BGE 122 V 6 |
2. Urteil vom 22. Januar 1996 i.S. B. gegen IV-Stelle des Kantons St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen |
Regeste |
Art. 42 Abs. 1 IVG, Art. 109 MVG. |
Sachverhalt |
A.- Der 1948 geborene B. erlitt am 31. Mai 1980 im Militärdienst einen Unfall, bei dem er sich eine Paraplegie zuzog. Aufgrund der damit verbundenen bleibenden Behinderungen in den alltäglichen Lebensverrichtungen erhielt er von der Invalidenversicherung eine Entschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit ab 1. Mai 1981 zugesprochen (Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen vom 9. September 1981). Diese Hilflosenentschädigung wurde revisionsweise auf Ende Dezember 1982 aufgehoben (Verfügung vom 14. Dezember 1982). Nach Rücksprache mit dem Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) kam die Invalidenversicherung wiedererwägungsweise auf diese Leistungsaufhebung zurück, indem sie aufgrund einer erneuten Abklärung zur Annahme einer Hilflosigkeit leichten Grades gelangte (Verfügung vom 8. Februar 1984). Dieser Anspruch wurde im Rahmen dreier Revisionsverfahren bestätigt.
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Parallel dazu richtete das Bundesamt für Militärversicherung (BAMV) an B. als Folge von BGE 113 V 140 ungekürzte Pflegezulagen nach Art. 22 aMVG aus, eine Leistungsberechtigung, die zuletzt bis Ende August 1995 verlängert wurde (Mitteilung vom 13. August 1993).
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Am 27. September 1993 leitete die Invalidenversicherung erneut ein Revisionsverfahren zur Hilflosenentschädigung ein. Dabei gelangte sie gestützt auf die Abklärungsergebnisse der Militärversicherung zum Schluss, der Versicherte sei in denjenigen Lebensverrichtungen, die bis anhin den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades begründeten, nicht mehr in erheblichem Mass eingeschränkt oder auf fremde Hilfe angewiesen. Infolgedessen hob die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen die Hilflosenentschädigung mit Wirkung ab 1. Februar 1994 auf (Verfügung vom 30. Dezember 1993).
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B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 4. Mai 1995 ab.
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C.- B. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides weiterhin der Anspruch auf Hilflosenentschädigung zuzuerkennen.
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Die IV-Stelle St. Gallen schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: |
Mit dieser im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen (BGE 110 V 52 Erw. 4a; vgl. ferner BGE 116 V 26 Erw. 3c) zulässigen Substituierung der Begründung ist der Streitgegenstand weder ausgedehnt noch sonstwie geändert worden (vgl. dazu BGE 110 V 51 Erw. 3b am Ende). Ebensowenig liegt eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gehörsanspruchs vor, nachdem sich der Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verfahren replicando zu dieser erstmals in der Beschwerdeantwort vorgebrachten neuen Begründung äussern konnte (BGE 116 V 185 Erw. 1a mit Hinweisen).
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Somit ist im vorliegenden Verfahren nach wie vor streitig und zu prüfen, ob der Beschwerdeführer gegenüber der Invalidenversicherung nach dem 1. Februar 1994 weiterhin eine Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit beanspruchen kann. Sollte sich dabei ergeben, dass die mit dem Inkrafttreten des MVG geänderte Bestimmung von Art. 42 Abs. 1 IVG auf den vorliegenden Fall Anwendung findet und sie zur Aufhebung des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung führt, könnte die Frage nach der im Rahmen von Art. 41 IVG wesentlichen Entwicklung der anspruchsbegründenden Sachlage in der Tat dahingestellt bleiben.
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Wie eingangs angedeutet, hat das kantonale Gericht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung gefolgert, der streitige Anspruch sei auf den 1. Januar 1994 dahingefallen, weil der Beschwerdeführer tatsächlich einen Pflegebeitrag (Hilflosenentschädigung) der Militärversicherung beziehe.
