BGE 126 V 70 - IV-Stelle Schwyz
 
14. Auszug aus dem Urteil
vom 22. Mai 2000 i. S. IV-Stelle Schwyz gegen I. und Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz
 
Regeste
Art. 21 Abs. 2 und Art. 21bis Abs. 1 IVG; Art. 2 Abs. 1 HVI; Ziff. 10.05 HVI Anhang (in der seit 1. Januar 1997 geltenden Fassung); Art. 8 Abs. 1 und 2, Art. 11 Abs. 1, Art. 35 Abs. 1 und 2, Art. 36 Abs. 1 bis 3 BV: Invaliditätsbedingte Abänderung von Motorfahrzeugen. Die Beschränkung des Anspruchs auf invaliditätsbedingte Abänderungen an Motorfahrzeugen auf volljährige Versicherte widerspricht Gesetz und Verfassung.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
Die durch das Eidg. Departement des Innern (EDI) gestützt auf Art. 21 Abs. 4 IVG und Art. 14 IVV erlassene Liste der Hilfsmittel ist im Anhang zur HVI enthalten. Nach dessen Ziff. 10.05 in der seit 1. Januar 1997 geltenden Fassung übernimmt die Invalidenversicherung invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen, sofern die versicherte Person volljährig ist.
 
Erwägung 4
a) Nach der Rechtsprechung kann das Eidg. Versicherungsgericht Verordnungen des Bundesrates oder im Rahmen zulässiger Subdelegation des Departementes grundsätzlich, von hier nicht in Betracht fallenden Ausnahmen abgesehen, auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen. Bei unselbstständigen Verordnungen geht es in erster Linie darum zu beurteilen, ob sie sich im Rahmen der Delegationsnorm halten. Besteht ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene, muss sich das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die umstrittenen Vorschriften offensichtlich aus dem Rahmen der im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen oder aus andern Gründen gesetz- oder verfassungswidrig sind. Es kann jedoch sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates oder Departementes setzen, und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen (BGE 125 V 30 Erw. 6a, 124 II 245 Erw. 3, je mit Hinweisen).
In intertemporalrechtlicher Hinsicht rechtfertigt es sich mit Blick auf die Rechtsnatur der Überprüfung unselbstständigen Verordnungsrechts als Form der verfassungsrechtlichen Normenkontrolle, die am 1. Januar 2000 in Kraft getretene neue Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 im Rahmen anhängiger Verfahren selbst dann anzuwenden, wenn der angefochtene Entscheid, wie im vorliegenden Fall, vor diesem Zeitpunkt ergangen ist (BGE 126 V 53 Erw. 3b).
b) aa) Art. 21 Abs. 2 (und 1) IVG räumt dem Bundesrat bzw. auf Grund von Art. 14 IVV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 4 IVG dem Departement für den Erlass der Hilfsmittelliste einen weiten Spielraum der Gestaltungsfreiheit ein. Dieses kann bestimmen, "welche Arten von Vorrichtungen und Apparaten unter den Begriff Hilfsmittel (...) fallen" (Botschaft zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [...], BBl 1958 II 1137 ff., 1186). Das Departement kann im Rahmen des Willkürverbotes eine Auswahl treffen und die Zahl der Hilfsmittel beschränken (BGE 113 V 270 Erw. 3b, 105 V 27 f. Erw. 3b; ZAK 1988 S. 181 Erw. 2a). In die Hilfsmittelliste aufzunehmen sind kraft positiver gesetzlicher Anordnung einzig Zahnprothesen, Brillen und Schuheinlagen (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 IVG). Steht es dem Verordnungsgeber somit grundsätzlich frei, ob er einen Gegenstand, welchem Hilfsmittelcharakter zukommt (vgl. dazu BGE 115 V 194 Erw. 2c sowie BBl 1958 II 1185), in die im Anhang zur HVI enthaltene Liste aufnehmen will, kann er umso mehr im Rahmen des Gesetzes die Abgabe eines Hilfsmittels an weitere Bedingungen und Auflagen knüpfen (BGE 124 V 9 f. Erw. 5b/aa).
