BGE 130 V 64
 
10. Urteil i.S. D. gegen IV-Stelle Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
 
I 249/01 vom 16. Oktober 2003
 
Regeste
Art. 87 Abs. 3 (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) und 4 IVV: Neuanmeldung nach vorangegangener Leistungsverweigerung.
 
Sachverhalt
A. D., geb. 1956, meldete sich am 5. April 1995 unter Hinweis auf seit 24. Februar 1994 bestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen (u.a. Schmerzen an Rücken, Kopf und Bein) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in beruflicher und medizinischer Hinsicht, worunter Berichte des Hausarztes Dr. med. R. (vom 27. Juni 1995 und 15. Januar 1998), des Psychiatriezentrums X. (vom 24. Juli 1995) sowie eine ambulante neurologisch-neurochirurgische Untersuchung im Spital Y. (vom 19. November 1997), verneinte die IV-Stelle Bern am 18. Mai 1998 verfügungsweise den Anspruch auf eine Invalidenrente mangels rentenbegründender Invalidität. In gleicher Weise verfuhr die Verwaltung hinsichtlich des Anspruchs auf berufliche Eingliederungsmassnahmen, nachdem sie vom Fürsorgeamt der Stadt Biel darauf hingewiesen worden war, dass darüber noch zu befinden sei (Verfügung vom 30. Dezember 1998). Beide Verfügungen erwuchsen unangefochten in Rechtskraft.
Am 24. August 1999 meldete sich D., nunmehr anwaltlich vertreten, erneut zum Leistungsbezug an. Er wies darauf hin, ärztliche Zeugnisse würden folgen. Sein Rechtsvertreter reichte mit Eingabe vom 31. Mai 2000 ein Zeugnis des Dr. med. R. vom 3. November 1999 ein; weiter kündigte er an, der Hausarzt werde eine stationäre Untersuchung im Spital Y. anordnen. Diese werde u.a. klären, ob seit der Verfügung vom 18. Mai 1998 eine Chronifizierung des Leidens eingetreten sei. Nach dem Vorbescheid (vom 19. Juli 2000) verfügte die IV-Stelle am 22. August 2000, auf das Leistungsbegehren werde nicht eingetreten. Auf Grund der eingereichten Unterlagen hätten sich keine neuen Tatsachen ergeben.
B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde, der ein Kurzaustrittsbericht (vom 18. September 2000) des Spitals Y. betreffend die Hospitalisierung vom 14. August bis 15. September 2000 beilag, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid vom 13. März 2001).
C. D. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das Rechtsbegehren stellen, "die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und es seien die gesetzlichen Leistungen in Form einer MEDAS-Begutachtung zu erbringen"; ferner beantragt er die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung. Mit Eingabe vom 4. Februar 2003 reicht er den ausführlichen Bericht der Ärzte des Spitals Y. (vom 27. September 2000) über die stationäre Untersuchung vom 14. August bis 15. September 2000 zu den Akten.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. (Keine Anwendbarkeit des auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG] vom 6. Oktober 2000 [vgl. BGE 129 V 4 Erw. 1.2])
2. Das kantonale Gericht hat die Prüfungspflichten der Verwaltung und des Gerichts hinsichtlich des Eintretens auf ein erneutes Rentengesuch nach vorausgegangener rechtskräftiger Ablehnung (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV; BGE 117 V 200 Erw. 4b, BGE 109 V 264 Erw. 3, BGE 109 V 114 Erw. 2b) zutreffend dargelegt. Diese Regeln gelten analog, auch darin ist der Vorinstanz beizupflichten, wenn Eingliederungsleistungen strittig sind (BGE 109 V 122 Erw. 3a). In zeitlicher Hinsicht sind - hier wie dort - die Verhältnisse bei Erlass der strittigen Verwaltungsverfügung mit denjenigen im Zeitpunkt der letzten materiellen Abweisung zu vergleichen. Die entsprechenden, in BGE 109 V 265 Erw. 4a zur Rentenrevision umschriebenen Grundsätze gelten sinngemäss auch bei einer Neuanmeldung (vgl. AHI 1999 S. 84 Erw. 1).
5. Wesentlich bei dieser Aktenlage ist, ob, wie das kantonale Gericht befand, nach Erlass der strittigen Verwaltungsverfügung eingereichte medizinische Unterlagen, im hier zu beurteilenden Fall der Bericht des Spitals Y. (vom 18. September 2000), nach Massgabe von Art. 87 Abs. 3 IVV von vornherein unbeachtlich sind. Nach der Rechtsauffassung des kantonalen Gerichts sind nachträglich eingereichte Unterlagen eintretensrechtlich nicht massgeblich. Dabei spiele es keine Rolle, ob die im kantonalen Prozess aufgelegten Arztberichte allenfalls Rückschlüsse hinsichtlich des neuanmeldungsrechtlich relevanten Zeitraums zuliessen.
