56. Urteil vom 28. Juli 1999 i.S. Staatssekretariat für Wirtschaft gegen L. und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung
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Regeste
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Art. 13 Abs. 1 und 2quater AVIG: Mindestbeitragszeit.
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Sachverhalt
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A.- L. bezog während einer ersten Rahmenfrist für den Leistungsbezug ab 9. Februar 1996 Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Vom 15. August 1996 bis 30. April 1997 war sie im Lehrverhältnis beim Hotel D. AG erwerbstätig. Hernach bezog sie wiederum Taggelder. Mit Verfügung vom 27. März 1998 lehnte die Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab Beginn der am 9. Februar 1998 eröffneten zweiten Rahmenfrist ab, weil L. die Mindestbeitragszeit von 12 Monaten mit 8,607 Beitragsmonaten einer beitragspflichtigen Beschäftigung nicht erfülle.
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B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung mit Entscheid vom 9. September 1998 gut und wies die Arbeitslosenkasse an, die Ansprüche auf Arbeitslosenentschädigung der Beschwerdeführerin zu erfüllen, soweit auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Ferner verpflichtete sie die Arbeitslosenkasse, dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin an seine Aufwendungen Fr. 750.-- zu leisten.
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C.- Das Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (ab 1. Juli 1999: Staatssekretariat für Wirtschaft [seco]) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides.
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L. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Die Arbeitslosenkasse beantragt die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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b) Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, d.h. nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zu Grunde liegenden Wertungen ausgelegt werden. Eine historisch orientierte Auslegung ist für sich allein nicht entscheidend. Anderseits vermag aber nur sie die Regelungsabsicht des Gesetzgebers aufzuzeigen, welche wiederum zusammen mit den zu ihrer Verfolgung getroffenen Wertentscheidungen verbindliche Richtschnur des Richters bleibt, auch wenn er das Gesetz mittels teleologischer Auslegung oder Rechtsfortbildung veränderten Umständen anpasst oder es ergänzt (BGE 123 V 301 Erw. 6a mit Hinweisen).
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Logischerweise könne nur derjenige Versicherte erneut von Stellenlosigkeit betroffen werden, der diese zuvor überwunden habe. Ansonsten war und bleibe er arbeitslos. Die fragliche Gesetzesbestimmung impliziere ganz offensichtlich, dass der Versicherte innert dreier Jahre nach Beendigung der vormals laufenden Rahmenfrist für den Leistungsbezug eine unter erhöhte Anforderungen gestellte "Probezeit/Bewährungsprobe" zu durchlaufen habe. Bewähren könne sich aber begriffsnotwendig nur derjenige, der das belastende Ereignis überwinden konnte. Hinter der Verschärfung der Beitragszeit von 6 auf 12 Monate für die zweite Rahmenfrist für den Leistungsbezug stehe die Überlegung, dass ein Versicherter, der sich in der ersten durch Erwerbsersatz oder Lohn aus Beschäftigungsprogramm mit Hilfe der angebotenen arbeitsmarktlichen Massnahmen den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes anpassen konnte, durchaus Gelegenheit haben sollte, eine Beschäftigung von mindestens 12 Monaten zu finden. Der Gesetzgeber habe bei der Formulierung von Art. 13 Abs. 1 Satz 2 AVIG bewusst darauf verzichtet, die bei Ablauf der vormaligen Rahmenfrist nach wie vor von Arbeitslosigkeit betroffenen Versicherten den erhöhten Anforderungen hinsichtlich der Beitragszeit zu unterwerfen.
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a) Die Bedeutung des Aufeinanderfolgens von Rahmenfristen liegt u.a. darin, dass ein neuer Leistungsbeginn eröffnet wird und damit einhergehend eine Neuüberprüfung aller Anspruchsvoraussetzungen stattfindet. Nicht nur muss sich der Versicherte wieder auf dem Arbeitsamt melden, worauf der Stichtag festgelegt wird, sondern die Anspruchsvoraussetzung der Beitragszeit ist wiederum zu erfüllen (NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz. 98). Dabei gilt als arbeitslos im Sinne des Gesetzes lediglich diejenige Person, die sich beim Arbeitsamt ihres Wohnorts zur Arbeitsvermittlung gemeldet hat (Art. 10 Abs. 3 AVIG), weshalb nach Ablauf der Rahmenfrist für den Leistungsbezug wiederum eine Anmeldung zum Leistungsbezug erforderlich ist (vgl. auch Art. 9 Abs. 4 AVIG: "...beansprucht der Versicherte wieder Leistungen ..."). Aus diesem Erfordernis der neuen Anmeldung für eine wiederholte Rahmenfrist ergibt sich, dass nach der gesetzlichen Konzeption auch eine Person, die nach Ablauf der ersten Rahmenfrist weiterhin arbeitslos ist, als erneut arbeitslos zu betrachten ist. Insoweit erfasst der Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 Satz 2 AVIG ("Wird ein Versicherter ...erneut arbeitslos"; "l'assuré qui se retrouve au chômage..."; "l'assicurato che, ..., ridiviene disoccupato..") auch eine ununterbrochen arbeitslose Person, die sich nach Ablauf der Rahmenfrist wiederum zum Leistungsbezug anmeldet.