bb) Trotz der fraglos weit gehenden Befugnisse des Departementes stellt das Alter als solches kein zulässiges Kriterium dar, um den Anspruch auf Abgabe eines (einmal) in die Hilfsmittelliste aufgenommenen Gegenstandes oder Gerätes (oder auf entsprechende Ersatzleistungen im Sinne von Art. 21bis IVG) zu beschränken. Einerseits wird das Alter in Art. 21 IVG nicht erwähnt, insbesondere wird weder in Abs. 1 noch in Abs. 2 dieser Bestimmung nach diesem Gesichtspunkt differenziert, dies im Unterschied zum (erwerblichen oder nicht erwerblichen) Eingliederungsziel. Anderseits lässt Art. 10 Abs. 1 IVG allgemein und in Konkretisierung von Art. 4 Abs. 2 IVG, wonach die Invalidität als eingetreten gilt, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat, den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen entstehen, sobald solche im Hinblick auf Alter und Gesundheitszustand des Versicherten angezeigt sind. Darin kommt zum Ausdruck, dass das Alter zwar für die Entstehung des Anspruchs von Bedeutung ist, indessen lediglich im Sinne einer gleichsam variablen Grösse zur Bestimmung des Eintritts der allgemeinen invaliditätsmässigen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und der besonderen auf die jeweilige in Frage stehende Vorkehr bezogenen Voraussetzungen nach Massgabe der Umstände des konkreten Falles (BBl 1958 II 1169 f. und 1255 f.; MEYER-BLASER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], in: MURER/STAUFFER [Hrsg.]. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997, S. 67 f.). Umgekehrt ergibt sich aus der dargelegten gesetzlichen Ordnung, dass das Alter als solches, abgesehen von den im Gesetz selber geregelten Fällen (vgl. u.a. Art. 13 Abs. 1 IVG [medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen], Art. 19 Abs. 1 IVG [Sonderschulung], Art. 20 Abs. 1 IVG [Pflegebeitrag für die Betreuung hilfloser Minderjähriger]), keine Bedingung für den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen darstellt. Ein Blick in die im Anhang zur HVI enthaltene Liste zeigt im Übrigen denn auch, dass mit Ausnahme der hier zur Diskussion stehenden Ziff. 10.05 bei keinem Hilfsmittel nach diesem Aspekt differenziert wird. Das in dieser Verordnungsbestimmung enthaltene, ungeachtet der Umstände des Einzelfalles, insbesondere des Gesundheitszustandes und der daraus sich ergebenden invaliditätsbedingten Notwendigkeit der Abänderung eines Motorfahrzeuges für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge geltende Anspruchserfordernis der Volljährigkeit steht im Widerspruch zur klaren gesetzlichen Ordnung, welche einen rein altersabhängigen Leistungsausschluss verbietet.
aa) Nach Art. 8 BV sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich (Abs. 1). Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen (...) des Alters, (...) oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung (Abs. 2). Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung (Art. 11 Abs. 1 BV). Als Grundrechte (vgl. Überschrift zum ersten Kapitel des zweiten Titels) müssen die aufgezählten Garantien in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen, und wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist daran gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen (vgl. Art. 35 Abs. 1 und 2 BV). Einschränkungen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, müssen durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein (vgl. Art. 36 Abs. 1-3 BV).