Im nicht veröffentlichen Urteil R. vom 31. Juli 1989, I 99/89, liess das Gericht die identische (vom Versicherungsgericht des Kantons Bern aufgeworfene) Rechtsfrage offen. Es erwog, mit den im Revisionsgesuch aufgelegten Arztberichten sei eine für den Rentenanspruch erhebliche Verschlimmerung glaubhaft gemacht. Im Urteil L. vom 5. März 2002, I 775/01, stellte das Gericht auf einen Arztbericht ab, der zwar erst letztinstanzlich, aber in prozessual zulässiger Weise (Art. 132 lit. b OG) eingereicht worden war. Im Urteil K. vom 7. August 2001, I 471/00, wurden im Prozess vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neu vorgebrachte medizinische Urkunden eingehend gewürdigt. Nebst dem materiellen Gehalt der Berichte war dabei zentral, ob diese Rückschlüsse auf die im Zeitpunkt der strittigen Verwaltungsverfügung bestehenden Verhältnisse erlauben würden (Erw. 2). Im Urteil T. vom 24. April 2002, I 473/01, schliesslich hat das Gericht gestützt auf einen nach dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens datierenden Arztbericht eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes bejaht.
5.2.1 Vorab zu nennen ist im Rahmen der Auslegung der Wortlaut von Art. 87 Abs. 3 IVV. Nach der deutschen Fassung ist im "Gesuch um Revision" eine für den Anspruch erhebliche Änderung glaubhaft zu machen (französisch: "celle-ci" [gemeint ist das Revisionsgesuch] doit établir; italienisch: "nella domanda si deve dimostrare").
5.2.4 In systematischer Hinsicht ist auf das Urteil B. vom 25. Oktober 2001, I 214/01, hinzuweisen. Verweigert die versicherte Person ungerechtfertigterweise eine erforderliche und zumutbare Begutachtung und verfügt die Verwaltung zu Recht gestützt auf Art. 73 IVV auf Grund der Akten, hat die (kantonale) Rechtsmittelinstanz demnach nur zu überprüfen, ob die angefochtene Verwaltungsverfügung auf Grund der vorhandenen (unvollständigen) Akten korrekt war (Erw. 3b mit Hinweisen). Sobald die versicherte Person ihrer Mitwirkungspflicht nachkommt und sich der notwendigen Untersuchung unterzieht, wird die IV-Stelle eine neue Verfügung erlassen. Dies unter der Voraussetzung, dass das Ergebnis der Begutachtung zusammen mit den bereits vorhandenen medizinischen Unterlagen Anlass zu einer revisionsweisen Abänderung der Invalidenrente bietet (nicht veröffentlichtes Urteil F. vom 11. Januar 1999, I 483/97, mit Hinweisen auf u.a. BGE 111 V 222 Erw. 1). Diese rechtliche Ordnung legt nahe, im Rahmen von Art. 87 Abs. 3 IVV in analoger Weise zu verfahren.
5.2.5 Daraus ergibt sich, dass die normunmittelbaren Auslegungselemente allesamt darauf schliessen lassen, dass die versicherte Person mit dem Revisionsgesuch oder der Neuanmeldung die massgebliche Tatsachenänderung glaubhaft machen muss. Der Untersuchungsgrundsatz, wonach das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen hat (BGE 125 V 195 Erw. 2, BGE 122 V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen), spielt insoweit nicht. Wird im Revisionsgesuch oder in der Neuanmeldung kein Eintretenstatbestand glaubhaft gemacht, sondern bloss auf ergänzende Beweismittel, insbesondere Arztberichte, hingewiesen, die noch beigebracht würden oder von der Verwaltung beizuziehen seien, ist der versicherten Person eine angemessene Frist zur Einreichung der Beweismittel anzusetzen. Diese Massnahme setzt voraus, dass die ergänzenden Beweisvorkehren geeignet sind, den entsprechenden Beweis zu erbringen. Sie ist mit der Androhung zu verbinden, dass ansonsten gegebenenfalls auf Nichteintreten zu erkennen sei. Die analoge Anwendung der Grundsätze von Art. 73 IVV auf das Verfahren nach Art. 87 Abs. 3 IVV rechtfertigt sich sowohl unter dem Aspekt von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV; Urteil B. vom 13. Juli 2000, H 290/98) als auch deshalb, weil es sozialversicherungsrechtlich atypisch ist, dass die versicherte Person für das Vorliegen eines Eintretenstatbestandes beweisführungsbelastet ist (anders z.B. im Bereich der Kontoberichtigung, vgl. BGE 117 V 265 Erw. 3d). Ergeht eine Nichteintretensverfügung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, das den eben umschriebenen Erfordernissen betreffend Fristansetzung und Androhung der Säumnisfolgen genügt, legen die Gerichte ihrer beschwerdeweisen Überprüfung den Sachverhalt zu Grunde, wie er sich der Verwaltung bot. Daran vermag für den letztinstanzlichen Prozess auch Art. 132 lit. b OG nichts zu ändern.
 