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b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz liegt der Verschärfung der Mindestbeitragszeit auf 12 Monate in einer wiederholten Rahmenfrist nicht der Gedanke der Bewährung zu Grunde. Durch den Ausbau der arbeitsmarktlichen Massnahmen im Rahmen der zweiten Teilrevision des AVIG von 1995 beabsichtigte der Gesetzgeber vielmehr die rasche und dauerhafte Wiedereingliederung der arbeitslosen Personen in den Arbeitsprozess (GERHARDS, Grundriss des neuen Arbeitslosenversicherungsrechts, S. 155; NUSSBAUMER, a.a.O., Rz. 533). Er ging dabei davon aus, mit Hilfe der angebotenen arbeitsmarktlichen Massnahmen sei der Leistungsbezüger in der Lage, sich den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes anzupassen und genügend rasch wieder eine Dauerstelle zu finden (GERHARDS, a.a.O., S. 73 Rz. 11, S. 110). Gleichzeitig dehnte er die Höchstzahl der Taggelder auf 520 aus (Art. 27 AVIG). Diese Neukonzeption verband er mit einer quantitativen Verschärfung der Mindestbeitragszeit für eine Folgerahmenfrist, sofern sich eine arbeitslose Person innerhalb von drei Jahren seit Ablauf der Rahmenfrist erneut zum Leistungsbezug meldet (Art. 13 Abs. 1 Satz 2 AVIG). Damit verfolgte er das Ziel, die schnelle Rückkehr der Ausgesteuerten ins System der Arbeitslosenversicherung zu verhindern und die Leistungen der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre zu beschränken (NUSSBAUMER, a.a.O., Rz. 165 und 559). Zu diesem Zwecke legte er überdies fest, dass mit der Teilnahme an von der Arbeitslosenversicherung finanzierten Beschäftigungsprogrammen keine Beitragszeiten erworben werden können (Art. 13 Abs. 2quater AVIG). Mit beiden Massnahmen wollte er die Leistungen der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre limitieren und für die anschliessende Zeitspanne Kantone und Gemeinden (Arbeitslosen- und Sozialhilfe) in Pflicht nehmen (Amtl.Bull. 1995 N 1118 [Berichterstatter David] und 1995 S 622 [Berichterstatterin Beerli]; vgl. dazu auch NUSSBAUMER, a.a.O., Rz. 165 und 559). Nach der Absicht des Gesetzgebers sollten mithin gerade bei Langzeitarbeitslosen die Leistungen auf zwei Jahre begrenzt sein und der Kreislauf eines in der neuen Rahmenfrist fortdauernden Leistungsbezugs unterbrochen werden (vgl. dazu die Voten im Parlament, die in diesem Zusammenhang von "circulus vitiosus", "cercle diabolique" und "perpetuum mobile" sprachen, Amtl.Bull. 1994 N 1567 f. [Berichterstatter David und Couchepin, Bundesrat Delamuraz], Amtl.Bull. 1995 S 94 [Berichterstatterin Beerli]). Namentlich wurden auch Anträge, dass Personen über 55 Jahre in der zweiten Rahmenfrist wenigstens 85 Taggelder mit der Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen erwerben können, von beiden Kammern abgelehnt (Amtl.Bull. 1994 N 1569, 1995 N 1120, 1995 S 94 [zuerst Zustimmung] und 623). Die Beschränkung des Versicherungsschutzes auf zwei Jahre kommt schliesslich auch im Leistungsausschluss des Art. 60 Abs. 4 letzter Satz AVIG zum Ausdruck, wonach Personen, die ihren Anspruch auf normale und besondere Taggelder (Art. 7 Abs. 2 lit. a und b AVIG) ausgeschöpft haben, nicht einmal mehr Leistungen für Kursbesuche nach Art. 61 Abs. 3 AVIG beanspruchen können.
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Dieser mit der Verschärfung der Mindestbeitragszeit und der Neukonzeption der arbeitsmarktlichen Massnahmen verbundenen gesetzgeberischen Absicht läuft die Auffassung der Vorinstanz diametral zuwider. In erster Linie hatte der Gesetzgeber mit der verschärften Mindestbeitragszeit diejenigen Versicherten im Auge, die im Zeitpunkt des Ablaufs der Rahmenfrist trotz arbeitsmarktlichen Massnahmen immer noch arbeitslos waren und in diesem Zeitpunkt in keinem Arbeitsverhältnis standen. Es ist denn auch kein Grund ersichtlich, inwiefern diese Versicherten anders behandelt werden sollten als frühere Leistungsbezüger, die wieder eine Stelle gefunden hatten und bei Ablauf der Rahmenfrist eine unselbstständige Erwerbstätigkeit ausübten, später aber wieder arbeitslos wurden.
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c) Aus dem Gesagten folgt, dass die Beschwerdegegnerin nur dann Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hätte, wenn sie zu Beginn der zweiten Rahmenfrist am 9. Februar 1998 sich über eine beitragspflichtige Beschäftigung von mindestens einem Jahr in der Rahmenfrist für die Beitragszeit vom 9. Februar 1996 bis 8. Februar 1998 ausweisen könnte, was unbestrittenermassen nicht der Fall ist. Sollte sie im offenbar derzeit laufenden arbeitsgerichtlichen Prozess gegen die frühere Arbeitgeberin und Lehrmeisterin noch zusätzliche Lohnforderungen durchsetzen können, die zu insgesamt einer Beitragszeit von mindestens einem Jahr führen, so steht es ihr frei, sich mit einem Revisionsgesuch an die zuständige Instanz zu wenden. Entgegen ihrer Auffassung liegt in der auf den 1. Januar 1998 in Kraft gesetzten Verschärfung der Mindestbeitragsdauer schon deswegen keine unzulässige Rückwirkung (vgl. auch BGE 112 V 220), weil sie erst verzögert auf einen Zeitpunkt nach dem allgemeinen Inkrafttreten der zweiten Teilrevision des AVIG auf den 1. Januar 1996/1. Januar 1997 erfolgt ist.
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