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3. a) Nach der sogenannten unechten Rückwirkung wird neues Recht - gestützt auf Sachverhalte, die früher eingetreten sind und noch andauern - für die Zeit seit Inkrafttreten (ex nunc et pro futuro) angewendet. Diese Art der Rückwirkung ist bei kantonalen Erlassen und bundesrechtlichen Verordnungen grundsätzlich als zulässig zu erachten, sofern ihr nicht wohlerworbene Rechte entgegenstehen (BGE 114 V 151 Erw. 2, BGE 113 V 299, BGE 110 V 254 Erw. 3a, je mit Hinweisen auf die Rechtsprechung und Lehre; vgl. auch BGE 120 V 329 unten f. und 184 Erw. 4b, BGE 119 Ia 160 Erw. 4b, 258 Erw. 3b, BGE 119 V 206 Erw. 5c/dd, BGE 118 Ia 255 Erw. 4c, je mit Hinweisen). Sieht hingegen ein Bundesgesetz ausdrücklich oder sinngemäss die unechte Rückwirkung vor oder untersagt es eine solche, ist diese Anordnung gemäss Art. 113 Abs. 3 und 114bis Abs. 3 BV für den Richter zum vornherein verbindlich. Ob einer neuen bundesgesetzlichen Bestimmung die Bedeutung unechter Rückwirkung zukommt, muss sich aus dem Wortlaut (insbesondere der Übergangsbestimmungen), der sinngemässen Auslegung oder durch Lückenfüllung ergeben (BGE 114 V 151 Erw. 2b mit Hinweisen auf die Rechtsprechung und Lehre).
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b) Der Beschwerdeführer zieht die mit der unechten Rückwirkung einhergehende Anwendbarkeit des neuen Rechts auf die früher eingetretenen, indes fortdauernden Sachverhalte nicht in grundsätzlicher Hinsicht in Zweifel. Er meint jedoch, dass der im Zuge der Totalrevision des MVG neugefasste Art. 42 Abs. 1 erster Satz IVG der Geltung besonderer Übergangsbestimmungen unterliege, die den allgemeinen Regeln über die Rückwirkung rechtsprechungsgemäss vorgehen würden. So lasse sich dem Wortlaut von Art. 109 MVG ("Versicherungsfälle, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes noch hängig waren, werden in jenen Teilen nach dem neuen Recht beurteilt, die nicht anerkannt sind oder über die nicht verfügt wurde") durch Umkehrschluss entnehmen, dass Versicherungsfälle, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des MVG bereits anerkannt worden seien und über die bereits verfügt wurde, nach altem Recht beurteilt werden müssten. Aufgrund dieser Bestimmung falle die unechte Rückwirkung des MVG ausser Betracht, wie auch die dazu ergangene bundesrätliche Botschaft vom 27. Juni 1990 ohne weiteres bestätige (BBl 1990 III 257f.; Separatausgabe S. 57, zu Art. 108 des Gesetzesentwurfes). Das neue Gesetz gehe vielmehr von einer Besitzstandsgarantie aus, auf die er sich als Bezüger von Militärversicherungsleistungen berufen könne. Abgesehen davon habe das Eidg. Versicherungsgericht in seinem Fall rechtskräftig entschieden, dass er Hilflosenentschädigungen der Militärversicherung und der Invalidenversicherung kumulieren dürfe (BGE 113 V 148 Erw. 7c). Dieses Urteil gelte mit Blick auf die in den Übergangsbestimmungen angelegte Besitzstandsgarantie weiterhin.
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4. a) Trotz seiner sinngemäss erhobenen Einrede der abgeurteilten Sache (res iudicata) verkennt der Beschwerdeführer nicht, dass es an der hiefür erforderlichen Identität des Rechts- oder Entstehungsgrundes auch dann gebricht, wenn seit Erlass des Urteils eine Rechtsänderung eingetreten ist, die dieses als rechtswidrig erscheinen lässt (BGE 98 V 178 Erw. 2; vgl. ferner BGE 120 V 144 Erw. 2d mit Hinweisen). Insofern hängt die zeitliche Ausdehnung der Rechtskraft des in BGE 113 V 140 veröffentlichten Urteils eben davon ab, ob und inwieweit die auf Dauerleistungen gerichteten Ansprüche des Beschwerdeführers von der Geltung des neuen Rechts erfasst werden.
