dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind (KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Auflage, S. 136). Im Sozialversicherungsrecht hat der Richter dabei seinen Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Der Richter hat vielmehr jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die er von allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigt (BGE 117 V 360 E. 4a, 115 V 142 E. 8b, je mit Hinweisen). Die Regel des Beweisgrades der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist eine sozialversicherungsrechtliche Eigenheit, die bei der Feststellung der für den materiellen Leistungsanspruch erheblichen Tatsachen und bei anderen Erscheinungen der Massenverwaltung zur Anwendung gebracht wird.
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Der Zivilrichter darf eine Tatsache ebenfalls grundsätzlich nur dann als bewiesen annehmen, wenn er von ihrem Bestehen überzeugt ist, wobei indessen diese richterliche Überzeugung, im Gegensatz zum Sozialversicherungsrichter, auf dem vollen Beweis gründet (KUMMER, N. 20 zu Art. 8 ZGB; GULDENER, Beweiswürdigung und Beweislast nach schweizerischem Zivilprozessrecht, S. 5; HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Aufl., S. 380 Nr. 635; BGE 118 II 238 E. 3c). Wo diese Überzeugung fehlt und der Sachverhalt letztlich im Zweifel bleibt, darf der Zivilrichter nicht auf blosse Wahrscheinlichkeit hin urteilen oder auf bloss glaubhaft gemachte und somit nicht bewiesene Sachbehauptungen abstellen (BGE 104 II 220 E. 2; KUMMER, N. 28 und 84 zu Art. 8 ZGB; GULDENER, a.a.O., S. 6). Entsprechendes gilt auch im strafprozessualen Bereich (Hauser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl., S. 147 f.; SCHMID, Strafprozessrecht, N. 288).
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bb) Die wiedergegebene vorinstanzliche Sachverhaltsdarstellung ist wahrscheinlich zutreffend. Wäre für die Frage der Rechtzeitigkeit der Klage der im Sozialversicherungsrecht übliche Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit massgeblich, erwiese sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde demnach als unbegründet.
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Wie bereits dargelegt, ist die Regel des Beweisgrades der überwiegenden Wahrscheinlichkeit eine sozialversicherungsrechtliche Eigenheit. Durchführungsorgane wie auch Sozialversicherungsrichter wären überfordert, wenn sie im Rahmen der Massenverwaltung die für die Leistungsverhältnisse erheblichen Tatsachen in zivil- oder strafprozessualer Weise zum vollen Beweis erstellen müssten. Dieser Regelbeweisgrad des Zivilrechts kann im Sozialversicherungsrecht im allgemeinen nicht durchgehend verwirklicht werden.
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Im vorliegenden Fall geht es indessen nicht um die Feststellung der für einen materiellen Leistungsanspruch wesentlichen Tatsachen, sondern um den Nachweis von Tatsachen über die rechtzeitige Ausübung eines fristgebundenen, verwirkungsbedrohten Rechts im Prozess. Hier den spezifisch sozialversicherungsrechtlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit anwenden zu wollen, wäre sachfremd. Die Rechtzeitigkeit eines Rechtsmittels im gerichtlichen Verfahren darf nicht nur wahrscheinlich sein, sondern die ihr zugrunde liegenden Tatsachen müssen mit Gewissheit feststehen. Davon ist auch nicht abzugehen, wenn es der angerufene Richter, in Verletzung seiner Amtspflichten oder besonderer kantonaler Verfahrensvorschriften, unterlässt, die für den Nachweis der Rechtzeitigkeit erforderlichen Vorkehren (Verurkundung von Postaufgabe und Posteingang, Aufbewahrung des Briefumschlags) zu treffen.
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cc) Das Erfordernis eines klaren, eindeutigen Beweises hat auch hinsichtlich der Klage nach Art. 81 Abs. 3 AHVV zu gelten. Dieser volle Beweis ist im vorliegenden Fall nach dem Gesagten nicht erbracht und durch weitere Abklärungsmassnahmen nicht zu leisten, und zwar aus Gründen, welche auch die Gegenpartei nicht zu vertreten hat, so dass keine von der allgemeinen Regel abweichende Beweislastverteilung vorzunehmen ist. Indem die Rekurskommission bei dieser Akten- und Beweislage darauf schloss, die Ausgleichskasse habe die Schadenersatzklage rechtzeitig eingereicht, hat sie Bundesrecht verletzt.
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