BGE 130 V 1 |
1. Urteil i.S. Ausgleichskasse SPIDA gegen M. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern |
H 69/03 vom 23. Oktober 2003 |
Regeste |
Art. 52 AHVG; Art. 81 AHVV (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung); Art. 52 Abs. 1 und 2, Art. 56, Art. 57 und Art. 60 ATSG: Intertemporales Recht. |
Sachverhalt |
A. Mit Verfügung vom 29. November 2002 forderte die Ausgleichskasse SPIDA von M. als ehemaligem Verwaltungsratspräsidenten der konkursiten B. AG Schadenersatz in der Höhe von Fr. 6'508.95 (einschliesslich Verwaltungskosten, Verzugszinsen und Gebühren) für nicht abgerechnete bundesrechtliche Sozialversicherungsbeiträge. Dagegen legte der Belangte am 30. Dezember 2002 Einsprache ein.
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B. Am 13. Januar 2003 nahm die Ausgleichskasse in einem als Einspracheentscheid bezeichneten, aber nicht mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Schreiben an den Rechtsvertreter des M. zu den Einwänden Stellung, die jedoch keinen Anlass gäben, die Einsprache gutzuheissen und davon abzusehen, die Schadenersatzansprüche geltend zu machen. Auf die Einsprache werde nicht eingetreten und die Kasse sei gehalten, innert Frist gerichtlich Klage einzureichen. Am 22. Januar 2003 erhob die Ausgleichskasse beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern gegen M. Klage auf Bezahlung von Schadenersatz im verfügten Betrag. Das Verwaltungsgericht trat mit Entscheid vom 28. Januar 2003 auf die Klage nicht ein und wies die Sache zum Erlass eines Einspracheentscheides an die Ausgleichskasse zurück. Zur Begründung führte es aus, dass nach dem In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts am 1. Januar 2003 kein Raum für das Klageverfahren zur Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen mehr bestehe. Vielmehr habe die Ausgleichskasse auf Einsprache hin einen Einspracheentscheid zu erlassen, gegen welchen beim kantonalen Gericht Beschwerde erhoben werden könne.
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C. Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und die Sache sei zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während M. und das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichten.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: |
1. Nach den bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Bestimmungen bestand bezüglich des Verfahrens zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegenüber einem Arbeitgeber folgende Regelung: Gemäss Art. 52 AHVG hat ein Arbeitgeber, der durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden verschuldet, diesen der Ausgleichskasse zu ersetzen. Der Schadenersatz wird von der Ausgleichskasse verfügt (Art. 81 Abs. 1 AHVV). Gegen die Schadenersatzverfügung kann der Arbeitgeber innert 30 Tagen seit ihrer Zustellung bei der Ausgleichskasse Einspruch erheben (Art. 81 Abs. 2 AHVV). Besteht die Ausgleichskasse auf der Schadenersatzforderung, so hat sie bei Verwirkungsfolge innert 30 Tagen seit Kenntnis des Einspruches bei der Rekursbehörde des Kantons, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat, schriftlich Klage zu erheben (Art. 81 Abs. 3 Satz 1 AHVV).
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Erwägung 3 |
3.1 Gemäss Art. 82 Abs. 1 Satz 1 ATSG sind dessen materielle Bestimmungen auf die beim In-Kraft-Treten laufenden Leistungen und festgesetzten Forderungen nicht anwendbar. Wie es sich - vom kantonalen Verfahrensrecht abgesehen - mit der intertemporalrechtlichen Anwendbarkeit der formellen Vorschriften verhält, lässt sich dem ATSG nicht entnehmen. Es fehlt eine ausdrückliche Übergangsordnung zum anwendbaren Recht für den Fall, dass die Schadenersatzverfügung noch unter dem alten Recht erging und hiegegen bis Ende 2002 oder nach In-Kraft-Treten des ATSG Einspruch erhoben worden ist. Es stellt sich die Frage, ob die Ausgleichskassen in solchen Fällen weiterhin befugt sind, den Schadenersatzanspruch klageweise geltend zu machen oder ob sie einen Einspracheentscheid zu erlassen haben, der dem Betroffenen das Anfechtungsobjekt verschafft, um den Beschwerdeweg an das kantonale und allenfalls das Eidgenössische Versicherungsgericht beschreiten zu können.
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Erwägung 3.3 |
3.3.1 Es fragt sich vorab, ob der intertemporalrechtliche Grundsatz der sofortigen Anwendbarkeit der neuen Verfahrensbestimmungen zum Schadenersatzprozess nach Art. 52 AHVG insofern eine Ausnahme im Sinne von BGE 112 V 360 Erw. 4a erleidet, als hinsichtlich des verfahrensrechtlichen Systems zwischen altem und neuem Recht keine Kontinuität besteht und mit dem neuen Recht eine grundlegend neue Verfahrensordnung geschaffen worden ist. Die Rechtsprechung hat dies bejaht bei der fundamental neuen Zuständigkeits- und Verfahrensordnung, welche das BVG gebracht hat (BGE 112 V 356). Diese Voraussetzungen hat das Eidgenössische Versicherungsgericht auch als erfüllt betrachtet bei der durch das KVG mit In-Kraft-Treten am 1. Januar 1996 eingeführten grundlegend neuen Zuständigkeits- und Verfahrensordnung mit dem Splitting des anwendbaren Verfahrensrechts und der Rechtswege für den Bereich der obligatorischen Krankenversicherung einerseits und denjenigen der Zusatzversicherungen anderseits (RKUV 1998 Nr. KV 37 S. 315). Verneint hat das Gericht eine solche Ausnahmesituation trotz Totalrevision nach In-Kraft-Treten des revidierten MVG vom 19. Juni 1992; die sofortige Anwendung des neuen Rechts sei zweckmässig und geboten, es sei keine grundlegend neue Verfahrensordnung geschaffen worden, mithin bestehe zwischen altem und neuem Recht eine Kontinuität des verfahrensrechtlichen Systems (SVR 1995 MV Nr. 4 S. 12 Erw. 2b). Eine solche Kontinuität wurde auch bei der Ablösung des zweiten Titels des KUVG durch das UVG bejaht; diese Gesetzesrevision habe prozessual nur punktuelle Änderungen gebracht (BGE 111 V 46 Erw. 4).