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Gerade der Hinweis auf den im Falle des Beschwerdeführers ergangenen BGE 113 V 140 zeigt, dass sein Standpunkt nicht verfängt. Denn das Eidg. Versicherungsgericht nahm die Kumulation von Pflegebeiträgen gemäss MVG und Hilflosenentschädigung nach IVG seinerzeit allein deshalb hin, weil es im damaligen Recht der Militärversicherung an einer Koordinationsbestimmung für diese beiden Leistungsarten fehlte (BGE 113 V 147 ff. Erw. 7a-d). Dem wollte der Gesetzgeber im Rahmen der Totalrevision des MVG mit der Schaffung von Art. 77 Abs. 5 MVG und Art. 42 Abs. 1 erster Satz IVG analog zu der schon vorher im Verhältnis zwischen den Hilflosenentschädigungen der Invaliden- und der Unfallversicherung bestehenden sowie der im Entwurf zu einem Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vorgesehenen Ordnung (vgl. Art. 73 Abs. 3 EATSG, BBl 1991 II 205) Rechnung tragen. In dieser Hinsicht lassen denn auch die Gesetzesmaterialien keine Zweifel offen. So wurde in der bundesrätlichen Botschaft - ausdrücklich unter Hinweis auf BGE 113 V 104 (recte: 140) - darauf verwiesen, dass es die unter dem alten Recht mangels Koordinationsbestimmung mögliche Kumulation von Leistungen für Hilflosigkeit und die unter Umständen hieraus folgende Überdeckung zu verhindern gelte (vgl. BBl 1990 III 252[betreffend Art. 77 Abs. 5 MVG] und 260; Separatausgabe S. 51 f. und 60). Und auch im Verlauf der weiteren Beratung sowohl der MVG-Revision als auch des Bundesbeschlusses über Leistungsverbesserungen in der AHV/IV sowie ihre Finanzierung vom 19. Juni 1992 (vgl. Art. 4 Abs. 1) blieb unbestritten, dass die bis anhin zugelassene Kumulation von Hilflosenentschädigungen der AHV oder der Invalidenversicherung mit analogen Leistungen der Militärversicherung ausgeschlossen werden soll (vgl. etwa die Dokumentation für die Sitzung der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit [SGK] vom 9. Juni 1992, in: Ordner XII, Anhang, Fasz. 6, S. 1/3 der vom BAMV im Januar 1995 herausgegebenen, nach Artikeln geordneten Dokumente aus den parlamentarischen Beratungen zur Totalrevision; vgl. ferner AHI 1994 S. 57).
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b) Was nun die hier im einzelnen zu entscheidende Frage anbelangt, ob sich der mit der revidierten Ordnung angestrebte Ausschluss der Kumulation nur auf die nach dem 1. Januar 1994 neu festzusetzenden Hilflosenentschädigungen beziehen oder ob er gleichermassen für die vorher unter der Geltung des alten MVG zugesprochenen und beim Inkrafttreten der revidierten IVG-Bestimmung laufenden Hilflosenentschädigung gelten solle, so lässt sich die vom Beschwerdeführer verfochtene Besitzstandsgarantie durch die Materialien nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil steht fest, dass der Gesetzgeber in den Art. 109 ff. MVG für bestimmte ausgewählte Leistungsberechtigungen, die aus sozialpolitischer Sicht besonders umstritten waren, die weitere Geltung des alten Rechts garantierte. Dies geschah etwa für die Invaliden-, Integritätsschadens- und Hinterlassenenrenten ebenso wie für die Steuerfreiheit der altrechtlichen Militärversicherungsrenten (Art. 112, 113, 114 und 116 MVG). Einer solchen Verankerung des Fortbestandes der alten Ordnung für Rentenansprüche, die in der Zeit nach dem 1. Januar 1994 bezogen werden, hätte es gerade nicht bedurft, wenn bereits Art. 109 MVG die Bedeutung einer allgemeinen Besitzstandsgarantie zukäme.
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Wohl ist einzuräumen, dass sich bei einer ganz und gar dem Wortlaut verpflichteten Auslegung von Art. 109 MVG sagen liesse, der Eintritt der nach MVG und IVG erheblichen Hilflosigkeit stelle je einen Versicherungsfall im Sinne von Art. 109 MVG dar, über den bei Inkrafttreten des Gesetzes schon längstens verfügt worden war. Diese rein grammatikalische Lesart von Art. 109 MVG vermag aber gegen das Ergebnis einer historischen, systematischen und zweckgerichteten Betrachtungsweise nicht aufzukommen. Insofern fällt entscheidend ins Gewicht, dass sich der beabsichtigte Ausschluss der Kumulierbarkeit von Hilflosenentschädigungen der Militärversicherung einerseits und der AHV oder Invalidenversicherung anderseits anhand der Materialien klar nachweisen lässt und es - anders als in den Fällen von Art. 112, 113, 114 und 116 MVG - an einer Bestimmung fehlt, welche die laufenden Hilflosenentschädigungen davon ausnehmen wollte. Deshalb kann auch keine Rede davon sein, der Beschwerdeführer beziehe eine Pflegezulage nach altem MVG, die im revidierten Art. 42 Abs. 1 IVG nicht erwähnt werde. Was er seit dem 1. Januar 1994 an Pflegebeiträgen seitens der Militärversicherung erhält, gründet in Art. 20 MVG und nicht in Art. 22 aMVG.
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