bb) Die Entstehungsgeschichte von Art. 8 Abs. 2 BV zeigt, dass in der bundesrätlichen Botschaft vom 20. November 1996 (BBl 1997 I 1 ff.) das Alter noch nicht explizit als verfassungsrechtlich unzulässiges Unterscheidungsmerkmal genannt wurde (BBl 1997 I 142 f. und 590). Erst das Parlament nahm nach ausführlicher Diskussion das Alter in den Nichtdiskriminierungskatalog auf (Amtl.Bull. 1998 [Separatdruck] S 33 ff. und 155, N 152 ff.), wobei ausdrücklich neben den Betagten die Kinder und Jugendlichen als diskriminierungsgefährdete Gruppe genannt wurden (vgl. Amtl.Bull. 1998 [Separatdruck] S 34, N 155 und 168). Im Weitern wurde auch Art. 11 BV erst im Rahmen der parlamentarischen Beratung geschaffen (BBl 1997 I 591 sowie Amtl.Bull. 1998 [Separatdruck] N 191 ff., 417 ff. und 467 ff., S 156 f., 206 ff. und 225 ff.).
Die Bedeutung der spezifischen Diskriminierungsverbote liegt darin, "dass ungleiche Behandlungen einer besonders qualifizierten Begründungspflicht unterstehen. Sie dürfen nicht einfach an das Unterscheidungsmerkmal anknüpfen, an die Eigenschaft, welche die diskriminierte Gruppe definiert" (Amtl.Bull. 1998 [Separatdruck] S 37 [Votum Rhinow, Berichterstatter]; zur Bedeutung der Materialien für die Auslegung der neuen Bundesverfassung vgl. PIERRE TSCHANNEN, Die Auslegung der neuen Bundesverfassung, in: ULRICH ZIMMERLI [Hrsg.], Die neue Bundesverfassung, Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft, Berner Tage für die juristische Praxis [BTJP] 1999, Bern 2000, S. 223 ff., insbes. S. 246 ff.).
cc) Der Ausschluss der Minderjährigen vom Hilfsmittelanspruch gemäss Ziff. 10.05 HVI Anhang einzig auf Grund des Alters fällt in den Schutzbereich sowohl des Rechtsgleichheitsgebotes als auch des Verbotes altersbedingter Diskriminierungen Behinderter (AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, Les droits fondamentaux, Bern 2000, S. 509 Rz. 1043; vgl. auch JÖRG PAUL MÜLLER, Die Diskriminierungsverbote nach Art. 8 Abs. 2 der neuen Bundesverfassung, in: BTJP 1999 S. 119 f.). Diese qualifizierte Ungleichbehandlung lässt sich im Lichte von Art. 8 Abs. 1 und 2 BV weder durch die für die invalidenversicherungsrechtliche Hilfsmittelversorgung im Allgemeinen (Gesundheitsschaden, invaliditätsbedingte Notwendigkeit, Eingliederungsziel) noch durch die auf Grund von Art. 21 Abs. 2 IVG und Art. 2 Abs. 1 HVI im Rahmen von Ziff. 10.05 HVI Anhang im Besonderen (Gehunfähigkeit, Transportbedürftigkeit) massgebenden Wertungsgesichtspunkte rechtfertigen. Auf Grund dieser im Gesetz selber festgelegten Umstände kann auch der mit der Einfügung des Anspruchserfordernisses der Volljährigkeit offenbar verfolgte Zweck der Begrenzung der Hilfsmittelkosten nicht genügen, und zwar weder als Motiv für die qualifizierte Begründungspflicht noch um ein öffentliches Interesse im Sinne von Art. 36 Abs. 2 BV darzutun für eine nach dem Alter differenzierende Regelung, dies umso weniger, als die Anspruchsberechtigung unabhängig von der Möglichkeit einer Eingliederung ins Erwerbsleben besteht (Art. 8 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 2 IVG). Im Lichte der vorstehenden Ausführungen ist das in Ziff. 10.05 HVI Anhang enthaltene Erfordernis der Volljährigkeit mit dem in Art. 35 Abs. 1 BV verankerten Gebot zur Verwirklichung der Grundrechte (zu deren konstitutiven Funktion vgl. BIAGGINI, Verfassungsreform in der Schweiz, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 1999 S. 464) nicht vereinbar, weshalb es mit dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung am 1. Januar 2000 keinen Bestand mehr haben kann.