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3.3.2 Altrechtlich wurde das Schadenersatzverfahren mit einer Verfügung ausgelöst, deren Rechtmässigkeit mit Einspruch bestritten werden konnte, worauf die Ausgleichskasse den Klageweg zu beschreiten hatte. Neurechtlich ist der Schadenersatz ebenfalls durch Verfügung geltend zu machen, der Einspruch wird durch die Einsprache ersetzt und die Klage durch die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid. Diese Neuerungen rühren zwar an das (zivilprozessuale) Fundament des bisherigen Verfahrens mit einem Wechsel der Parteirollen, indem nunmehr der von der Verwaltung Belangte beschwerdeweise an das kantonale Gericht gelangen muss, wenn er die Schadenersatzforderung bestreiten will. Neue Zuständigkeiten werden jedoch nicht geschaffen. Die Änderungen sind alles in allem besehen nicht so tief greifend wie bei anderen gesetzlichen Erlassen, wo das Eidgenössische Versicherungsgericht die Weitergeltung alten Rechts als geboten erachtet hat. Nach Ablösung der Schadenersatzklage durch die Einführung des Einsprache- und Beschwerdeverfahrens ist nun aber - anders als in den übrigen, vom ATSG erfassten Rechtsgebieten - nicht an den Erlass bzw. den Versand der Schadenersatzverfügung, sondern an die Klageerhebung nach Einspruch anzuknüpfen. Zu einer Bezugnahme auf einen anderen Zeitpunkt besteht nach dem Wegfall der Klagemöglichkeit und angesichts der auch unter neuem Recht sinngemäss passenden, nach altem Recht mit Rechtsmittelbelehrung eröffneten 30-tägigen "Einspruchsfrist" keine Veranlassung. Es lässt sich beim Vergleich des alt- und neurechtlichen Verfahrens trotz Eliminierung des aus der ursprünglichen Verwaltungsrechtspflege stammenden Elements Klage namentlich nicht sagen, es bestehe überhaupt keine Verzahnung zwischen altem und neuem Verfahrensrecht und in diesem Sinne keine Kontinuität des verfahrensrechtlichen Systems. Das ATSG hat nur koordinierende und harmonisierende Funktion, womit genügend Verbindungen zum bisherigen Recht bestehen, um eine gewisse Kontinuität zu bejahen. Die Vernetzung des ATSG als Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts mit der bisherigen Rechtsordnung ist derart eng, dass bei grundsätzlicher Betrachtungsweise mehr für die sofortige und umfassende Anwendbarkeit des neuen Sozialversicherungs- und Beschwerdeverfahrens des ATSG spricht, das die Klage für die Geltendmachung von Schadenersatzforderungen nach Art. 52 AHVG ausschliesst. Dies bedeutet, dass sich das Verfahren bei einer Klage, die noch im Jahre 2002 eingereicht wurde, nach altem Recht richtet; andernfalls ist das ATSG anwendbar.
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Erwägung 3.4 |
3.4.2 Ebenso wenig kann hiegegen der Umstand ins Feld geführt werden, dass die Gesetze im prozessualen intertemporalen Kollisionsrecht in der Regel an den Zeitpunkt der Eröffnung der anfechtbaren Verfügungen und Entscheide anknüpfen, um allfällige Änderungen der Rechtsmittelfristen während laufender Frist zu vermeiden. Findet die Eröffnung vor dem In-Kraft-Treten des neuen Prozessrechts statt, so ist das alte, im andern Fall das neue Recht anwendbar (ALFRED KÖLZ, Intertemporales Verwaltungsrecht, in: ZSR 1983, 2. Halbbd., S. 223). Im vorliegenden Fall war die altrechtlich ergangene Schadenersatzverfügung nicht mit einem Rechtsmittel anfechtbar, weil der Klageweg vorgeschrieben war.
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Erwägung 3.6 |
Ebenso wenig kann dem Einwand der Ausgleichskasse, sie sei zur Vermeidung der Verwirkungsfolge gezwungen gewesen, Klage einzureichen, gefolgt werden. Mit dem Erlass eines Einspracheentscheides nach dem 1. Januar 2003 konnte die Kasse keinen Rechtsverlust erleiden. Mit der sofortigen, stufengerechten Anwendung der neuen formellrechtlichen Bestimmungen ist die Durchsetzbarkeit der Schadenersatzforderungen der Ausgleichskasse gewährleistet. Weder die Kasse noch der als Schadenersatzpflichtiger Belangte werden in ihren Rechten beschnitten.
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