Erwägung 6
6.1 Die Neuanmeldung, worin angezeigt wird, ärztliche Zeugnisse würden folgen, wurde am 24. August 1999 erstattet. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers kündigte der Verwaltung in seiner Eingabe vom 31. Mai 2000 in der Folge u.a. an, der Hausarzt werde eine stationäre Untersuchung im Spital Y. anordnen. Diese werde insbesondere klären, ob seit der Verfügung vom 18. Mai 1998 eine Chronifizierung des Leidens eingetreten sei. Bei dieser Sachlage wäre die Verwaltung nach dem in Erw. 5.2.5 Gesagten gehalten gewesen, unter Androhung der Säumnisfolgen, eine angemessene Frist zur Einreichung des in Aussicht gestellten Berichts anzusetzen. Von der Ansetzung einer angemessenen Frist und der Darlegung der Säumnisfolgen entlastete die Verwaltung auch der aktenkundige Umstand nicht, dass das Neuanmeldungsverfahren bedingt durch das Verhalten des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers schleppend verlief.
6.2 Nach dem Gesagten ist der Kurzaustrittsbericht vom 18. September 2000 des Spitals Y. betreffend die Hospitalisierung vom 14. August bis 15. September 2000 entgegen der Vorinstanz zu berücksichtigen. Gestützt auf den Bericht ist mit dem erforderlichen Beweismass der Glaubhaftmachung erstellt, dass sich der Gesundheitszustand zwischen dem 18. Mai 1998 und dem 22. August 2000 in einer für die strittigen Ansprüche nach IVG massgeblichen Weise verschlechtert hat, indem die lumbovertebralen Schmerzen weiter chronifizierten. Dabei fällt ins Gewicht, dass die Neuanmeldung (vom 24. August 1999) mehr als 15 Monate nach der rentenablehnenden Verfügung vom 18. Mai 1998 datiert, weshalb an die Glaubhaftmachung nicht allzu hohe Anforderungen zu stellen sind (Urteil S. vom 18. Februar 2003, I 460/01, mit Hinweisen). Weil nach der Aktenlage von einem evolutiven Geschehen auszugehen ist, steht einem Eintreten nicht entgegen, dass bereits anlässlich der neurologisch-neurochirurgischen Untersuchung im Spital Y. vom 19. November 1997 chronifizierte lumbovertebrale Schmerzen diagnostiziert wurden. Als Mitursache für die fortschreitende Chronifizierung der Beschwerden nennen die Spitalärzte im Bericht vom 18. September 2000 nebst dem mehrjährigen Krankheitsverlauf verschiedene Ursachen für welche die Eidgenössische Invalidenversicherung nicht einzustehen hat (Zukunftsängste, drohende finanzielle Notlage etc.; vgl. hiezu: BGE 127 V 294 ff.). Im Rahmen ergänzender Abklärungen und anschliessender Verfügung über die Ansprüche nach IVG wird die Verwaltung diesem Aspekt Rechnung tragen.